orte Nr. 195. Schweizer Literaturzeitschrift: Irgendeine schwere Frucht. Neue ungarische Lyrik

Neue ungarische Lyrik
Hrsg. und übersetzt von Anne-Marie Kenessey.
weitere Übersetzungen von György Buda, Orsolya Kalász & Monika Rinck
Verlag: orte, CH-9103 Schwellbrunnen
ISBN: 978-3-85830-231-1
Bezug: beim Verlag, Preis: 18,00 Euro

 

von Gudrun Brzoska:

Zeitgenössische ungarische Lyrik!

Im deutschsprachigen Raum ist sie wenig bekannt, sind doch eher Prosa-Texte gefragt. Dabei lohnt es, sich diese Lyrik einmal genauer anzuschauen. In Ungarn ist Lyrik immer noch hoch angesiedelt im literarischen Bewusstsein, doch auch hier wird immer häufiger zum Roman gegriffen. Der bekannte ungarische Schriftsteller György Dalos sagte mir einmal in einem Gespräch, ein echter Ungar habe mit 10 Jahren schon mindestens ein Gedicht gemacht. Inzwischen hat sich dieser Brauch wohl auch in Ungarn etwas geändert. Auch hier sind Smartphone, Facebook und Instagram die angesagten Beschäftigungen der jungen Leute. Wenn Gedichte, dann übers Internet. Dieses Genre scheint zur Zeit zu boomen, die Zuhörer sind schnell zu erreichen, können sofort antworten.

Umso verdienstvoller ist es, dass die angesehene Schweizer Literaturzeitschrift „orte“, die sich hauptsächlich mit Lyrik beschäftigt, fast ein ganzes Heft der neuen ungarischen Lyrik gewidmet hat. Gesammelt und zum allergrößten Teil übersetzt von der Schweizerin mit ungarischen Wurzeln, Anne-Marie Kenessey.

Ich möchte hier nicht auf einzelne Gedichte eingehen, wohl aber auf die sehr lesenswerte Einleitung zur ungarischen Literatur, insbesondere zur Lyrik, zu den interessanten Kurzbiografien der Dichterinnen und Dichter und zur Entwicklung der ungarischen Lyrik nach 1989, einem Gespräch der Herausgeberin mit Gábor Schein.

Schon einmal, 1990, gleich nach der Wende, hatte der orte-Verlag ein Ungarn-Heft publiziert, „Ungarische Poeten“. Unter dem Titel: „ Ihr sollt leben, lachen aus vollem Hals…“, versammelte der damalige Herausgeber und Übersetzer András Sándor fast ausschließlich nach dem ersten Weltkrieg geborene und noch lebende Autoren. Hier dürfen, wie im neuen, vorliegenden Heft, alle ungarischen Lyriker zu Wort kommen die zum ehemaligen Mutterland gehören und heute zu den ungarischen Minderheiten in den angrenzenden Ländern gezählt werden. Sándor geht in seinem geschichtlichen Rückblick zurück bis zur Zeit der türkischen Herrschaft in Ungarn, zur Doppelmonarchie, dem Trauma des 1. Weltkrieges mit dem Verlust von Zweidritteln seines Territoriums, zum 2. Weltkrieg und der anschließenden kommunistischen Herrschaft. Heute, das ist 1990, ist Ungarn frei, ohne Demonstration, ohne Revolution, ohne tödliche Zwischenfälle. Alle sind voller Hoffnung und Zuversicht. Von dieser Hoffnung und Zuversicht sei heute nur noch wenig zu spüren, so Kenessey in ihrem Vorwort – und so auch Gábor Schein im Gespräch mit ihr.

Zunächst gibt auch sie dem Leser einen geschichtlich-politischen Überblick über die Zeit vor und nach der Wende in Ungarn. Nach der Wende, dem „Systemwechsel“ vertrauten nicht nur die Ungarn darauf, dass alles besser werden würde. Praktisch über Nacht waren die Roten Sterne in Ungarn verschwunden, wurden freie Wahlen abgehalten, zogen 1991 die sowjetischen Besatzer ab, wurde Ungarn 1999 Mitglied der Nato. Es wurde wieder aufgebaut und renoviert. Doch die „Belohnung“, die Aufnahme in die EU erfolgte zu spät. Schon hatten sich westliche Firmen überall – nicht nur in Ungarn, sondern im gesamten ehemaligen „Ostblock“ – breit gemacht, heimische Firmen vernichtet und viele Menschen in die Arbeitslosigkeit getrieben. Bei der Privatisierung der Wirtschaft kam es „zu einer Korruption ungekannten Ausmaßes, die den Grundstein legte für die Korruption, die die Entwicklung des Landes bis heute hemmt.“ Ungehemmte Kämpfe innerhalb und gegen die Parteien breiteten sich nicht nur im Land aus, sondern entzweiten ganze Familien. Inzwischen haben viele jüngere, gut ausgebildete Menschen das Land verlassen, um sich eine bessere Existenzgrundlage vornehmlich in Österreich, der Schweiz, Deutschland, aber auch Großbritannien zu verschaffen. Die Demokratie wird immer mehr zurück gedrängt, da ein aufgeklärtes Bürgertum fehlt und die Gegensätze zwischen Stadt und Land nach wie vor sehr groß sind.

Hier hinein fällt die immer noch großartige ungarische Literatur: „Die ungarische Gegenwartsliteratur zeichnet sich durch eine Dringlichkeit, Imagination, Bild- und Sprachkraft aus, die ihresgleichen suchen. Die Werke mehrerer ungarischer Prosaschriftsteller genießen große Aufmerksamkeit im deutschsprachigen Raum und zählen zur Weltliteratur.

Die Herausgeberin konfrontiert uns in diesem Heft mit der allerneuesten Lyrik, mit Gedichten, die bis auf eines noch nirgendwo erschienen sind, unter anderen Ottó Tolnai, Krisztina Tóth, István Kemény, Tamás Jónás. Man darf also durchaus neugierig sein. Es sind elf Stimmen aus verschiedenen Generationen, Regionen und Stilrichtungen, Frauen und Männer. Sie alle sind zwischen 1940 und 1989 geboren. Alle hier versammelten Autorinnen und Autoren schreiben auf Ungarisch und wurden ins Deutsche übersetzt. „Ein zweisprachiger Abdruck einiger ausgewählter Texte soll einen lebendigen Eindruck von der ungarischen Sprache vermitteln.“

Auf diese Einleitung folgt eine kurze Charakterisierung der hier versammelten Dichterinnen und Dichter und jeweils eine Kurzbiografie.

Hoch aufschlussreich erweist sich ein Gespräch zwischen Anne-Marie Kenessey und dem Literaturwissenschaftler, Romanautor und Lyriker Gábor Schein über die Stellung der zeitgenössischen Lyrik in Ungarn. Schein gibt Auskunft über die Wurzeln der ungarischen Lyrik, die sich nach wie vor – seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts auf französische, deutsche und englische Einflüsse beruft. Das komme daher, dass viele ungarische Literaten gleichzeitig Übersetzer seien und so einen guten Einblick in die ausländische Literatur hätten.

Seit dem Systemwechsel 1989 sei zwar die politische Wende markant, die Wende in der Lyrik aber nicht klar erkennbar. „Seit 1989 sind viele neue wichtige Lebenswerke entstanden, die Einfluss ausüben.“ Die neue Generation (das sind hauptsächlich die in diesem Heft versammelten) von Literaten hat die ungarische Lyrik wesentlich weiterentwickelt und beeinflusst. Auch die noch Jüngeren konnten sich eine eigene Sprache aneignen, vor allem hat sie einen sehr direkten Kontakt mit ihrem Publikum.

Gábor Schein sieht die politischen und gesellschaftlichen Misserfolge, die auch in der Dichtung benannt werden, darin, dass die Politik sich aus der Gesellschaft zurückgezogen habe. Die Gesellschaft habe Selbstvertrauen und die Fähigkeit zur Solidarität verloren. Das sei ganz offenbar gewesen, als viele Menschen nach der Wende ihre Arbeit verloren hätten und ihnen niemand solidarisch zur Seite gestanden habe. In diesem Zustand sei die Literatur immer weniger wichtig geworden, ganz anders als vor 1989, wo sie versuchte „Art von Wirklichkeit und politischer Freiheit herauszubuchstabieren. Deshalb muss und soll die Literatur, und auch die Lyrik, versuchen, eine ganz andere innere Struktur der Sprache zu gewinnen. Ich denke an eine Sprache, die sich nicht auf dem Feld zu verifizieren versucht, wo auch politische Propaganda und Ideologie ihre Wirkung ausüben, sondern eine Sprache, die eine post-politische, post-ideologische Wirklichkeitswahrnehmung möglich macht.“

Ob die Lyriker dieses Heftes dabei sind, diese Sprache zu finden, das müssen Sie, liebe Leser selbst herausfinden. Ich kann diese Auswahl der zeitgenössischen Lyrik Ungarns nur empfehlen.

Im Heft zu finden ist außerdem eine ganz persönliche Bestenliste von Zsuzsanna Gahse, selbst eine Schweizer Dichterin, Schriftstellerin und Übersetzerin mit ungarischen Wurzeln, deren Werke ich hier schon einige Male vorgestellt habe. Darunter sind Lyrik- und Prosabände. Wer sich die Zeit nimmt, diese zu lesen (manche, wie z. B. Garaczi „Pikasso sieht rot“ nur noch im Antiquariat erhältlich), hat damit eine recht gute Einführung in die ungarische Literatur geworden.

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