Rezension: György Dragomán: Löwenchor

Timea Tankó und Terézia Mora (Puerta del Sol)
Verlag: Suhrkamp Berlin, 2019, 269 Seiten
ISBN: 978-3-518-42851-1
Originaltitel: Oroszlánkórus 2015
Bezug: Preis: Euro 24,00

von Gudrun Brzoska

György Dragomán, geboren im heutigen Rumänien, ist nicht nur in Ungarn ein vielbeachteter junger Autor, dessen Romane in vielen Sprachen übersetzt sind. Zum ersten Mal macht er uns mit einer Reihe von Kurzgeschichten bekannt. Zwei seiner drei Romane, „Der weiße König“ und „Scheiterhaufen“ sind bisher auf Deutsch erschienen. Das Echo war überwältigend. Nun legt er einen Band von Erzählungen vor, die, das habe ich einem Interview entnommen, in dreizehn Jahren entstanden sind. Schade, dass der Verlag die Entstehungsjahre nicht angegeben hat, das wäre interessant gewesen. Die meisten seiner Geschichten sind sehr gelungen und Dank Timea Tankós genialer Übersetzung sind auch die Besonderheiten, die Musikalität und der Rhythmus der ungarischen Sprache im Deutschen gut nachzuempfinden. Mit diesen Erzählungen kam Dragomán mit seiner Übersetzerin in die diesjährige Shortlist zum Preis der Leipziger Buchmesse. Und beide wären durchaus würdig gewesen, diesen auch zu gewinnen.

Wieder dreht sich vieles um die kindliche bzw. jungendliche Sicht von Ereignissen, häufig in Verbindung mit Musik: Musik verbindet und entzweit, sie schlägt Brücken und zeigt Abgründe, sie hilft schwierige Situationen zu überwinden oder fordert diese geradezu heraus. Musik macht glücklich, Musik macht Mut. Und wenn die Musik nicht explizit im Text vorkommt, so ist sie doch durch Sprachklang und Rhythmus und einen ganzen Chor von Erzählstimmen in diesen eingeschrieben. Der Leser liegt sicher nicht falsch mit der Annahme, dass sich eine ganze Reihe der Erzählungen aus den Kindheitserinnerungen des Autors speisen. Es sind Alltagsgeschichten – geschrieben aus der Erfahrung des Erwachsenen, welcher das Mysterium der kindlichen Wahrnehmung durchschaut.

Die 29 Novellen – eher Skizzen oder Filmsequenzen – beziehen sich häufig aufeinander; in noch kürzere Einheiten unterteilt, sind sie doch ein Ganzes. Der Leser sieht den Film vorbeiziehen, das Dahinter muss er selbst komponieren. Das Auslassen von Text macht das Ganze so spannend, z. B. die Mangelwirtschaft in Ceauşescus Diktatur. Der Diktator wird nicht ein einziges Mal mit Namen genannt – und doch ist klar, von wem oder was die Rede ist. Das Kind empfindet einen Mangel nicht so stark, es nimmt ihn hin, solange seine Erwartungen einigermaßen mit den bisherigen Erfahrungen übereinstimmen.

Die Protagonisten werden oft durch Traumata, die nicht immer ausgesprochen, sondern oftmals nur angedeutet werden, in eine Situation gebracht, aus der sie mithilfe von Musik gestärkt hervorgehen. Die Katharsis ist wichtig für Dragomán, wie er in einem anderen Interview hervor hob. Der Leser hat längst verstanden, was das Kind nicht einordnen kann. Es hat aber seine Phantasie mit der es auch das Unvorstellbare in seine Wirklichkeit umwandeln kann, wozu auch übersinnliche Vorstellungen gehören.

In Der eiserne Bogen erzählt ein 13jähriger Junge atemlos und in ständiger Wiederholung „mein Vater sagt…“ von seinen unaufhörlichen Violinübungen. Schon der Rhythmus des Textes lässt das ständige Üben des Kindes nachempfinden. Der Vater hatte es selbst nicht geschafft, ein berühmter Geiger zu werden, nun soll der Sohn seinen Ehrgeiz stillen. Der Vater macht sich uralte Kinderängste, etwas nicht erreichen zu können, zunutze, droht mit dem Teufel in Gestalt des schwarzen Geigers, der ihm mit seinem eisernen Bogen die Finger zerschlagen wird, wenn er ihn nicht besiegt. Eine Figur aus Aberglauben und Albtraum, in dem das Kind selbst zum Schwarzen Geiger wird und damit seine Angst besiegt.

In der Erzählung Cry me a River läuft fast die ganze Lebensgeschichte einer Jazz-Sängerin ab. Mit 14 Jahren singt sie zum ersten Mal das berühmte Liebeslied von Ella Fitzgerald. Das Lied wirkt wie eine Initiation: Bevor das Mädchen zu singen beginnt, ist es noch ein Kind, doch im Laufe ihres Gesangs wird es zur Frau, „mit einer zurückgehaltenen, gespannten Leidenschaft“. Sie singt das Lied, obwohl sie noch nie verliebt war, noch niemanden verlassen hatte, ihr war noch nie das Herz gebrochen worden. Sie singt das alles so, als hätte sie es selbst erlebt, so voll tiefem Schmerz. Dieses Lied wird sie durch ihr ganzes Leben begleiten, alle Situationen ihres Lebens widerspiegeln. Im Laufe ihres Lebens wird sie selbst das alles durchmachen: Liebe, Verrat und Trennung, erneute Liebe und Entsagung, Mutterliebe, immer wieder ihre Karriere und schließlich Krankheit und Ende.

Immer wieder zeigt Dragomán, wie sehr sich der Mensch vom Aberglauben, vom Glauben an Übersinnliches beeinflussen lässt. So ergeht es einem Schlagzeuger in Der Besen: Der Mann hatte etwas mit einer kubanischen Sängerin angefangen und die Affäre seiner Frau reuevoll, aber in allen Einzelheiten geschildert. Sie lässt sich scheiden und wütend sein Schlagzeug von einem Voodoo-Priester verbrennen, sie nimmt seinen Jazzbesen an sich und verflucht ihren Ex-Mann, sein Herz würde stehen bleiben, wenn er ihn je wieder in die Hand nähme. Voll Humor erzählt Dragomán die tragikomische Geschichte vom erneuten Brandopfer, mit dem der Fluch wieder gelöst wird.

Doch nicht nur tatsächliche Musiker oder total durchgeknallte Fans, wie z. B. in Heavy Metal, wo ein Fan in einem atemlosen Monolog erzählt, wie er unbedingt ein Judas-Priest-Konzert in Katowice erleben wollte, koste es, was es wolle, sondern Musik und Rhythmus ist auch in den Kindergeschichten allgegenwärtig, in den bezaubernden und sehr humorvollen Geschichten vom Enkel und seinem Großvater. Der Großvater, der seit einem Sturz vom Pferd gelähmt in seinem Ohrensessel sitzt, unternimmt allerhand abenteuerliche Reisen mit dem Kind, wenn die Großmutter außer Haus ist: Natürlich spielen diese Geschichten noch in der rumänischen Diktatur, denn Rollstühle konnte man dort nicht bekommen. Also wurde der Ohrensessel auf vier Rollschuhen befestigt und Großvater konnte mithilfe seiner Hosenträger und seines Spazierstocks überall hin kommen, wo er hin wollte: Im großen Ohrensessel sitzend, sein Enkelkind als Jockey vor sich auf den Knien, reiten sie in einem wilden Parcours als Erste durchs Ziel (Derby). In der Titelgeschichte (Löwenchor) ist der Enkel total geschockt und frustriert von der Feststellung seiner Musikerzieherin, er sei total unmusikalisch. Wütend schreit er bei Großvater, er hasse Musik, kann gar nicht mehr aufhören, rhythmisch zu skandieren: ich hasse Musik. Da beginnt der Großvater zu lachen, „dass der Ohrensessel erzittert und durchgerüttelt wird, die vier großen Löwenfüße (vom Ohrensessel) klopfen gegen den Boden und das Klopfen überträgt sich auf die Bodenbretter, … erreicht die Mahagonikommode…., auf der Großvaters Pokale stehen und die jetzt aneinander stoßen und klingen, dabei rutschen die Schubladen bis zur Hälfte heraus und wieder zurück, ….  und alle Schubladen klappern, klirren, knistern, knacken anders, es ist wie der knurrende Gesang der großen Löwenköpfe, …(die jetzt)… mit flatternder Mähne knurrend singen, … und ich höre, dass auch Großvater nicht mehr lacht, sondern knurrend und wild singt, denn er ist der Oberlöwe und ich knurre genauso wie er, denn ich bin der beste Freund des Oberlöwen, ….wir singen ein altes, uraltes Lied, …wir sind mutig und groß, und unsere Stimmen sind sehr schön und weithin zu hören, und ich weiß, dass jeder sie hört, jeder im ganzen Block, im ganzen Viertel, in der ganzen Stadt, jeder, sogar die blöde Musikerzieherin.“ – Wohl dem, der solch einen Großvater hat!

Der Mangel und die Beschneidung der Menschenrechte sind es, die im diktatorisch regierten Rumänien immer wieder aufgegriffen werden. Dragomán sagt selbst, dass ihm 15 Jahre seiner Kindheit, d. h. seines Lebens gestohlen worden seien. Sei es, dass der Patenonkel zu einem Weihnachtsfest nicht einreisen darf und daher die traditionellen Pralinen nicht an den Baum gehängt werden können (Weihnachtspralinen). Großeltern und Enkel raffinieren stundenlang während einer ganzen Nacht Zucker aus Zuckerrüben, bis die Großeltern erschöpft einschlafen. Als der Enkel am Morgen erwacht, sieht er eine graue Masse auf dem Topfboden, probiert – es schmeckt süß – und er weiß, sie sind gerettet.

Mangel macht erfinderisch, das haben wir selbst noch feststellen können, was wir in Rumänien – auch noch 10 Jahre nach der Wende – immer wieder staunend feststellen konnten.

In der viel tiefer greifenden Erzählung Puerta del sol unternimmt Ferenczi nach dem Tod seiner Mutter stellvertretend deren Hochzeitsreise nach Madrid, der unerfüllte Traum seiner Eltern. Der Vater hatte damals bei einem Junggesellenabend den Mund zu voll genommen und Irredenta-Lieder gesungen. Folglich wurden ihnen die bereits genehmigten Pässe nach Spanien nicht ausgehändigt. Die Hochzeitsreise machten sie dann ins Gebirge, der Vater stürzte in eine Schlucht und starb. Damals wusste seine Mutter noch nicht, dass sie mit Ferenczi schwanger war. Bis an ihr Lebensende hielt sie der Diktatur den Tod ihres Mannes vor, das Ende ihrer Karriere als Sängerin – statt dessen musste sie putzen gehen, um ihr Kind und sich selbst durchzubringen. Auch dem jungen Mann hängt die Diktatur, das Eingesperrtsein, noch nach: Ständig muss er daran denken, dass sie in seiner Kindheit nicht reisen durften, weil sie keinen Pass bekommen durften: „…er hatte sich Atlanten angesehen wie andere in Märchenbüchern lesen“. Aus einem Impuls heraus kauft er ein Flugticket und geht in das Hotel, welches seine Eltern damals schon gebucht hatten. Vom Zimmer im vierten Stock sieht er auf den weltberühmten Puerta del sol: „Musik und Gesprächsfetzen flossen ineinander, verschmolzen zu einer einzigen brausenden, mal leiser, mal lauter werdenden Melodie. … die Melodie war alles zugleich, Tanzmusik und Trauermusik und Freudenmusik, plötzlich fühlte er sich ganz leicht,  ja, Mutter war hier mit ihm, sah, was er sah, und hörte, was er hörte…“  Er sieht unten auf dem Platz eine alte Frau tanzen, ein alter Mann spielt dazu auf einer Harmonika eine wilde, in alle Richtungen strebende Melodie. Später hört er dumpfes Trommeln. Demonstranten mit Fahnen auf denen Hammer und Sichel zu sehen sind, kommen immer dichter auf den Platz. Verkrampft denkt er an die alten Jubelrufe, die den Diktator, das Vaterland und den Frieden hoch leben ließen, er denkt daran, wie der Sog des Jubels auch ihn ergriff, obwohl er nicht hatte klatschen wollen, so klatschte er damals doch rhythmisch mit. – Die Menge da unten fordert kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung und anderes mehr. Sie haben keine Angst zu fordern und Ferenczi überlegt, wie es sein mag, ohne Angst aufzuwachsen.

Damals, 1987, eröffnete er der Mutter, dass er das Land verlassen, über die grüne Grenze fliehen würde. Die Flucht gelang – und als sie drüben waren und die Sonne gleißend aufging, wussten beide, dass sie für immer etwas verloren und verlassen hatten.

In anderen Erzählungen spürt ein Sohn seinem verstorbenen Vater nach: In Die Lautsprecher hat der Vater viele Jahre seines Lebens damit verbracht, die perfekten Lautsprecherboxen zu bauen. Er wollte eine Schallplatte abspielen, die ihm so kostbar war, dass er sie selbst noch nie gehört hatte: Sie war nie veröffentlicht worden und der Sänger auf mysteriöse Weise verschwunden. Darüber war er gestorben und sein unmusikalischer Sohn soll das Erbe antreten.

In einer anderen berührenden Vater-Sohn-Geschichte lernt der Sohn seinen Vater erst nach dessen Tod richtig kennen: in großen Zeitabständen fällt ihm ein Gegenstand, der dem Vater gehört hatte, in die Hände: Eine Lakritzschnecke führt ihn zu seiner verstaubten Mundharmonika, in einer Mappe findet er viele Kohlezeichnungen, die er noch nie gesehen hatte – Zeichnungen aus Vaters Heimat. Er wusste gar nicht, dass sein Vater zeichnen konnte und schließlich ein Heft, aus dem hervorgeht, dass sein Vater mit 15 Jahren begonnen hatte Russisch zu lernen. Auch das hatte er nicht gewusst.

Es ist sein subtiler, spezieller Klang von Melodie und Rhythmus, durchwebt von Traurigkeit, Mystik und hintergründigem Humor, der uns Leser so gefangen nimmt. Dragomán schildert ganz normale Menschen in ihrem Alltag. Dabei führt eine Situation, ein Erlebnis, dessen Wichtigkeit oder Einzigartigkeit erst viel später aufscheint zum Höhepunkt einer Erzählung.

Ein zehnjähriges Mädchen serviert seinem Vater eine Suppe (Fleischsuppe). Die Mutter hat vor einem Jahr Selbstmord begangen. Seither würdigt der Vater die Nachbarin keines Wortes mehr. Das Kind nimmt die traurige Tatsache hin, bis es während der kunstvoll komponierten Erzählung erfährt, dass die Mutter nicht gestorben, sondern in einer Klinik war, dass die Nachbarin sie immer ermuntert hatte, ihrer Karriere als Sängerin nachzugehen und dass der Arzt im Haus ein Verhältnis mit ihr hatte. Das Mädchen erzählt die Geschichte selbst, durchlebt sie noch einmal und ahnt auf einmal mehr, als die Erwachsenen wahr haben wollen.

Dies sollen nur einige Anregungen sein, diese traurig-fröhlichen, ernsten und komischen Kurzgeschichten selbst zu lesen. Geschichten, die manchmal wie der Beginn eines neuen Romans anmuten, auf den wir uns hoffentlich bald freuen dürfen.



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