Rezension: Török, Imre – Die Königin von Ägypten in Berlin

Verlag Pop, Ludwigsburg 2017
ISBN: 978-3-86356-150-5
Bezug: Buchhandel; Preis: 20,00 Euro

von Gudrun Brzoska

Wie schön doch lesen ist: Eintauchen in andere Leben, Zusammenhänge erahnen, fremde und farbige Welten kennen lernen. Dazu noch ein ganzes Paket Geschichte, welche bis in unsere Gegenwart hineinreicht, dazu tiefgründige Lebensweisheit und Philosophie. Das erwartet uns Leser– wie so häufig bei Imre Török – auch in seinem neuesten Roman. Er soll mit dem ersten seiner Heimatbücher[1] eine Trilogie ergeben

Während er in seinem Roman Insel der Elefanten die Persönlichkeit seines Vaters zu ergründen sucht, ist es hier seine Großtante May Török von Szendrő, der er ein lebendiges Denkmal setzt. Vorausgenommen werden historische Daten und Erlebnisse schon in Insel der Elefanten, ebenso in der Autobiografie seiner Mutter, Gerti Michaelis Rahr Der Vorhang fiel[2]. In seinem neuen Roman streift er die Bekanntschaft seiner Eltern, András Török von Szendrő und seiner Mutter, im Roman die gefeierte junge Ballerina, Sophie La Bendola.Realität und Fiktion, Traum und Wirklichkeit scheinen in vielen Facetten auf, wobei sich Török eng an die historischen Gegebenheiten hält. Es ist ein Roman der starken Frauen: Großtante May Török von Szendrő, die Geliebte Marie – und die junge Ballerina, die, so jung sie ist, sich als stark und unbestechlich erweist.

Kurz vor Weihnachten 1942 hatte der ungarische Diplomat Andreas Török versucht, einen ungarischen „Gastarbeiter“ aus Buchenwald zu retten. Vorerst ohne Erfolg. Er scheiterte am berüchtigten Lagerarzt Dr. Hoven. In Weimar sah er eher zufällig eine Theateraufführung mit der jungen Primaballerina Sophie La Bendola, die großen Eindruck auf ihn machte. Einen Seidenfaden aus ihrem Schal hatte er um den Lauf seiner Pistole gewickelt. Und buchstäblich an diesem seidenen Faden; hing sein Leben, denn er war so niedergedrückt über das Terrorregime der Nazis, über das Grauen des Krieges – in Stalingrad waren über 300.000 Soldaten gefallen – über den Tod seiner Geliebten Marie in Ungarn. Seine Frau, mit der er eine Vernunftehe eingegangen war, folgte längst eigenen Wegen Das Leben schien für ihn keinen Sinn mehr zu haben, alles um ihn her ging zu Bruch: „Schneeverweht die Wege, in erfrorener Einsamkeit, die Welt genannt wird.“.

Da taucht May Török plötzlich bei ihm auf. Seit seiner Kindheit hatte er sie nicht mehr gesehen – und man munkelte in der Familie allerlei über sie: Dass sie mit dem Khediven Abbas Hilmi II., dem Vizekönig in Ägypten verheiratet gewesen sei, dass sie in seinem Harem gelebt, den muslimischen Glauben angenommen, sich jetzt Djavidan Hanum nenne, inzwischen geschieden und aus dem Harem geflohen sei. Später wird Walter Grond eine Novelle[3] über die, bei ihren Zeitgenossen so schillernde Persönlichkeit der May Török schreiben. Die Frau setzt Andreas in Erstaunen und schlägt auch ihn bald in ihren Bann: „Da ist jemand in meiner Nähe, dachte er manchmal, die eine Energie ausstrahlt, mich verzaubert, so dass meine Sinne zwischen Traumwelt und Wirklichkeit nicht mehr recht unterscheiden können.“ Für sie gibt es kein Aufgeben, kein Zurück. Unbeirrt geht sie die Umsetzung ihrer Ziele an: Den Elefanten Siam aus dem Berliner Zoo in Sicherheit zu bringen, die Büste der Nofretete wieder in ihre Heimat zu transportieren und auch, ihrem Großneffen Andreas bei der Befreiung des ungarischen Häftlings zu helfen: „Wenn jeder Mensch auf unserem Planeten tatsächlich eine einzige andere Seele vor der irdischen Hölle bewahren würde – die Rechnung müsste aufgehen.“

Immer wieder verweist Djavidan auf ihren Bericht, den sie nach ihrer Flucht 1930 in Berlin publiziert hatte, auf das Buch Harem[4]. Der Autor lässt sie wörtlich zitieren, fühlt eine große Seelenverwandtschaft zu ihr, wie er in einem Interview sagt. Stellvertretend für ihn ist es sein Vater, den sie in ihre Philosophie und Lebensgeschichte mitnimmt.

Sie spricht mit ihm über die Machtergreifung der Nazis. Danach habe sie es in Berlin kaum noch aushalten können: „Deren Frauenbild allein! Die Hitlerianer sind nicht nur Rassenhasser. Sind auch Frauenhasser. Eine Frau im Orient ist oft besser gestellt als hier im Reich der zum Jubeln verdammten Soldatengebärmütter.“ Sie erzählt ihm von Echnaton und Nofretete, aufgeklärten Herrschern, welche die Schönheit liebten, aber von der herrschenden Priesterschar deswegen gehasst wurden. „Modrige Grottenmolche“ nennt sie diese und fährt fort, dass sie Nofretete retten will. Nofretete, die in Berlin weilt, unter modernen Grottenmolchen, Totenkopfpriestern im okkultistischen Vernichtungswahn.

Während Djavidan ihm klar macht, dass „in der Seele immer Jetzt“ sei, laufen Krieg und Vernichtungswahn auf Hochtouren: „Die Nachrichten von der Ostfront kamen aus der Eiseskälte des Grauens. Die Propagandamaschinerie des Dritten Reiches lief auf Hochtouren. Der Volksempfänger brüllte Durchhalteparolen. Markante Stimmen verkündeten den Siegeswillen des deutschen Volkes im heroischen Kampf gegen den verjudeten Bolschewismus.“ …

Ein weiteres Buch hat die Großtante herausgegeben, aus dem sie ebenfalls rezensiert, aus ihrem Rosengarten[5], orientalischen Märchen: Prophetisch lässt Imre Török Djavidan sagen, dass ein weiteres Werk erscheinen würde, von ihrem Geist. Sie würde daran mitgeschrieben haben: „Heb unsere Worte auf, Andreas, und streu sie weiter. Jemand wird in Zukunft das Gestreute aufsammeln und es erneut säen. Seit Jahrhunderten wächst Knospe um Knospe, dringt Nektarsüße in unsere Sinne“….Es ist nun ihr Neffe, der die Gedanken seiner Großtante in die Welt bringt, Knospe um Knospe…

Der Leser ist sich ständig, trotz wunderbar lyrischer Passagen, bewusst, dass Krieg, Hass und Massenwahn toben – ein wahnwitziger Hass, der uns auch heute erreicht: Angefangen vom Hassprediger Goebbels bis zu den heutigen Hasspredigern. Djavidan ist ganz kompromisslos: niemand kann sich reinigen, um dann Verbrechen zu predigen oder zu begehen. Nicht auf Erden, nicht in Hölle oder Himmel. Es gibt im wahren Glauben, auch im wahrhaftigen Islam, keine Reinigung für Terroristen, auch nicht für so genannte heilige Krieger, für diese vermeintlichen Märtyrer. Es kann unmöglich heilig und Heil bringend sein, was unschuldiges Leben vernichtet. Keine Religion und keine Ideologie kann Massenmördern Absolution erteilen, weder im Voraus noch im Nachhinein.“

Traumhaft wird Andreas Zeuge eines Seelengesprächs mit Djavidans „Schwester“ Nofretete. Schon vorher hat sie ihm die Seele geöffnet für diese Art von Kommunikation, als sie in einem ihrer vielen Briefe zu ihrer Biografie an Andreas schreibt: „ Zeittelefone benötigen wir. Welche Art von Wählscheibe wird man dafür benutzen? Es wird eine Wählscheibe des Herzens, eine mystische Wählscheibe der Phantasie werden, Andreas.  Ich habe Dir gesagt, es sei in der Seele immer Jetzt. Jedoch habe ich auch „immer“ gesagt. Von daher kann ich auch formulieren: In der Seele ist es jetzt Immer. Ist jetzt bereits immer.  Wir sind für das Immer taub und blind.“ Und sie fügt einen Ausspruch Nietzsches hinzu, dass sich auch der Befreite des Geistes noch reinigen müsse. Immer wieder weist sie auf die Schönheit des Gewissens hin, eine Schönheit, die Nofretete eigen gewesen sei – und nach der man streben müsse. Während Andreas den Gesprächen der Seelenschwestern lauscht, sieht er gleichzeitig die zehn Plagen Ägyptens an sich vorüberziehen, Katastrophen, die den Ägyptern ihre Lebensgrundlagen entzogen. Ägypten hat sie überstanden – und vielleicht werden auch die katastrophengeplagten Menschen die Zeit des Terrors überstehen, der ihnen die Lebensgrundlagen entzieht.

In die Mitte seines Romans stellt Imre Török Wirken und Ermordung der Widerstandskämpfer der Weißen Rose, Sophie und Hans Scholl mit ihren Freunden.

Für den oscarnomminierten Film Sophie Scholl – Die letzten Tage hatte der Autor bereits Jahre zuvor gründlich recherchiert. Mitten im aufheulenden Massenwahn, während Goebbels mit überschlagender Stimme  im Münchner Sportpalast seine Hetzrede brüllt und die Masse auf die glaubensbekenntnisähnlichen Fragen mit einem „Ja, wir wollen…“ skandiert, treten diese mutigen Widerstandskämpfer mit ihrer Flugblatt-Aktion auf, machen kritisch und unzweideutig klar, was das Hitlerregime anrichtet und dass die studierende Jugend sich das nicht länger gefallen lässt.

Die Duplizität der Ereignisse will es, dass Tage später, als Andreas und Djavidan, die noch nichts von der Ermordung wissen, sich mit Hans Scholl in Berlin treffen wollen. Andreas wird Zeuge, wie bei einem Unfall ein Frauenkopf – wie von einem Fallbeil getroffen – abgetrennt wird.

Auf der einen Seite schildert Török das Grauen des Terrors und der Einschüchterung in den Porträts der „Hexe von Buchenwald“ Ilse Koch, des Lagerarztes Dr. Hoven und Goebbels. Auf der anderen Seite macht er uns bekannt mit ungarischen Bräuchen und wunderschönen Zigeunermärchen.

Zurück in Weimar, geschieht Dramatisches, mit Andreas – was fast einem Thriller ähnelt – bis er sich mit der verlegten Ungarischen Botschaft in Guben wiederfindet. Dort eröffnet sich ihm die Aussicht auf Theatervorführungen mit Sophie La Bendola, die es, genauso wie weitere Schauspieler, vorgezogen hat, Weimar zu verlassen und nach Guben zu wechseln.

Der melancholische Diplomat konnte, weil er Vertrauen hatte, gerade noch rechtzeitig „aus dem Verkehr gezogen“ werden. Sein Fahrer Josef dagegen, der seinem Herrn so ergeben war, aber nur seinen Augen traute und Djavidan nicht vertrauen konnte, bezahlte dieses Misstrauen mit seinem Leben.

Wie der ungarische „Gastarbeiter“ durch List gerettet werden konnte, und was sonst geschah, soll hier nicht weiter verraten werden.

Die Schlacht gegen den Terror ist noch nicht geschlagen, doch Djavidans Gedanken, die sie weiter an Andreas schreibt, sollten uns auch heute Ziel und Mahnung zugleich sein:  es gärt in Teilen des deutschen Volkes. Es werden Friedenspläne geschmiedet für ein neues geistiges Europa. Ja, die mutigen jungen Deutschen fordern tatsächlich einen geistig erneuerten Kontinent, also nicht einen Nationalstaat, sondern Europa!“

© Gudrun Brzoska

[1] Török, Insel der Elefanten. Roman. Ludwigsburg 2010

[2] Michaelis Rahr, Gerti, Der Vorhang fiel. Lebenswege einer Künstlerin durch drei Diktaturen. Waldburg 2004

[3] Grond, Drei Männer. Novelle. Innsbruck-Wein 2004.

[4] Harem. Erinnerungen der Prinzessin Djavidan Hanum, frühere Gemahlin des Khediven von Ägypten. Neuauflage München 1991

[5] Gülzar. Der Rosengarten. Erzählungen aus dem Orient. München 1942

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