Rezension: Birnbaum, Marianna D.; Esterházy, Péter – Die Flucht der Jahre – Ein Gespräch mit Péter Esterházy

Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer
Verlag: Hanser Berlin, 2017
ISBN: 978-3-446-25545-6
Originaltitel: Az évek iszkolása, Budapest 2015
Bezug: Buchhandel; Preis: 20 Euro

von Gudrun Brzoska

Wir Leser wissen ja bereits um den tödlichen Ausgang von Péter Esterházys Krebserkrankung. Als aber die Literaturwissenschaftlerin Marianna Birnbaum ihn schriftlich über seine Biografie, nämlich über seine Familie, sein Verhältnis zu Gott, seine Vorlieben und Vorbilder und über sein Schreiben befragte, hatte er noch keine Ahnung davon.

Lebensbejahend, philosophisch und auch verspielt, kunstvoll sprudelnd oder direkte Antworten manchmal reizvoll umgehend, antwortet Esterházy auf jede noch so – manchmal – banal – wirkende Frage. Birnbaum möchte aber auch wirklich a l l e s wissen!  Erleichtert wird dem Leser die Lektüre durch die am Rand markierten Jahreszahlen, den gefragten Lebensabschnitt oder Zitate aus seinen eigenen Büchern betreffend.

Witzig ist seine Selbstparodie, während er die Fragen beantwortet, z.B.: „Geht, sieht nach. Währenddessen macht er einen Schlenker zur Küche, bricht ein kleines Stück Brot ab, tunkt es in den erstarrten Saft von kaltem Fleisch. …“

Für diejenigen, die ein bisschen weiter in Esterházys Leben hineinschauen möchten, ist das eine lustvolle Lektüre. Fast jede Antwort nutzt er zu einem kleinen Schnörkel, zu einer politischen Anspielung, einer Geschichte, einem Nebenschauplatz, was noch weiter ins Abseits zu führen scheint. Aber er wäre nicht Esterházy, wenn er nicht elegant und charmant wieder den Bogen zurück schlagen würde. Lacy Kornitzer hat dieses Großinterview – wie gewohnt – hervorragend und einfühlsam übersetzt.

Die ersten Fragen gelten seinen Eltern, seiner Familie, seinen Vorfahren, seinem aristokratischen Hintergrund, seiner Liebe und seinem Heimatgefühl zu Ungarn. Selbstironisch geht er auf die Fragen um sein Œuvre ein – und breitet es mitsamt seinen von ihm selbst angesprochenen Fehlern und Schwächen vor uns aus. Für ihn selbst irgendwie überraschend: Er ist gern Ungar, vor allem der Sprache wegen. Seine Schriftstellerei könne er sich in einer anderen Sprache gar nicht vorstellen.

Esterházy ist sich seiner Herkunft bewusst, was ihm Sicherheit, Souveränität und kritische Selbsteinschätzung bietet. Das „Graf-sein“ war ihm schon immer lästig. Darum hat er weder als Kind noch später etwas vermisst. Ganz im Gegenteil: Seine Kindheit spielte sich im geborgenen Familienkreis ab, die Eltern ließen ihren Kindern die nötige Freiheit. Dieses Elternhaus hat ihm ermöglicht, Zeit seines Lebens ein glücklicher Mensch, ein in sich ruhender Mensch zu sein und zu bleiben, wie wir es später auch in seinem „Bauchspeicheldrüsentagebuch“ lesen können. „Der Name verpflichtet – so etwas gab’s nicht.  Es war eher Selbstkenntnis, dadurch Selbstsicherheit, kein Hochmut. Ich habe nie daran gedacht, allerdings wusste ich auch immer, was mein Name bedeutet.  Wir waren frei, scheint mir“.

Die Diktatur hat ihn nicht gehindert. Trotzdem, das wirklich Schlimme war damals die Angst, die Unberechenbarkeit, wann die Obrigkeit wieder zuschlagen könnte. Das Schlechte hat er irgendwie von sich „heruntergefegt“.

Es geht also zunächst um seine Familie, die 1951 aus Budapest ausgesiedelt wurde. Natürlich kann er sich nur aus Erzählungen daran „erinnern“. Das Leben seines Vaters wurde damals „zerlegt“, dadurch auch das seiner Mutter.

Der Sohn Péter tritt uns ebenso als liebevoller Vater, als auch als liebender Sohn entgegen und lässt immer wieder spüren, wie wichtig ihm Familie ist – und wie wohl und geborgen er sich darin fühlt – auch wenn Unvorhergesehenes passiert. Auf die Frage nach seinem Vater antwortet er: „Eine Geschichte Osteuropas ist die Geschichte gebrochener Männer“. Und: „Einer meiner liebsten Verwandten, sosehr ich es auch drehe und wende, war mein Vater.“

Über seine Mutter sagt er: „Sie hat ihr Glück ausgelagert, in uns gepflanzt. Wenn uns etwas Gutes widerfuhr, machte sie das, wie man zu sagen pflegt, glücklich.“

Eine der nächsten Fragen geht nach seinen Kindheitshelden. Auffällig ist – und Esterházy bestätigt das auch – dass fast alle seine Helden und Vorbilder durch die Literatur geprägt sind. Schon als Kind war er ein begeisterter Leser.  Sein Leben als Autor  speist sich aus diesen Leseerlebnissen, deren Aufzählung er abbrechen muss, weil es so viele sind.

Und natürlich kommt die Faszination Fußball zur Sprache; nicht als Fan, äußert er sich, sondern als Kenner, der den Mannschaftssport liebt und als solchen fachmännisch beurteilen kann.

Ausgespart bleibt auch nicht die unaufschiebbare Frage nach seinem Glauben – und wann er zum ersten Mal von Gott gehört habe: Gott war in seiner Kindheit der Ausdruck von Ordnung und System, etwas, dem man vertrauen konnte, und weil Gott eine Vorstellung von allem haben musste. Sein Katholizismus bedeutet ihm „Bildung, Kultur, Europa (oder die Welt)“. Und: „Das Gefühl, Christ zu sein, ist das Gefühl, Europäer zu sein, einer, für den es keine Wahl gibt.“

Dabei kommt auch zur Sprache, dass er noch nicht an seinen Tod denkt! Vielleicht in einigen Jahren einmal würde er über Glauben und Jenseits anders denken.

Und wie bald ist das gekommen!

Zu sich selbst als Autor entsinnt er sich, dass er von Anfang an habe Literatur und Pädagogik studieren wollen, wobei ihm klar war, dass er zu diesem Studium nicht zugelassen würde. In der Schule war er ganz gut in Mathematik – und so belegte er diesen Studiengang. Aber beschlossen, dass er Mathematiker werden wolle, das habe er nicht. Genauso wenig, wie er beschlossen habe, Schriftsteller zu werden: „Im Allgemeinen beschließe ich nicht. Ich gucke, was los ist.  Mit leichter Übertreibung würde ich sagen: Plötzlich, hipp und hopp, merkte ich, dass ich es war…“.  Ich habe mich nie danach gesehnt, jemand anderes zu sein…. Wie ich schon sagte, sehnte ich mich zwar nicht danach, Schriftsteller zu werden, doch bevor ich meine Sehnsüchte hätte formulieren können, war ich es bereits…“

Dem Leser seiner Werke wünscht er sich, nach Márais Ausspruch, dass der mit aller Kraft lese, unerbittlich und leidenschaftlich. Lesen, als sei es das letzte Buch, so wie er selbst liest. „Bedenke, nur der Mensch liest.“ sagte Márai. Und Esterházy dazu: „Ich lese, wie ich esse und trinke – kulinarisch. Weil es gut ist, wegen des Genusses, keinerlei gesundes Essen; obschon es Hunger gibt und auch Leidenschaft….“

Der Ruhm aufgrund seiner Literatur war und ist ihm nicht so wichtig: Seine ganze Aufmerksamkeit gilt der Arbeit, gilt dem Schreiben. Ist ein Werk abgeschlossen, steht er ihm eher distanziert gegenüber – und stürzt sich in das nächste. Das kommt in seinem (späteren) Tagebuch auch immer wieder zum Ausdruck: „Von Worten fallen mir Worte ein, und umgekehrt.  Schreiben ist nicht Erinnerung an die Welt, sondern selbst die Welt…“ Dabei geht es kaum um Autobiografisches, denn: „Einen Autor hinter einer dem Autor ähnlichen Figur zu verbergen, das schafft Distanz und Ironie – auf selbstironische Art“. Sein Leben ist ihm der Stoff zu seinen Romanen: „Ich schreibe, was nicht ist, und dann ist es“.

Sehr persönliche Fragen stellt Birnbaum über das erste Treffen mit Gitta, seiner späteren Frau. Wie wäre sein Leben verlaufen, ohne sie: „Also diese Frage führt nirgendwohin. Mein Leben wäre anders, ich wäre anders, mein Füller, meine Hand würde sich anders bewegen. Auch meine Füße. Und natürlich die Bauchspeicheldrüse“. Da haben wir sie, die erste Erwähnung der Bauchspeicheldrüse – noch ganz arglos, wahrscheinlich weil ihm das Wort so gut gefällt:  „hasnyálmirigy“.

Über das Älterwerden meint er, dass sein Leben, so wie es bisher verlaufen war, in Ordnung sei, ja, er würde sein Leben auch noch einmal leben und akzeptiert es so, wie es ist. Dabei fühlt sich Esterházy auch für die Ereignisse seines Lebens verantwortlich.

In diesem Zusammenhang denkt er darüber nach, dass im Kreis seiner Bekannten und Verwandten die Krankheit Krebs um sich schlägt – er das aber nicht auf sich beziehen kann. „Warum glaubt man trotzdem, dass es nur für andere gilt?“

Und zur letzten Frage, ob man wenigstens ein Geheimnis haben solle:

„Ein Geheimnis soll sein, 1 bis 1,2 pro Kopf. Ich bin, liebe Frau Fragekommissarin, ein offenes Buch. Nur dass das Buch in irgendeiner fremden Sprache geschrieben ist. Das einzige Wort, das man auf Anhieb lesen kann, ist: Cary Grant.“ Eine Anspielung darauf, dass viele Menschen gern Cary Grant wären.)

© Gudrun Brzoska

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