Rezension: Bán, Zsófia – „Als nur die Tiere lebten“

Erzählungen
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora
Verlag Suhrkamp, 2014
ISBN: 978-3-518-42424-7
Originaltitel: Amikor még csak az állatok éltek, 2012
Bezug: Buchhandel, Preis: 22,95 Euro

Auch der zweite Erzählband – dem hoffentlich noch eine ganze Reihe folgen werden – der in Brasilien und Ungarn aufgewachsenen Autorin verzaubert durch seine lebendige, funkelnde Sprache, die rasch und aufschäumend ihren Weg nimmt über Stock und Stein, kongenial übersetzt von Terézia Mora. Erst vor zwei Jahren debütierte die Autorin in Deutschland mit „Abendschule. Eine Fibel für Erwachsene“.
Zsófia Bán kennt das Leben und bewegt sich scheinbar mühelos zwischen den Kontinenten und den verschiedenen Kulturen. Vor allem lotet sie das Leben der Exilanten aus, die hier in diesem Erzählband alle an einem Punkt angekommen sind, wo sie Rückschau halten, auf ein anscheinend abgelegtes Leben, welches aber doch ständig unterschwellig präsent ist. Bán komponiert diese Geschichten in zum Teil bekannte Bilder und Fotos. Als Überschrift über diese Erzählungen könnte man auch schreiben: „Unkonventionelle Gedanken beim Betrachten eines alten Bildes oder Fotos“. Z.B. „Frau Röntgens Hand“ oder „Las Meninas“. Sie begnügt sich mit Andeutungen, absolut knapp und minimalistisch vom Leben im Exil, von Flucht und Neuanfang und von der Vergangenheit, welche die Protagonisten wieder einholt. Es sind hintergründige Geschichten, die uns Bán da erzählt, aber die Hintergründe müssen wir schon selbst zusammenfügen. Wir kennen ja die Literatur, wissen Bescheid über die Geschichte, die Kriege, die Judenverfolgung, über Ausschwitz, die Geschichte von Überlebenden, vom Neuanfang im Exil, wir kennen ja die Geschichte der gescheiterten ungarischen Revolution, auch da Flucht und Neuanfang, Rückkehr in die alte Heimat ohne wieder heimisch werden zu können – oder das Leben sowohl im Ausland wie in der Heimat. Es sind keine autobiografischen Erzählungen, wiewohl die eigene Erfahrung sicher auch mitspielt. Sie selbst hat ja auch zwei Heimaten. Bán fügt ihre Erzählungen zusammen, von mehreren Eckpunkten ausgehend, bis sie sich im Kern treffen. Geschichten aus verschiedenen Blickwinkeln, mal von der Erzählerin aus gesehen, mal vom einen oder anderen Protagonisten. Alte Filme kann man sich so vorstellen. Einmal wird ein solcher Film als Sequenz auch ganz genau beschrieben – oder bewegte Fotos die man in rascher Folge so blättert, wie Zeichnungen im „Daumenkino“. Beim zweiten Lesen kommt mir der Gedanke, dass in den meisten Geschichten nicht nur von den gleichen Personen die Rede ist, sondern dass sie oft von der Mutter handeln, um deren Abwesenheit und Verlust. Doch man kann diese Erzählungen auch einzeln, in sich abgeschlossen, mit Genuss lesen. Sie haben fast immer eine tragikomische Seite – zum Lachen und Heulen; ironisch und humorvoll, aber mit Anteilnahme, nähert sich die Autorin ihren meist weiblichen Helden. So ist das Leben eben, selbst in den traurigsten Momenten hat es auch seine komischen Seiten. Als Leser sollte man nicht alles für bare Münze nehmen – dafür bewegt sich Bán zu hurtig und übermütig durch den Kulturenmix.
Viel ist, wie gesagt, von Fotos und Bildern die Rede. Das Foto, die Momentaufnahme eines Lebensabschnitts. Vorher und hinterher kann alles ganz anders aussehen. Und dieses Vorher versieht die Autorin mit Leben und Geschichte.
In „Frau Röntgens Hand“ erzählt sie von Wilhelm Röntgen, der jahrelang nach der geheimnisvollen Strahlung forschte und sich deshalb 15 Jahre lang von seiner attraktiven Frau fernhielt. Die Gesetze der Physik – das ist er selbst – sie aber, Anna Bertha gehorcht diesen Gesetzen nicht, hat ein Eigenleben. Dabei weiß er selbst, wie gut Anna Bertha ihm täte. Doch: „Du hast dich der Wissenschaft verschrieben, und das Versprechen, das du einer Frau gegeben hast, kann dieses Versprechen nicht auslöschen.“ „X“ ist das Geheimnis, die Quelle des Strahlens. Hat sich dieses geheimnisvolle Strahlen Anna Berthas etwa durch die ganze Wohnung gearbeitet im Laufe der Jahre? An ihr will er ausprobieren, was es damit auf sich hat, am 22. Dezember 1895. An diesem Tag lässt auch Anna Bertha ihr Leben Revue passieren, die Vernachlässigung durch ihren Mann, auf die sie sich keinen Reim machen kann. An diesem 22. jedoch legt er ihre Hand auf eine Platte, fummelt an Geräten und sagt, das Bild sei fertig: Es zeigt ihre Hand, d.h., das Skelett ihrer Hand, mit ihrem Ehering am Finger. Nüchtern schreibt er unter das Bild: „Hand mit Ringen, 1895“. Der Rest – Geheimnis.
In einer anderen Erzählung geht es um Margó, eine 78jährige Frau, die viel mitgemacht hat (was auch in weiteren Geschichten aufgegriffen wird). Nach dem Tod ihres zweiten Mannes wohnt sie mit ihrem Hund in einem Altenheim. Ihr Sohn lebt nur noch in ihrer Erinnerung, ihre Tochter hat wenig Zeit. Nun möchte sie ihre Organe spenden, um ihre zu karge Rente damit aufzubessern. Empört macht sie sich Luft darüber, dass sie überall abgewiesen wurde. (Köstlich, wie Mora die ganze Litanei der reichhaltigen ungarischen Flüche und Verwünschungen hier gekonnt übersetzt!) Jetzt sitzt sie im Park und wird von einer tätowierten, verwahrlosten jungen Frau angesprochen. Erfreut, dass sie sich endlich einmal mit einem jungen Menschen unterhalten kann, zeigt sie auch ihre eigene Tätowierung, die auf eine ganz andere Geschichte hinweist. Die junge Frau aber hat keine Ahnung davon. Margó nimmt das Mädchen mit in ihr Zimmer, um ihr einen Tee zu machen und sie weiter ins Gespräch zu ziehen. Ihr Vertrauen wird allerdings missbraucht. Das ist so eine Geschichte, zum Lachen und zum Heulen!
In „Kurze Geschichte der Fotografie“ fragt die Autorin: „Was ist ein Bild“: Und gebetsmühlenartig beginnt jeder folgende Abschnitt: „Ein Bild ist…“ z.B.: Ein Bild ist die Erfüllung, der Schnappschuss, auf den man sein Leben lang gewartet hatte. – Ein Bild ist auch, dass einer z.B. ein ganzes Buch über Bilder schreibt, in Wirklichkeit aber nur von seiner Mutter spricht, von der er ein kleines Bild hat – das Bild, das er sich von ihr macht: „Das Bild ist der Kaiser des Lebens. Es hat Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, eine Geschichte und ein Gedächtnis, mit einem Wort, es hat alles. – Nur das Bild weiß alles.“
Es gibt Erzählungen von unglücklich liebenden Frauen, vor allem, wenn es ums eigene Geschlecht geht – und immer wieder wird erzählt von der schönen, wieder nach Ungarn zurückgekehrten Mutter, die damals als Jüdin gerade mit dem Leben davon gekommen, im Exil mit dem Überleben beschäftigt war und sich nicht der kleinen Tochter hatte zuwenden können. In diesen Erzählungen wird auch die Geschichte Ungarns gestreift, nicht nur Krieg und Judenverfolgung, sondern auch die Revolution oder in „Ein Abend ohne Erika“, die Niederschlagung des Prager Frühlings. Das Schlüsselloch zum Westen war u.a. die Musik der Rolling Stones. Die ganze Nation…“Träumt zum Beispiel davon, dass es einmal, in einer anderen Welt, auf einem anderen Planeten, einem anderen Sonnsystem ein Stones-Konzert geben wird, das sie besuchen können, und dann werden sie gerettet sein, dann werden sie davongekommen sein.“ Jetzt, nach der Wende – könnte man sie endlich live miterleben – doch es ist zu spät.
Auch das Leben im fremden Land mit fremder Sprache beleuchtet Bán in den Rückblicken der „Heimkehrer“: Eine talentierte Pianistin kehrt nach 40 Jahren zurück. Seit dem letzten gemeinsamen Auftritt mit ihrem Geliebten, einem berühmten Dirigenten, der danach mit seiner Ehefrau das Land verließ, hat sie nicht mehr gespielt. Noch immer wollte sie sich wegen dieses Mannes nicht erinnern „Wegen dem sie die Jahrzehnte unter den fremden Sternbildern der südlichen Hemisphäre gelebt hatte. Wegen dem die Zeit ihr Gesicht in eine viereckige Form gegossen hatte. Wegen dem sie sich nicht erinnern konnte, nicht erinnern wollte.“ Sie ging zurück, wollte nur sehen, ob heute noch alles so war in Budapest, wie damals, als sie ging. Nun sitzt sie – gegen ihren Willen, von ihrer Schwester genötigt – in einem privaten Wohnraum mit vielen anderen und wartet auf einen Pianisten. Und da kommen die unterdrückten Erinnerungen auf sie eingestürmt; denn dieser Mann soll ausgerechnet das Stück spielen, welches damals ihr letztes gemeinsames Konzert gewesen ist. Ihre negative Energie dagegen bewirkt, dass der Spieler seinen Vortrag abrupt abbrechen muss.
Die Mitte der Erzählungen nimmt „Las Meninas“ ein, das berühmte Gemälde von Velasquez, neu erzählt von der Autorin, die ein Leben hinein komponiert, das bis in die tragische Gegenwart der Protagonistin reicht.
„Matrix“, eine weitere Geschichte: Eine Geburt wird erzählt – parallel dazu die Reflexionen des Ehemanns, eines begeisterten Unterwasserfotografen, über die wichtigsten Merksätze beim Tauchen. Er selbst war zu schnell aufgetaucht und leidet jetzt an „Decompression sickness“, an den Folgen des zu schnellen Aufsteigens. Das ist sehr gekonnt gemacht, das Hin- und Herspringen zwischen dem Fortgang der Geburt, den Gedanken der Freundin, welche der Gebärenden beisteht – und den Lehrsätzen zum Tauchen. Und wieder ist dies eine Geschichte von Exil und Rückkehr, in der wir ein wenig mehr von den bereits bekannten Figuren erfahren.
In der Erzählung „Keep in touch“, welches graphisch wie ein Gedicht dargestellt ist, gelingt es Zsófia Bán, nicht nur anhand von alten Filmen das Leben von Annas Mutter im neuen Land zu erzählen; mit dieser Videoaufnahme erklärt sich ihr etwas, wozu Hunderte von Fotos nicht gereicht haben: Die selbstbewusste, hoffnungsfrohe, junge Mutter im fremden Land. „Die Bewegungsreihe hingegen ist gesättigtes, rundes Wissen; es hat Anfang, Mitte, Ende, es gibt eine Einführung und eine Entfaltung, es gibt eine Truppenparade und eine Peripetie, es gibt Schicksal und die Unerkennbarkeit desselben, und das schwere Erkennen dieser Tatsache, es gibt alles darin, wie im Leben, es gibt sogar Töne und Gerüche…“ Auch ihre eigene Kindheit und ihr Verhältnis zur Mutter ist ein wichtiger Bestandteil des Filmes und damit Annas Erinnerung: Sieben Sprachen konnte die Mutter, aber mit ihrer Tochter, die zwei Muttersprachen hat, in keiner einzigen reden. Sie tauschten zwar Worte aus, redeten aber niemals über das Wesentliche: Darüber, dass man sie weggebracht und was sie durchgemacht hatte.
Inhaltlich an diese Erzählung schließt sich die letzte, die titelgebende Geschichte an: „Als nur die Tiere lebten“, also vor ganz langer Zeit, wie die kleine Anna es einmal formuliert hatte: Annas Mutter ist vor einem guten Jahr gestorben. Damals hatte sie kein letztes Foto von ihr machen wollen – so hatte sie sie nicht in Erinnerung behalten wollen, ihre einstmals schöne Mutter – an Schläuchen. Das kann sich Anna inzwischen nicht verzeihen. Jetzt ist sie bei einem Antarktisforscherteam als Fotografien dabei und nicht recht bei der Sache. Seit Tagen hat sie keine Aufnahmen gemacht, stattdessen kehren ihre Gedanken zur Mutter und deren Leben zurück, zu den letzten Tagen im Krankenhaus, zum Moment als sie starb. Immer hatte die Mutter ein heiles, geglücktes Leben dokumentieren wollen und dafür viele Fotos säuberlich geordnet in Alben geklebt. Das Hässliche, Problematische wurde ausgelassen. Das Leben der Mutter kennt Anna nur von Fotos – und Bán gelingt es, allein mit der Beschreibung der Kopfbedeckungen, mit denen die Mutter fotografiert worden war, deren ganzes Leben vorüberrollen zu lassen. Das, was nicht gezeigt wird, ergänzt die Tochter: das Gas, in dem sie hatte erstickt werden sollen, der Überlebenskampf im Exil, die Panik, als Anna kurzzeitig in einer Menschenmasse am Strand verloren ging….
Anna nutzt die Möglichkeit, mit einem Kollegen die Terra-Nova-Hütte von Scott zu besichtigen. Hier geraten sie in ein „White-out“, in dem nichts mehr zu erkennen ist außer flimmerndem Weiß. Der Kollege zieht sich in die Hütte zurück um abzuwarten, doch Anna musste weiter in dieses Licht schauen: „Sie war nur und ausschließlich wegen dieses Moments hierhergereist, nichts, was sie bis jetzt gesehen und erfahren hatte, zählte, weder die Eisberge noch die Menschen, …… Ohne die Augen vom wirbelnden Dämmern zu nehmen, nahm Anna ihre Kameratasche, hob den seit Tagen unberührt herumgetragenen Apparat heraus, nahm den Linsenschutz ab, hielt sich das Gerät vors Auge und schoss das eine Bild, das in der Lage war, die furchteinflößende und dennoch ruhige alles verschluckende Weißheit jenes Augenblicks vor einem Jahr im Krankenhaus wiederzugeben, als die Farben verschwanden, die Gerüche, die Töne, als der Raum verschwand und damit auch alles andere zurückfiel in jene einzige, unbekannt bekannte Zeit, als nur die Tiere lebten.“ d.h., vor langer Zeit, als es noch nichts gab – und auch nichts mehr geben wird, weil der einzig geliebte Mensch, die Mutter, fehlt.
Als Fazit möchte ich nur bemerken: Ich wünsche diesem Buch und der Autorin viele aufgeschlossene, begeisterte Leser, die danach mit Neugier auch zu ihrem ersten, nicht weniger spannenden Buch „Abendschule“ greifen.

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