Rezension: Györffy, László – „Schatten“

Historischer Roman
Aus dem Ungarischen von Maria Jahn Brandenstein
Verlag Wiesenburg Verlag, Schweinfurt, 2003
ISBN: 3-932497-95-3
Originaltitel: Aki megszökött a halál elől, 2001
Bezug: nur noch Antiquariat

Kürzlich fiel mir mehr durch Zufall ein historischer Roman in die Hände, der sehr gut zu den diesjährigen „Jubiläen“, welche auch in ganz besonderer Weise Ungarn betreffen, passt:
Der königlich-ungarische Honvéd-Hauptmann Stefan Tarnai, geboren 1912, musste drei Mal seine Heimat verlassen, war immer wieder auf der Flucht, geriet in Gefangenschaft und wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Die neue ungarische Regierung nach der Wende erklärte dieses Urteil für null und nichtig und erhob ihn nachträglich in den Rang eines Oberst. Die Schatten der Vergangenheit prägen sein Leben noch immer, jetzt, da er 86 Jahre alt ist. Sogar sein Name hat sich geändert: Aus István wurde Stefan.
Angefangen hatte alles 1919, als er mit seiner Familie nach dem Friedensdiktat von Trianon aus seinem Geburtsort Palicsfürdő (heute Vojvodina/Serbien) vertrieben wurde.
Als alter, kranker Mann berichtet er nun unterschiedlichen Zuhörern von seinem Leben: einem aus Siebenbürgen stammenden Ungarn, der sein Bettnachbar im Krankenhaus war und seinem Neffen Karcsi, der als Journalist einen Bericht über das Leben seines Onkels schreiben möchte. Unterbrochen sind diese ausführlichen Berichte von der Erzählung des wissenden Autors, der alles ins richtige Licht rückt, denn er kennt im Nachhinein die Zusammenhänge viel genauer als der Oberst. Und während dieser noch an seine Kindheit zurückdenkt, hört er im Radio, wie Bomben auf Palics fallen (Jugoslawienkrieg 1999).
Zunächst springen die Gedanken des Mannes hin und her: vom Lehnstuhl, den er mit seiner Frau 1961 gekauft hat, als er hier, in Bruck an der Mur (Obersteiermark) Portier im Hotel zum Schwarzen Adler war. Ihm kommt in den Sinn, wie er, sechsjährig, mit seinem kleineren Bruder Pilze gesammelt hatte im Wald von Palics. Diesen Bruder hatte er in den letzten 40 Jahren nur selten gesehen – er war in Ungarn geblieben, während der Oberst nach Österreich geflohen und dort geblieben war. Der Bruder ist inzwischen gestorben. Nach Ansicht des Oberst könnte er noch leben, wäre er im Westen gewesen. –
Die Gedanken schweifen zu den serbischen Soldaten, die eines Abends, 1919, in die elterliche Wohnung eingedrungen waren – und der Familie eröffneten, dass sie die Wohnung und Palicsfürdő (nahe Szabadka) für immer verlassen müssten mit 25 kg Gepäck pro Person. Die Eltern packten, andere Verwandte blieben.
Im Viehwaggon wurden sie nach Szeged befördert, wo die Familie ein Jahr lang im Waggon hauste, bis man ihnen eine Wohnung zuwies. Als Flüchtlinge waren sie zahllosen Demütigungen ausgesetzt, bis nach dem Scheitern der Räterepublik der Vater eine Stelle als Rechtsanwalt erhielt. István bekam ein Stipendium für die Kadettenschule, die „Ludovika“ und konnte damit seine Familie entlasten. Schon 1934 wurde er zum Leutnant ernannt.
Im November 1938 – nach dem Ersten Wiener Schiedsspruch – wurde er ins „Oberland“ (heutige Süd-Slowakei) beordert. Leutnant Tarnai hatte damals kein gutes Gefühl – so richtig freuen wollte sich niemand, denn die Bevölkerung bestand nur zur Hälfte aus Ungarn, zur anderen Hälfte aus Slowaken. Er blieb bis August 1940 – dann musste er nach Siebenbürgen einmarschieren. Das war ein richtiges Freudenfest! Damals war in der Gegend um Klausenburg „kein einziges rumänisches Wort zu hören – nur ungarisch – ganz wie im Mutterland“. Im „Oberland“ war es anders gewesen, dort wurde slowakisch oder tschechisch gesprochen.
Für den Leutnant waren es schöne Jahre in Siebenbürgen. 1942 heiratete er Magda, seine erste Frau, im gleichen Jahr wurde er zum Hauptmann befördert. Zwei Jahre dauerte das kurze Eheglück, bis zur Mobilmachung im Mai 1944. Beim Abschied war ihm klar: Dies ist nun kein Einmarsch mehr wie ins Oberland oder nach Siebenbürgen, dies ist der Krieg!
Wie weit weg von der Heimat, im fremden Land, sie kämpfen würden, ahnte damals noch keiner. Die Deutschen wurden zurückgeschlagen – die Ungarn mussten ihre Stelle einnehmen. In der verödeten Ukraine fragte Tarnai sich ernsthaft: „Was hat er hier zu suchen? Wozu muss er in diesem fremden Land durch die zerstörten Dörfer […] ziehen, und wie lange muss er noch weitergehen, wo ist der Feind? Wann kommen sie endlich einmal ans Ziel?“
Beim Rückzug aus dem Prut-Tal explodierte eine Mine ganz in seiner Nähe und Tarnai wurde schwer verwundet. Zwei Wochen konnte ihn seine Frau in Klausenburg pflegen, dann musste er wieder in den Krieg ziehen, diesmal als Adjutant des Regimentskommandanten. „Wenigstens muss er nicht mehr auf fremdem, sondern auf heimischem Boden kämpfen: für seine eigene Heimat, für sein eigenes Heim in Klausenburg …“ – Die Kämpfe wogten hin und her, schließlich landete er mit dem Rest seines Regiments in Österreich, in der Steiermark.
Am 12. Mai wurde der Waffenstillstand ausgerufen. Obwohl der Krieg beendet war, wurden sie von einer ukrainischen Division entwaffnet und gefangen genommen, gedemütigt, beraubt und auf eine lange Fahrt in überfüllten Viehwaggons über Rumänien und Kiew bis in die Nähe von Moskau geschickt. Von dort ging es weiter in Fußmärschen bis Jánosháza und dann wieder in Waggons, noch enger zusammengedrückt, tagelang ohne Wasser und Essen, bis zu ihrem Bestimmungsort irgendwo in Russland. Am Bau, auf Kolchosen, als Sanitäter, als Koch und Offiziersbursche ging es ihm mal schlechter, mal besser. Dabei nahm er wahr, dass die einheimische Bevölkerung oft noch mehr unter Hunger zu leiden hatte, als die Lagerinsassen.
Am 4. November 1948 wurde er mit anderen aus der Gefangenschaft entlassen. In Debrecen angekommen, begannen die Überprüfungen von Gesundheit und Gesinnung. Als er sich weigerte, in die kommunistische Partei einzutreten, schlug und trat man ihn. Schließlich erhielt er einen Ausweis und durfte nach Keszthely fahren, wo seine Frau inzwischen im Museum Arbeit gefunden hatte. Ein Jahr lang bekam er kein Arbeitsbuch – und damit keine Arbeit. Aber mit Gelegenheitsaufträgen und schließlich einer Ausbildung mit Diplom als Elektrofacharbeiter konnte sich das Ehepaar ganz gut durchschlagen. Das ging gut bis zum Volksaufstand 1956.
Es ist interessant, wie der Autor die Ereignisse in der Provinz schildert, weitab von den blutigen Kämpfen in der Hauptstadt:
Zunächst erfuhr er, wie seine Arbeitskollegen, nur aus dem Radio, was sich in Budapest zutrug. Als es schien, der Aufstand würde die Oberhand gewinnen, griff die Begeisterung auch auf die Einwohner von Keszthely über. Nach anfänglichem Sträuben – Tarnai hatte ja schon schlechte Karten beim Regime – und außerdem machte er sich nichts vor, was geschehen würde, kämen die Russen zurück – willigte er endlich am 29. Oktober ein, Befehlshaber der neuen örtlichen Nationalgarde zu sein. Unter seinem Kommando wurden die Stadträte und die Beamten der Staatssicherheit abgesetzt und – eher zu ihrer eigenen Sicherheit – ins Gefängnis gebracht; ebenso eine Reihe von Spitzeln. Dort sollten sie bleiben, bis ein reguläres Gericht sie anklagen würde. Es kam in Keszthely zu keinerlei größeren Gewalttätigkeiten und geschossen wurde überhaupt nicht.
Am 4. November, nachdem die Russen eingerückt waren, nahm Tarnai an der Sitzung des Nationalrates teil. Man teilte der Versammlung Imre Nagys dramatischen Appell mit – die Revolution sei zu Ende, die Sowjets in Ungarn einmarschiert. Als er in den folgenden Tagen erfuhr, dass die Staatssicherheit ihn suchte, tauchte er bei einem Kriegskameraden in Budapest unter, bis sich die Aufregung gelegt hätte. Als er sich von seiner Frau verabschiedete, ahnten sie noch nicht, dass sie sich nur noch einmal, ganz kurz, sehen würden.
Budapest war zu seinem Entsetzen so zerschossen und zerstört wie nach dem: Zerschossene Panzer, herausgerissene Pflastersteine, durchlöcherte Häuser, mitten in der Stadt blumenbedeckte Grabhügel, aber auch verkohlte Leichen. Die Fußgänger hasteten durch die Straßen, wagten kaum, sich umzusehen.
Sein Onkel konnte ihn warnen, dass nach ihm gefahndet würde: „Wegen konterrevolutionärer Tätigkeit werde ein Prozess angestrengt, unter anderen auch gegen einen flüchtigen einstigen Hauptmann, Horthy-Offizier, zur Zeit Elektromechaniker…“. Noch einmal machte sich Tarnai nach Keszthely auf, um sich von seiner Frau zu verabschieden. Er wollte allein fliehen, sie würde in ihrem angegriffenen Gesundheitszustand die Flucht nicht durchstehen können.
In seinem alten Monteuranzug, mit Elektrikerwerkzeug getarnt, machte sich Tarnai auf die Flucht, wurde verhaftet und konnte auch wieder fliegen. Nach vielen Tagen erreichte er endlich die ungarisch-österreichische Grenze: Ihm ging dabei durch den Kopf: Wegen der Russen war er schon wieder auf der Flucht – und musste schon wieder seine Heimat, seine Familie verlassen! „Ein Einzelschicksal, symptomatisch für ein ganzes Volk“. In der Frühe klopfte er an das erste österreichische Haus, das er sah.
Nach einiger Lagerzeit fand er Arbeit am Bau, dann als Koch im Lager. Später konnte er als Elektriker in Hotels arbeiten. István, jetzt Stefan, heiratete wieder, wurde Portier in einem Hotel, bis zu seiner Pensionierung 1978.
Von Magdi hatte sich der Republikflüchtling scheiden lassen müssen. In der Heimat war er zum Tod durch Erhängen verurteilt worden, sein ganzes Vermögen konfisziert, die Familie hatte seinetwegen viele Scherereien.
Einmal hätte ihn beinahe ein Menschenräuber erwischt, um ihn zurück nach Ungarn und vor Gericht zu bringen.
In den 80er Jahren wurde er dann tatsächlich „begnadigt“ – und nachträglich zum Oberst befördert. Zu den großen Gedenkfeiern 1991 in Keszthely lud man ihn jedoch nicht ein. Die Menschen dort wissen nichts mehr von seiner Besonnenheit – und von dem, was wirklich geschehen war – wenigstens sein Neffe Karcsi will seine Geschichte aufschreiben, damit sie nicht vergessen wird.
Im Anhang bietet das Buch ein Namensregister mit Erklärung.

Zum Buch: Györffy erzählt minutiös Tarnais Schicksal, welches typisch ist für viele Ungarn, die nach Trianon ihre Heimat verlassen mussten, in einen weiteren Weltkrieg hineingezogen wurden, ihrer Ehre beraubt, ein neues Leben im Kommunismus beginnen – und schließlich wieder fliehen mussten, da sie unter falschen Anschuldigungen und dreisten Lügen zum Tode verurteilt worden waren.
Sein erster Gesprächspartner ist ein aus Siebenbürgen stammende Ungar, sein Bettnachbar im Krankenhaus. Auch er ein Entwurzelter, der seine Heimat verlassen musste, weil er nicht allein bleiben wollte, als sein Sohn mit Familie nach Österreich zog. Auch dieses Schicksal steht für viele Auswanderer aus Siebenbürgen, die ihre Heimat unfreiwillig verlassen haben.
Fazit: Trotz der etwas hölzernen Übersetzung, in der auch einige Fehler übersehen wurden (falsche Jahreszahlen und Begriffe), ist es ein spannend zu lesendes Buch, das einmal im Zusammenhang das ganze Elend darstellt, welches die Kriege, die Teilung Europas und die Revolution mit sich brachte.

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