Rezension: Bánk, Zsuzsa – „Die hellen Tage“

Roman
Verlag: S. Fischer, 2011
ISBN: 978-3-10-005222-3
Bezug: Buchhandel; Preis: 21,95 Euro

Seri erzählt im Rückblick von den Stationen ihrer Freundschaft mit der gleichaltrigen Aja, die aus einer Zirkusfamilile stammt und ihrem Schulkamerad Karl, der später dazu kommt. Wie kam es, dass sie sich nie endgültig aus den Augen verloren hatten, auch in Zeiten, als es schwieriger zwischen ihnen wurde? : „Wir hätten uns aus den Augen verlieren können, wie sich viele in dieser Zeit aus den Augen verlieren, die uns erwachsen werden lässt. …Vielleicht war es der Schatten, mit dem jeder von uns lebte, vielleicht hielt uns das zusammen“…
Im Roman ist viel von Zufall, Schicksal und Fügung die Rede, wenn Zsuzsa Bánk diese Freundschaft von Kleinkindertagen bis in die Berufsjahre sehr poetisch, wie einen Bilderteppich vor uns entstehen lässt. Genauso wichtig und umfänglich fügt sie die Geschichten der drei Mütter zusammen, die aus verschiedenen Gründen ohne ihre Männer auskommen und ihr Leben meistern müssen.
Mit leiser Melancholie lässt sie Seri von den Verlusterfahrungen der Kinder wie auch der Erwachsenen erzählen, von Exildasein und Integration, von Geheimnissen, die lange nicht aufgedeckt werden, dann aber die scheinbar so vorbestimmte Welt von Kindern und Müttern drehen und verändern:
Die Geschichte beginnt in den 60er Jahren als zeitloser Kindertraum. Eines Tages zieht die ehemalige Seiltänzerin Évi Kalócs mit ihrer Tochter Aja an den Rand der fiktiven Kleinstadt Kirchblüt, in ein windschiefes, baufälliges Häuschen. In Kirchblüt reihen sich die hellen Tage einer wonnigen Kindheit im Zaubergarten von Évi und Aja aneinander. Die Mädchen lernen sich kennen und sind sofort ein Herz und eine Seele. Die Bewohner des Städtchens, auch Seris Mutter, beobachten die Unzertrennlichen von fern, lassen sie gewähren, doch ohne Verständnis, wie diese beiden unterschiedlichen Kinder zueinander finden konnten. Seri erzählt von einer Kindheit, in der alles erlaubt ist, was ein Kinderherz begehrt: In den Bäumen sitzen, barfuß durch die Wiesen streifen, in einem Tuch schaukeln, mit Évi abends am Feuer sitzen und die Sterne anschauen. Als Leser genießt man das mit –mit leisem Bedauern, weil man selbst diese Freiheiten nicht hatte, oder in freudig zustimmender Erinnerung.
Zsuzsa Bánk lässt sich Zeit, spinnt den Leser ein in eine Idylle aus Klatschmohn über den eine Brücke führt, Feldern die zusammenlaufen, Linden, die zusammengewachsen in Évis Garten stehen; mit einem windschiefen Häuschen, einem schief hängenden Tor, das über Steinchen schleift, schiefen Stühlen und einem schiefen Tisch, angeschlagenen Rosentassen und Nägeln als Garderobe.
Doch Achtung, nicht einlullen lassen! Unter dieser sonnigen Oberfläche lauern Sorgen, Probleme und große Verluste: Ajas Vater, Zigi, arbeitet als Artist bei einem Zirkus in Amerika und kommt nur einmal im Jahr zu seiner Familie. Wenn er wieder verschwindet, übers Meer, kehrt Niedergeschlagenheit im Häuschen ein.
Als die Mädchen bereits zur Schule gehen, taucht Karl auf – ein Junge, der so gar nicht zu ihnen passen will: geschniegelt, mit tadellosen Manieren, gesellt er sich dazu – und sie nehmen ihn auf, als hätte er schon immer dazu gehört. „Obwohl uns nichts gefehlt hatte, schien Karl etwas zu ergänzen, auch wenn jeder hätte glauben können, er passe nicht zu uns“. Auch hinter Karls anscheinend wohl geordnetem Leben lauert die Tragik: Erst nach und nach verstehen Aja und Seri, dass es Karls Bruder Ben war, der eines Tages in ein fremdes Auto eingestiegen war und nie mehr gesehen wurde. Die Eltern verzweifeln darüber und ziehen sich zurück, getrennt, jeder in seinem eigenen Haus Karl fühlt sich schuldig, weil er den jüngeren Bruder immer wieder eifersüchtig weg gewünscht hatte.
Nicht nur Karls Mutter Ella trauert, auch Seri und ihre Mutter Maria haben den Verlust des geliebten Mannes und nie wirklich wahrgenommenen Vaters zu verkraften.
Den Artisten Évi und Zigi war es 1956 gelungen, als die Panzer durch Budapest rollten, aus Ungarn zu fliehen. Sie trennen sich eine Zeitlang, bevor sie wieder in einem Zirkus zusammenarbeiten. Als eine Artistin, genannt Libelle, sich zu auffällig um Zigi bemüht, packen sie das Kleinkind Aja und verlassen den Zirkus. Ein Jahr lang leben sie im Freien, bringen sich mit ihren Kunststücken durch, doch Évi will nicht mehr weiterziehen, Aja soll aufwachsen wie andere Kinder. So landen sie in Kirchblüt, wo sich Évi in einem bürgerlichen Leben probiert. Zigi allerdings, kann sich darin nicht zurechtfinden – er sucht Arbeit bei einem Zirkus in Amerika, überm Meer.
Évi kann in einem Fotolabor arbeiten und als sich die Mütter der drei Freunde endlich näher kommen, setzt es sich Seris Mutter in den Kopf, für Évi ein Fenster zu öffnen. Sie bringt ihr Lesen und Schreiben bei. Der Höhepunkt an Sicherheit und Normalität im Exil ist jedoch für Évi, als sie endlich einen deutschen Personalausweis erhält.
Der unkonventionellen Frau, die sich so gut in ihre Mitmenschen hineinfühlen kann, gelingt es, Karls Vater wieder ins Leben zurückzuführen – und auch seine Frau Ella für ein normales Leben zu öffnen.
Seri erzählt viel und ausführlich von Aja, der in ihrem Ehrgeiz nichts zu viel wird; sie erzählt von Évi, von Karl und seiner Familie und auch von ihrer Mutter Maria. Nur von ihr selbst erfahren wir wenig. Sie scheint durch ihre Freunde zu leben. Auch Zigi der Träumer bleibt im Hintergrund mit seinen Sprüngen und Kunststücken, präsent wird er eigentlich nur durch Ajas Sehnsucht nach ihrem Vater, oder durch kleine ärgerliche Bemerkungen Évis, dass eine Familie ohne Mann doch keine richtige sein könne. Karls Vater tritt zwar in Erscheinung, doch als wortloser Helfer und geschickter Handwerker; Seris Vater erleidet, als sie noch ganz klein ist, bei einer Radtour einen Herzinfarkt und stirbt. Sein Koffer vom letzten Flug aus Rom begleitet ihre Mutter über 20 Jahre unausgepackt auf dem Beifahrersitz.
Beide Kinder, Seri und Karl erleben ihre eigentliche Kinderheimat bei Évi.
Als die Drei allmählich die Kindheit hinter sich lassen, Abitur machen beginnen sie im nahen Heidelberg zu studieren. Aja will Ärztin werden, Seri studiert Sprachen, Karl beschäftigt sich mit Fotografie. Noch während des Studiums ziehen sie zusammen nach Rom.
Die Ewige Stadt bringt Wahrheiten und Geheimnisse an den Tag: Karl und Aja verlieben sich ineinander. Seri fühlt sich hintergangen und verraten, zieht sich zurück nach Kirchblüt. Dort hat ihre Mutter endlich Vaters Koffer geöffnet.
In Rom löst sich das Lügen- und Geheimnisknäuel für alle: Seris Vater hat hier ein zweites Leben geführt, Karl hat ein Geheimnis ausgeplaudert ohne Not, Aja muss erfahren, dass sie nicht Évis Tochter ist. „Wir waren nach Rom gekommen, um Dinge zu erfahren, die wir nicht hatten wissen wollen und die jetzt über uns bestimmten, als gebe es nichts anderes mehr, als habe es davor nichts gegeben und als könne es auch danach nichts mehr geben“. Rom ist die dunkle Rückseite der hellen Medaille von Kirchblüt geworden.
Doch ihre Freundschaft wächst wieder zusammen, die jungen Leute beenden ihre Studien, werden berufstätig. Aja wird Ärztin, Seri führt das Speditionsgeschäft ihres Vaters weiter, Karl bleibt als Fotograf in Rom. Alle haben sich ausgesöhnt und versöhnlich endet auch das Buch. Etwas viel Dramatik kommt zum Schluss auf, als von Évi berichtet wird, dass sie immer vergesslicher wird und langsam dahin schwindet. Zigi kommt zurück, um für sie zu sorgen.
Ein poetischer, spannender Roman mit einer lichtdurchfluteten sonnigen Oberfläche und einem ernsten tiefen Untergrund, der Fragen um Leben und Sterben mit einbezieht. Die Geschichte ist allerdings dann so abgerundet, dass es für die Zukunft wohl nichts mehr zu berichten gibt. Man weiß oder ahnt, wie es weitergehen wird.

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