Rezension: Németh, Gábor – „Bist du Jude“

Roman
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora
Verlag edition atelier, Wien 2011
ISBN: 978-3-902498-52-6
Originaltitel: Zsidó vagy?, 2004
Bezug: Preis: 18,90 Euro

Schade, dass die großen Zeitungen auf ihren Feuilleton-Seiten dieses Buch nicht besprochen haben: Da schreibt einer mit viel Liebe und leisem Spott über Verletzungen, Missverständnisse seiner Kindheit und Jugend, über Sprachlosigkeit und Ausgeliefertsein an die Erwachsenen – und damit auch an den Machtapparat des kommunistischen Ungarn unter Kádár. Németh ruft nicht nur seine kindlichen Erinnerungen zurück, er kommentiert diese als Erwachsener, der seinen Reminiszenzen oft genug nicht traut. Dabei blitzt die Familiengeschichte immer wieder auf in der ungarischen Politik und Geschichte seit dem 2. Weltkrieg – für das Kind ist das die graue Vorzeit.
Melancholisch-ironisch sinnt der Autor der Frage nach, wann „es“ anfing, wann er „es“ verloren hatte, oder als „es“ noch in Ordnung war – nämlich, als er noch Vertrauen hatte, sich zugehörig fühlte, eingehüllt in Liebe und Fürsorge, und wieso er sich in seinem eigenen Land, Ungarn, schon als Kind fremd und als Außenseiter gefühlt hatte. Später wird er sich im Unterwegs zu Hause fühlen, sicher und glücklich in anderen Ländern.
„Ich war noch nicht einmal geboren, da wollte man mich schon zweimal umbringen…“ beginnt der Autor, der am 23. November 1956 geboren wurde, zu einer Zeit, als bereits viele Aufständische Ungarn den Rücken kehrten und in andere Länder flohen. – In diese Zeit der Diktatur Kádars fallen Kindheit und Jugend des jungen Gábor. Eine Zeit, die geprägt ist von Mangel, von sehr beengten Wohnungsverhältnissen – das Kind musste die Woche über bei seinen Großeltern schlafen, da die Eltern nur in einer Ein-Zimmer-Wohnung lebten – und vor allem vom Verschweigen der vergangen Geschichte.
Gábor macht schon früh die Erfahrung, dass er in entscheidenden, für ihn auch sehr schmerzlichen Situationen allein gelassen wird: Als Kleinkind von einer Hornisse gestochen – und niemand ist zur Stelle, in der Schule würgt ihn ein Mitschüler derart, dass er ins Krankenhaus kommt und lange Zeit, nicht am Sportunterricht teilnehmen kann. Er bleibt im Klassenzimmer, grübelt und beobachtet. Als er wieder einmal mit seiner Mutter zum Arzt geht, operiert ihm dieser unvermutet die Mandeln heraus. Traumatische Erfahrungen für das Kind. Er fühlt sich hintergangen und nicht ernst genommen.
Zu seinem ersten Aufenthalt als Schulanfänger in ein Ferienlager unweit Budapest, in Leányfalu, fährt er ahnungslos mit seinen Eltern mit – und wird zurück gelassen. Gábor fühlt sich abgeschoben, missverstanden, gegen den Strich gebürstet. Es gab Sport mit den anderen Kindern, doch er kann sich nicht wohlfühlen, mag ihre oft grausamen Spiele nicht mitspielen – fühlt sich aber zu schwach und ohnmächtig um einzuschreiten oder Hilfe bei den Erziehern zu holen. Eigentlich möchte er einfach in Ruhe gelassen werden, Abstand halten, nur zusehen. Für ihn gibt es keinen Schlupfwinkel, in den er sich hätte verkriechen können; er fühlt sich ständig beobachtet und ausgeliefert. Der Junge ist einsam, das Kinderheim eine „Einsamkeitsfabrik“.
Immer wieder wird er in seinem Leben die Erfahrung machen, dass er hauptsächlich einsam ist und nicht verstanden wird. Gábor hat viele solcher Kinder- und Jugendlager in Ungarn durchlaufen – überall das Gleiche mit Variationen; selbst als er zum Militär einberufen wird: „20jährige kleine Kameraden spielen Soldatenspiele…“. Das Wissen um die Sinnlosigkeit dieser Lageraufenthalte nimmt zu, er wird misstrauisch. Wirkliche Freunde findet er nicht. Auch später, in seinem Erwachsenenleben, kommt es immer nur zu Fast-Freundschaften: Sobald Höflichkeit und Lüge dazu kommen, ist es aus – Freundschaft muss für ihn vorbehaltlos sein. – Als Erwachsener begreift er auch, dass der Mensch sein ganzes Leben lang ein Lagerbewohner ist, dass er stets von den Abmessungen der Lager begrenzt ist.
Leányfalu wird sein ganzes Leben beeinflussen: Die Kinder dürfen als besondere Vergünstigung ins Kino gehen. „Der alte Mann und das Meer“ wird gespielt. Aber nicht dieser Film ist es, der ihm mit einem Schlag die „Augen öffnet“ und um den sein ganzes zukünftiges Denken kreisen wird, sondern ein Kurzfilm, eine Dokumentation über die Ermordung der Juden, über den Holocaust. Sogleich ist er sich sicher, dass auch er zu diesen Ausgegrenzten gehören muss. Die Frage für ihn ist nur: Wann wird er mit seiner Familie an der Reihe sein? – Schlaflose Nächte folgen, Jahre, in denen das Kind, später der Jugendliche sich den Kopf zermartert, welche schwere Verfehlung die Juden auf sich geladen haben, dass sie derart bestraft werden müssen. Er ist erschüttert und beschämt, dass seine Eltern ihm nichts davon gesagt haben, bis ihm eines Tages klar wird, dass sie es nicht einmal selbst wissen, dass sie Juden sind. Sie glauben sie seien Kommunisten, wenn auch römisch-katholisch getauft – die Mutter reformiert. Den Glauben anderer würden sie achten, wenn er auch zu nichts nütze.
Dem erwachsenen Gábor fällt auf, dass seine Eltern viele jüdische Bekannte hatten, dass Spiel- und Schulkameraden Juden waren. Er wusste nichts davon; hatte es nicht gespürt – sie sehen ja aus, wie andere Menschen auch. Geheime Zeichen konnte er keine entdecken – und wenn sie wirklich welche hatten, erkannte er sie nicht.
Gábor wächst sicherlich so auf, wie viele ungarische Kinder in dieser Zeit. Die Eltern können sich wenig leisten, sie sind kleine Parteimitglieder, stolz darauf, dass Vaters Vater die kommunistische Partei mitbegründet hat, was ihnen im realen Leben aber keinerlei Vorteil verschafft.
Das Wort Jude, oft als Schimpfwort gebraucht, fällt ihm immer häufiger auf: „Ich wusste noch nicht, dass außerhalb der Schule es genau so ist, dass der ein Jude ist, der danach aussieht, nein, er muss gar nicht danach aussehen, es reicht, wenn man der Meinung ist, er sähe so aus, oder wenn man ihn ganz einfach für einen Juden hält“. Jude ist der, über den andere schimpfen, auf dem andere herumhacken. Und derjenige, der sie verteidigt, muss in den Augen der Angreifer auch Jude sein! Doch vorerst hänseln ihn die Kameraden als „Nazi“. Nazi von seinem Namen „Németh“ – Deutscher. Er muss es geschehen lassen, kann sich nicht wehren. Insgeheim nennt er sich nach einem Onkel aus Holland, Onkel Johan –Rennfahrer im Porsche – doch war er überhaupt sein Taufpate 1956? – So hat er es sich als Kind ausgemalt. Real ist, dass sie Verwandte in Holland haben. Verwandte, die immer mal wieder nach Ungarn kommen, großzügig sind und die große weite Welt mitbringen, bevor sie die Zurückgebliebenen wieder in ihrem grauen Alltag allein lassen. Johan soll also sein geheimer jüdischer Name sein.
In seinen Erinnerungen lässt der Autor das sensible Kind zu Wort kommen, wie es sich das Leben vorstellt, wenn es sich mit den Helden seiner Bücher vergleicht. Gern wäre es ein edler Ritter, oder ein edler Indianer, doch meist steht er nur als Zuschauer am Rande.
So nach und nach kommt Gábor dahinter, dass zwischen den Reden der Erwachsenen und dem offiziellen Umgang mit Geschichte große Lücken klaffen.
Als Leserin fühle ich mich hineingesogen in diese Zeit, in der über Vieles nicht gesprochen werden durfte. Klar; denn die Faschisten, die Pfeilkreuzler, die Nazis waren an allem schuld. Dann kamen die Kommunisten – und alles wurde besser! Wirklich?
Und was ist mit László Raik? Was mit ’56? In der Schule kann er heimlich ein Buch über 1956 lesen, sieht auf Fotos Imre Nagy vor dem Volksgerichtshof. Er begreift, das Geheimnis von 1956 ist, dass es das überhaupt gab.
Um seine Einsamkeit zu kaschieren, um Gemeinsamkeiten mit der Klasse zu haben, wird er zum Klassenclown, bringt die anderen zum Lachen, findet noch zwei Kameraden, tatsächliche Juden, die er aber nicht erkennt, sie lachen alles mit großem Gelächter weg.
Németh vergleicht auch sein Leben als Heranwachsender mit den echten Männern seiner Bücher. Wie sollte er denn wissen, wie und wer ein echter Mann ist. Keine Erklärung, keine Andeutung der Erwachsenen. Literatur, Lektüre, graues kommunistisches Einerlei. Lager, Pioniere, Ferienheime – und was die Jungen dort so trieben. Echte Männer? Vorbilder?
Einmal lernt der Junge eine Klassefrau kennen. Die passende Literatur fällt ihm dazu ein, das „Hohe Lied der Liebe“, aber als sie ihm ihren Davidstern zeigt und ihn fragt, ob er weiß, was das ist, wird er trotzig und sagt, er wisse es nicht. Aus! Sie geht.
In den 70er, später in den 80er Jahren fängt Gábor an zu reisen – er will heraus, heraus aus seinem Land, in die Freiheit, sehen, was es woanders gibt. Er fühlt sich fremd – jüdisch – in seinem Land. Zunächst kann er nur in die „Bruderländer“ reisen, später in den Westen. Damit beginnt für ihn das Gefühl der Geborgenheit, des Glücks im Unterwegssein.
Erwähnen möchte ich die stimmige Übersetzung von Terézia Mora, die den leichten Plauderton des Autors, der dabei so viel Wichtiges zu sagen hat, genau trifft und das Lesen auch von dieser Seite her zu einem Vergnügen macht.

Gudrun Brzoska, September 2012

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