Rezension: Schiff, Julia – „Steppensalz“

Julia Schiff
Steppensalz
Aufzeichnungen eines Deportierten
Verlag Südostdeutsches Kulturwerk, 2000
ISBN: 3-88356-155-X
Bezug: Antiquariat

Im Jahre 1951 wurden etwa 40 000 Personen, die in den Augen der kommunistischen rumänischen Diktatur als unzuverlässig galten, und in der Nähe der serbischen Grenze, im rumänischen Banat lebten, nach Ost-Rumänien, in die Bărăgan-Steppe verschleppt und auf freiem Feld ausgesetzt. In dieser Steppe fließt nur spärlich Wasser, die Sommer sind glühend heiß, die Winter eisig kalt mit vielen Schneestürmen. Besonders der Crivaţ, ein aus dem Nordosten hereinfegender Sturm ist gefürchtet. Die Deportation betraf nicht nur Einzelne, sondern ganze Familien, vom Säugling bis zum Greis. Zu den Verschleppten gehörten ungefähr 10 000 Deutsche, Banater Schwaben, die zum Teil erst aus sowjetischen Lagern heimgekehrt waren. In mühseliger Arbeit bauten sie Häuser aus Erde, in denen sie fünf Jahre lang lebten, bis sie zurückkehren durften. Zurück in der alten Heimat, waren sie als „Volksfeinde“ weiterhin Verdächtigungen und Repressalien ausgesetzt.
Von diesen Leidensjahren in der Steppe erzählt Julia Schiff. Sie selbst wurde als Elfjährige mit ihrer Familie aus dem Banater Dorf Detta, nahe der serbischen Grenze, deportiert und lässt ihren Vater, den Rechtsanwalts Dr. Antal Büchl aus Detta, anhand seiner Tagebuchaufzeichnungen berichten.

Am 17. Juni 1951 fürchten bereits viele Bürger Dettas, dass ihnen die Deportation drohe. Enteignet waren sie bereits, die Listen sind schon erstellt. In der nächsten Nacht ist es dann soweit. Vier Stunden Zeit bleiben, um alles zusammenzupacken. Zu ihrer großen Verblüffung dürfen sie außer Nahrungsmittel auch Möbel, Geschirr und Kleidung mitnehmen. Im Dorf herrscht Ausgehverbot; niemand soll mit den Verbannten sprechen dürfen. Auf den Bahnhöfen wimmelt es von Menschen, Möbeln und Gepäckstücken. In den Zügen staut sich die Hitze, Wasser gibt es kaum. Nach angstvollen, unsicheren Tagen lädt man sie einfach in der Bărăgan-Steppe ab, mitten in Sand und Staub, ohne Wohnung, ohne ein Dach über dem Kopf, in glühender Hitze.
Zunächst lesen wir die knappen Tagebucheintragungen von Antal, dem Dettaer Rechtsanwalt Dr. Büchl, der ungläubig bis verzweifelt von vielen Misserfolgen, vom Kampf mit der Natur und der Willkür der Behörden berichtet. Die Menschen wollen es zunächst gar nicht glauben, versuchen sich nur gegen den unermüdlich brausenden Wind zu schützen. Wasser gibt es aus einem zwei Kilometer entfernten Brunnen; ständig ist ein Menschenstrom dorthin unterwegs. Wie sollen sie sich eine Unterkunft verschaffen? Baumaterial ist nicht in Sicht und wird auch nicht ausgegeben. Nur die Miliz ist tätig, die Kinder werden aus der Jugendorganisation ausgeschlossen – sie sind ja Deportierte; weiterführende Schulen dürfen sie nicht besuchen. Nur arbeiten sollen sie! Die Steppe soll nach dem Plan der Regierung in blühendes Land umgewandelt werden, Baumwolle- und Weizenfelder sollen entstehen und Aprikosenplantagen angelegt werden. Doch das Klima wird diesen Plänen immer einen Strich durch die Rechnung machen. Die Verschleppten dürfen sich nur in einem Umkreis von 15 km bewegen, sonst droht ihnen der Abtransport ins Arbeitslager am Schwarzmeer-Kanal. Alle haben nur noch Pflichten, keinerlei Rechte. Die „Ortschaft“ erhält den Namen Boduşanii-Noi. Einige Entschlossene versuchen es mit Erdhöhlen, graben sich ein, wie in ein Grab, doch für die Überdachung ist nichts da. . „Ich schaue auf den Grund des Loches, als wäre es mein eigenes Grab“. …In diesem eigenhändig ausgehobenen Grab werde ich meine Familie unterbringen. Es wird den meinen so viel Obdach bieten wie ein Sarg. Es wird Träume in sich begraben….“ Die Einheimischen aus den Nachbardörfern warnen vor den unbarmherzig- eiskalten schneereichen Wintern, in denen der Crivaţ unaufhörlich tost. Vater Antal, dem Geistmenschen, fällt körperliche Arbeit schwer. Er ist ein Denker und Grübler, der es sich eigentlich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, über sein Heimatdorf eine Chronik zu schreiben, über die Zeit, in der seine Vorfahren aus Lothringen und dem Saarland vor 300 Jahren als arme Siedler ins Land gekommen und es bis zum 1. Weltkrieg zu wohlhabenden, angesehenen Bürgern gebracht hatten.
Im Laufe der Aufzeichnungen fliegt er in Gedanken immer wieder nach Detta, entflieht dem täglichen zermürbenden Überlebenskampf in der Steppe. Antal denkt schreibend über seine Familie, seine Vorfahren und über seine Heimat nach. Er liebt seine Heimat Detta, wollte sich nicht mehr von dort trennen, nachdem er als junger Mensch gereist war und versucht hatte, seinen Lebensmittelpunkt in Klausenburg zu finden. Doch Eltern und Tradition hatten ihn mit unsichtbaren, doch starken Fäden wieder an sich gezogen. Nun sieht er seine Aufgabe darin, über seiner Familie zu berichten. Er beschreibt seine fleißigen und loyalen Eltern mit ihrem großen sozialen Verantwortungsgefühl, seinen Onkel Peter, der auch schon mit Aufzeichnungen über die Ahnen begonnen – und der ihm diese überlassen hatte. Er denkt über die Großeltern nach und was von ihnen, den Nachfahren eigentlich erwartet wurde – und dass ihm, Antal, diese Bürde oft viel zu schwer dünkte.
Nun ist er in der Steppe mit seiner Familie gefangen. Vor dem Winter wird die ganze Gemeinschaft gezwungen, Häuser aus Erde zu bauen. Die Menschen schlagen Ziegel aus Donauschlamm. Den ersten heftigen Regenschauern hält manches Haus nicht stand und sinkt wieder in sich zusammen. Die Strohdächer sind nicht dicht, die Lehmwände feucht. Was daran gehängt wird, schimmelt. Doch die Familie kann sich, immer das Nächstliegende vor Augen, durchbringen. Die Menschen sind völlig fertig und ausgelaugt. Und doch, immer wenn in Gemeinschaftsarbeit wieder ein Haus fertig ist, glimmt Lebensmut auf, es wird Akkordeon gespielt und getanzt. Antals heiterer, praktisch veranlagten Frau Nelly gelingt es buchstäblich, aus Nichts etwas zu machen, z. B. Spinat aus Brennnesseln. Sohn Bela ist es mit seinen zwölf, dreizehn Jahren gerade recht, dass er keine Schule besuchen darf – er will sich nützlich machen. Und wenn es dem Vater wieder einmal gelungen ist, ihn in einer Schule unterzubringen, wird er mit Sicherheit von der Miliz wieder zurückgebracht: Deportierte haben kein Recht auf Bildung. Die Stimmung zwischen Vater und Sohn verschärft sich immer mehr: Der Junge kommt in die Pubertät, er will sich nichts mehr sagen lassen, legt sich mit dem Vater an, hält ihn für einen Versager, der nichts gelernt hat, was man im Leben brauchen kann. Bela will kein Außenseiter sein, will zur Gruppe der Gleichaltrigen gehören und wirft dem Vater sogar vor, ein Ausbeuter gewesen zu sein. Es dauert lang, bis er einsieht, dass er nur durch Lernen anders werden kann, als zu Menschen, die man hier aus ihnen machen möchte. Trotzdem trägt der Junge in diesen fünf Jahren der Verschleppung zwischen seinem 12. und 17. Lebensjahr viel zum Erhalt der Familie bei, ist zeitweise der einzige Ernährer. Anders seine Schwester Julia, die wohl mit der Autorin identisch ist. Sie lernt verzweifelt. Nicht nur, weil sie gern und leicht lernt, sondern auch, weil sie erkannt hat, dass man ihr das einmal Gelernte nicht mehr wegnehmen kann. Das kleine Mädchen wird sofort zum Arbeitseinsatz geführt und muss so hart arbeiten wie die anderen, oft von Hunger geplagt. Irgendwann wird der Vater als Lehrer in der Volksschule eingesetzt.
Einzig die kleine Schwester Marie, die als Kleinkind in die Steppe kam, die nichts anderes kennt, passt sich selbstbewusst an. Trotzdem: Die Eltern bedauern sie, weil sie nie die Geborgenheit eines Hauses, schön gedeckte Tische, gute Speisen, weil sie nie ein gemütliches Weihnachtsfest kennen lernen konnte.
Antals Gedanken beschäftigen sich immer wieder mit Detta; er will die Freiheit des Geistes nicht dem Joch der Steppe opfern. Er berichtet von geschichtlichen Ereignissen, nach der Abtrennung des Banat von Ungarn, als sich überall der Nationalismus und die Schikanen erhoben, als nur noch Rumänen bestimmte Berufe ergreifen durften, er berichtet von der Zeit, als Hitler die Volksdeutschen in sein Lager ziehen wollte, als sich einige Dettaer dem Volksbund anschlossen, und Schilder in Geschäften auftauchten: „Kauft nur bei Deutschen“. Doch Antal blieb ein Beobachter am Rand, er schloss sich nirgends an, fühlte sich durch und durch als Europäer, wie viele andere Mitbürger auch, bemüht zu versöhnen und nicht noch mehr Gräben auszuheben. Er erzählt von der kurzen Zeit, als Serbien sich das ganze Banat einverleiben wollte, von Besetzung und Plünderung, schließlich von der neuen kommunistischen Macht, die Deutsche und Ungarn und alle, die sich nicht ohne Wenn und Aber auf ihre Seite schlugen, zu Volksfeinden erklärte.
Die begabte Julia gewinnt ein Literaturpreisausschreiben, darf als Deportierte den Gewinn aber nicht in Empfang nehmen. Antal wird endlich als Lehrer in der Volksschule eingesetzt. Er kommt auf die Idee, mit seiner Tochter Julia heimlich auch andere Schüler auf die Abschlussprüfungen und die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium vorzubereiten: er hat endlich das Gefühl, seine Bestimmung gefunden zu haben. Alle Kinder wollen auf einmal lernen, sich aus Trotz ihren Demütigungen als Individuen entgegenstellen. Vielerlei Steine und Behördenwillkür stellen sich ihm in den Weg, doch mit zäher Ausdauer können er und die Kinder die Hürden überwinden, obwohl Julia auf dem Weg zur Prüfung im eisigen Januar 1954 beinahe erfroren wäre.
Im März 1953 hatten die Menschen erfahren, dass Stalin tot ist. Wird nun auch für sie ein politisches Tauwetter einsetzen? Es sollte noch drei Jahre dauern, bis die Deportierten endlich, nach Prüfung ihrer Unterlagen, wieder zurückkehren können. Doch auch in der Heimat sind sie nur in eine vermeintliche Freiheit zurückgekehrt. Zwar erhält die Familie ihr Haus in Detta wieder, doch Wohnung und Garten müssen erst wieder bewohnbar gemacht werden. Antal darf nur kurze Zeit unterrichten, dann wird ihm auch dieses Privileg wieder entzogen. Doch die Kinder dürfen lernen, ihr Abitur machen. Zur Hochschule werden sie allerdings nicht zugelassen. Ihnen steht nur eine Fachausbildung zu.
Am Ende der Steppentage resümiert Antal: „Seltsam: Noch nie habe ich mich so gut aufgehoben gefühlt wie hier, in der Gesellschaft der Entrechteten – einer schutzlosen und doch schützenden Gemeinschaft. … Dem Rand der Versöhnung mit meinem Schicksal bin ich durch das Suchen und das Grübeln bereits näher gelangt als dem der Verzweiflung. Ich werde mir hier noch viele Einsichten erwerben und werde irgendwann vielleicht als ein anderer Mensch heimkehren. Ich werde die Weisheit der Steppe akzeptieren und ihre würzige Lehre annehmen: das Steppensalz“.
Im Nachtrag klingt er allerdings eher resigniert: Sollten die Ungarn aus Detta weggehen, so würden sie sich ihnen anschließen, im Neuanfang sind Antal und Nelly schließlich Meister.
Julia Schiffs eindringliche, ausdrucksstarke Erzählungen fesseln und machen eine Zeit gegenwärtig, die noch gar nicht so lange vergangen ist, als in Europa die Menschen gewaltsam ihrer Freiheit beraubt, für Taten und Gesinnungen bestraft wurden, die den Machthabern nicht passten. Viel zu wenig wissen wir hier im Westen – außerhalb der Landsmannschaften – über diese Deportationen, über den Leidensweg und Überlebenskampf der Verschleppten. Es ist immer noch Zeit, dass wir uns diesen Schicksalen stellen.

© Gudrun Brzoska, Februar 2012

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