Rezension: Esterházy, Péter – „Donau abwärts“

Roman
Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki
Verlag Berliner Taschenbuch Verlag, 2006
ISBN: 978-3-8333-0435-4
Originaltitel: Hahn-Hahn grófnő, 1991
Bezug: Buchhandel; Preis: Euro 9,90

Elias Canetti: „Man muss nicht unbedingt verreisen, wenn man an einem ruhigen Wochenende einmal den Geruch einer ganz anderen Welt riechen, den Geschmack fremdartiger Gewürze erleben und ganz ungewöhnliche Geräusche hören möchte.“
Canetti ist einer der Autoren, die uns Péter Esterházy im Anhang seiner „(nicht) benutzten Fachliteratur“ nennt. Donau abwärts, von der „edlen“, aber nicht wirklichen Quelle in Donaueschingen, bis zur Mündung nimmt uns der Autor, alias Murkel, alias „Reisender (Mietling)“ auf seinen tatsächlichen und imaginären Donaureisen mit. Dabei kostet er genüsslich jeden Abschnitt, jede Donauschleife aus, wenn er mit Zug, Auto oder Schiff – oder nur in seiner Vorstellung reist. Den Leser überschüttet er mit einer Flutwelle voller Geschichten und Histörchen, voller Legenden und Schnurren, gespickt mit eigenen und Fremdzitaten. Er hat dabei Bibliotheken und die dazugehörigen Literaturen „durchgemacht“, die sich mit der wissenschaftlichen, technischen, landschaftlichen, geschichtlichen und belletristischen Seite der Donau befassen. Wir erfahren (fast) alles über Fischzucht und Fischgründe, über gutes und weniger gutes, landestypisches Essen, über Land und Leute – und über seine eigenen Gedanken zur Donau, der Schlagader Mitteleuropas. Von zwei großen Reisen erzählt er, Reisen, die sich kreuzen und tatsächlich wie Flussläufe mäandern, sich miteinander schlängeln, parallel laufen, im Fluss der Erzählung und der Zeit Inseln bilden, Strudel und Schleifen. Wir folgen dem Lauf der Donau, verbunden mit der erlebten Geschichte an ihren Ufern. Sie ist der führende Fluss Mitteleuropas, vom Schwarzwald bis zum Schwarzen Meer. Heine sah den Rhein als den Fluss der Deutschen an, Esterházy die Donau als das Ganze, die Form, das kulturelle Brückensymbol, das allerdings nicht immer funktioniert. Die Donau ist das Sinnbild des kollektiven Gedächtnisses, die Verbindung zwischen Ulm, Wien, Budapest und Belgrad, und seiner eigenen Verbindung, wenn der Autor zwischen diesen Städten auf der Donau reist. Sie ist die Vermittlerin zwischen Ost und West, das seit dem 2. Weltkrieg keine gemeinsame Geschichte hatte. Sie ist die Klammer der Zusammengehörigkeit zwischen den „Nachbarn“, die sich viel zu gut kennen und sich gerade deshalb so „fremd“ sind, dass andauernd Streit zwischen ihnen ausbricht. Die Wahrheit über die Donauvölker, über Mitteleuropa ist die: „Alkohol und Hass gegen die Sowjetunion hielten sie zusammen“. Die Völker sind Nachbarn – und damit auch Nachbarn der Sowjetunion. Sie brüsten sich damit, dass sie schwere Jahre erlebt haben, Leid und Erniedrigung sind zu einer „Art Anstecknadel“ des „Dennoch“-Sieges geworden. Alles was vorher war, war besser, Nostalgie und verlorene Jugend beherrschen die Erzählungen der Menschen.
1963, als Dreizehjähriger, Murkel genannt, macht er mit seinem sagenhaften Onkel Roberto, der irgendwie in die Familie hineingeraten ist und vor allem von der weiblichen Verwandtschaft angehimmelt wird – Murkel „betet ihn an“ – eine Donaureise von Wien nach Donaueschingen und von dort „Donau abwärts“ wieder zurück, wo Roberto verschwindet, plötzlich nicht mehr existiert. Erst 27 Jahre später, bei seiner zweiten großen Donaureise, erfährt E., was es mit Roberto auf sich hatte.
Die Erzählung fließt zwischen den Reisen hin und her, vom Staunen des dreizehnjährigen Murkel, als er zum ersten Mal nach Wien kommt, sofort als Ost-Ausländer erkannt und dort standesgemäß eingekleidet wird – und als „Reisender“ später wieder in Wien, das keine Donaustadt ist, sondern ein Donaufriedhof. – Wien, wo die Zeit stehen zu bleiben scheint und doch alles verändert ist: „Ich bin in einem sehr komplizierten Sinn heimatlos geworden“ (Werfel: „Einst war hier meine Welt, mit der ich eigentümlich verbunden war….“).
Als Erwachsener will „Reisender (Mietling)“ den Lauf der Donau abfahren, was aber nur selten gelingt; denn die Straßen kreuzen, d.h. „überfahren“ die Donau. Er kommt ins Sinnieren, als er am Zusammenfluss von Brigach und Breg Blätter ins Wasser wirft: „Da begriff ich, dass ich von diesem Fluss alles bekommen würde, Auskunft über Berge und Wasser, Geschichte, Volkskunde, Fremdenverkehr samt Anekdoten, Hoffnungen und Toten, alles würde da sein, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Hochwasser und Dürre, Stromwirbel und Fischsuppe, und Menschen würden sein …“ Und diese „Donauauskünfte“ teilt „Reisender“ mit uns: „Reisender“ wurde nämlich angemietet, um für „Auftraggeber (Mieter)“ in seinem Namen eine Reise zu unternehmen und alles darüber aufzuschreiben. Wir, die Leser könnten uns auch als diese Auftraggeber sehen; denn wir erfahren alles über die Donau, auch das, was an „Don Au“ (Schmerzensdonau)- geschah, als KZ-Häftlinge in Mauthausen ermordet, die Wachau 1683 mit Hilfe des Polenkönigs Sobieski von den Türken befreit wurde, Juden 1944 in die Donau geschossen, Menschen vom Geheimdienst gequält wurden.
Während P.E. seine Donaureise aufs Papier bringt, „geschieht“ die „Wende“, der blutige Aufstand in Rumänien (Weihnachten 1989): „…ich muss immer wieder gegen meinen Hass ankämpfen…. Ich konnte doch nicht denken, dass alles, was geschieht, auch mir gilt“…
Einige Städte haben sich in sein Gedächtnis gegraben: z. B. Das „Herz“ der Donau, das „nette“ Ulm, in dem schon historisch berühmte Persönlichkeiten abgestiegen oder gar dort gewohnt haben: Der kleine Mozart auf einer Reise, Einstein ist dort geboren, der Astronom Kepler flüchtete sich in Geldnöten nach Ulm, die Geschwister Scholl verbrachten dort Kindheit und Jugend, General Rommel wurde dort scheinheilig aufgebahrt.
Und Wien: „In Wien denkt die Donau zum ersten Mal an das Schwarze Meer …- kein Vorwärts, kein Rückwärts…“
„Reisender“ kommt auch nach Budapest, seiner Heimatstadt, zu der er ein ambivalentes Gefühl hat: „… immer beschleicht mich ein Zweifeln und Bezweifeln, das ich zwar sorgsam vom Verzweifeln unterscheide, doch ändert das nichts an meiner fast schon rituellen Hilflosigkeit“. Der Erzähler überschreibt das ganze große Budapest-Kapitel mit Überschriften aus Italo Calvinos „Die unsichtbaren Städte“, setzt dafür den Namen Budapest ein, kommentiert, führt den Text weiter, begeht die Stadt wie ein Ausländer, wie ein Tourist. Dabei denkt er als Einheimischer natürlich auch der 70er Jahre, als den Touristen Restaurantgutscheine ausgehändigt wurden, als während des Kádár-Regimes in der Andrássy-Straße die Behörde für Staatsschutz residierte, Häftlinge gefoltert und zu Aussagen gezwungen wurden. Hier erfährt er endlich vom Doppelleben Robertos als Spitzel des Geheimdienstes.
In Belgrad gedenkt er seines viel zu früh verstorbenen Freundes Danilo Kiš, „dem einzigen wirklichen Jugoslawen, den er kennt, der Existenzbeweis, dass die verschiedenen Völker einander nicht nur zu morden, sondern auch zu bereichern verstehen. Dieser Reichtum war Danilo Kiš“.
Ab hier reist Esterházy wohl meist virtuell anhand von Geschichten, die er in sich aufsaugt, von Literatur, die er um-erzählt, rastlos jeden Abschnitt beleuchtend, sich hineinschreibt in diese Geschichten, auch in die Historie, in die Landschaft, die Geografie: „Mittlerweile kam ich mit diesem Buch gut voran, …nun konnte die Arme Donau folgen … und ich hatte mir das Sammeln weiterer Erfahrungen ohnehin bereits aus dem Kopf geschlagen …ich hatte auch die Bibliotheken erledigt, die Donau-Bücher gelesen…“
E. erzählt von Freunden in Rumänien, die Anfang der 50er Jahre nach Feteşti verbannt worden waren. Mit ihnen will er sich treffen und erschrickt über die bisher unvorstellbar geglaubte Armut: Das Fehlen von ALLEM. Diese Erfahrung deckt sich mit seiner eigenen Wahrnehmung, dass in seinem eigenen Land Ungarn viel gejammert wird, das Schicksal ihm besonders schlimm mitgespielt habe, die Anderen immer schuld sind, und Ungarn in seiner Entwicklung behinderten. Dabei ist das, nach Meinung des Autors, ein „europäisches Durchschnittsschicksal. „Länder verschwanden, wurden verschoben“.
Selbst für ihn als „sozialistischem Menschentyp“ hat das postkommunistische Rumänien noch Überraschungen parat: Hier ist der Portier der Herr „über Leben und Tod“, von seiner MACHT und seinem Wohlwollen hängt es ab, ob die Reisenden doch noch ein Zimmer bekommen, zu völlig überhöhten Preisen, versteht sich. Hier geht die Zeit einfach anders, die Menschen ticken anders.
Die weitere Reise bis zum Delta legt „Reisender“ dann als Schriftsteller zurück, als Dichter, der uns die tollsten und anrührendsten Geschichten erzählt von einer Donau, die das Herz Europas ist.

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