Rezension: Schendel, Andreas – „Virág oder Wenn die Welt verrutscht“

Jugendroman
Berlin Verlag, 2010; ISBN: 978-3-8270-5383-1
Bezug: Buchhandel, Preis: Euro 12.00

Virág (dt. Blume) heißt die 10-jährige Protagonistin in Andreas Schendels neuem Jugendroman. In vielen Dingen unterscheidet sich Virágs Verhalten nicht von dem anderer Mädchen in ihrem Alter: Das Verliebtsein in einen Lehrer, der Ablauf ihrer Geburtstagsfeier, ihre Vorliebe, Fische im Aquarium zu betrachten oder aber, mit ihrer Großmutter in Budapest zu telefonieren.
Virág hat jedoch ein Problem: Gelegentlich beginnt ihre Welt zu verrutschen und Virág verliert ihre Stabilität. Dies geschieht vornehmlich dann, wenn ihre Eltern sich streiten; und das kommt nicht selten vor. Streitpotential ist durchaus vorhanden; Virágs Vater ist bereits seit Jahren arbeitslos und hat überdies ein Alkoholproblem. Das häufige Weinen der Mutter bleibt Virág nicht verborgen. Und die Feststellung ihrer Freundin Bilge, dass die Betten in Virágs Elternschlafzimmer weit auseinander geschoben sind, lässt auch den Leser erkennen, dass die Ehe von Virágs Eltern nicht eben optimal verläuft.
Wenn Virágs Welt verrutscht, glitzern die Dinge um Virág herum weniger, das Lächeln des Vaters am Frühstückstisch glänzt nicht mehr und schlimmer noch: sie selbst beginnt zu zittern und ebenso viele Dinge um sie herum – wie beispielsweise die Garage, die Betonplatte vom Gehweg, Autos, Straßen, oder die Wolken am Himmel.
Um diesem Verrutschen standzuhalten, sucht Virág die Nähe ihr liebgewonnener Menschen, insbesondere ihrer Freundin Bilge. Das geht jedoch an einem Tag soweit, dass sie sich während der Schulzeit körperlich so fest an Bilge klammert, dass letztere nur vom Schulhausmeister wieder befreit werden kann. Virág wird nach diesem Ereignis in die psychiatrische Kinderabteilung des Krankenhauses gebracht. Dort erhält sie Medikamente, deren Einnahme ihre Gefühle ganz müde machen. Generell mag sie die Auswirkungen dieser Medikamente nicht – folglich unterlässt sie die Einnahme. Dann hört die Müdigkeit auf und die Gefühle ‚Böse sein‘ und ‚Lieb haben‘ sind wieder viel stärker zu spüren. So drängt es sie auch nach dem nächsten Streit der Eltern besonders intensiv danach, eine Lösung zu finden, damit ihre Welt wieder Ordnung gewinnt. Diese Lösung entdeckt sie im Religionsunterricht, als sie den Song ‚Ring the Bells‘ von Bob Dylan hört: Sie muss auf ihre Weise ‚die Glocken läuten‘, Aufmerksamkeit wecken – Virág muss laut schreien! Das tut sie; anschließend findet sie sich erneut in der Kinderpsychiatrie wieder und nichts interessiert sie zunächst mehr als die Antwort auf die Frage: „Hab ich genug geschrien?“

Virág leidet offensichtlich unter einer psychosomatischen Störung, die von einer konfliktreichen Familiensituation ausgelöst wird. Aber: Virág leidet eben nicht nur, sondern sie erfährt auch viele schöne Momente und die durchaus liebevolle Zuwendung ihrer Eltern. Ihr Vater spielt Schach mit ihr, sieht ‚heimlich‘ mit ihr die Simpsons. die Mutter organisiert eine echte ungarische ‚házi buli‘ zu ihrem 11. Geburtstag. Oder ihr Vater bringt Virág den von der Großmutter besprochenen Anrufbeantworter bei einem seiner Besuche in der Kinderpsychiatrie mit, so dass Virág ihre Stimme hören kann.
Das Besondere an Virágs Geschichte ist die Tatsache, dass Virágs Lebensumstände eigentlich nicht extremer sind als in vielen anderen realen Familien auch. Während einige Kinder und Jugendliche ihr Lebensumfeld verhältnismässig unbeschadet erleben, führt es bei manchen jedoch zunehmend zu psychosomatischen Störungen. Virág steht mit ihrem Problem gegenwärtig absolut nicht allein.
Auffällig ist Virágs intensive Empfindung für Missstände. Intuitiv spürt sie diese auf, empfindet so beispielsweise Mitleid mit dem gekreuzigten Jesus, aber auch mit dem von ihr geliebten kleinen Mutterheimatland Ungarn. Besonders sensibel nimmt sie die Unstimmigkeiten in der Ehe ihrer Eltern auf und fühlt sich zuständig für die Beseitigung dieser. Damit bürdet sie sich eine große Verantwortung auf, der sie nicht gewachsen sein kann. War sie selber immer der Ansicht, dass Kinder brav sein müssen, wenn die Eltern Probleme haben, so muss sie schließlich während des Aufenthalts in der Kinderpsychiatrie von ihrer Ärztin erfahren, dass es auch umgekehrt sein kann und Eltern eben für ihre Kinder da sein sollten. Und so allmählich beginnt Virág nach einigen psychotherapeutischen “Quasselstunden” zu ahnen, dass „das Leben für alle Leute so schwierig ist“ und vor allem, dass sie nicht von heute auf morgen gesund werden kann. Das Ende bleibt offen; alles andere wäre auch für den Leser wenig nachvollziehbar. Vielleicht gelingt es Virág zukünftig, Lebensperspektiven zu erkennen, in denen sie nicht allein ist – selbst wenn sie sich weiterhin „manchmal nichts mehr als eine enge Zwillingsschwester wünscht, eine zweite Virág, die der ersten von Zeit zu Zeit das Virag-sein abnimmt.“
„Virág oder Wenn die Welt verrutscht“ ist ein leiser Jugendroman. Andreas Schendel vermittelt in rhythmischen und kurzen Sätzen sprachlich einfühlsam die Lebenssituation Virágs.
Die Neigung des Autors zum Land Ungarn und der ungarischen Sprache bleiben dem Leser dabei nicht verborgen. Virágs Mutter stammt aus Ungarn und hat ihrer Tochter den Vornamen gegeben, der in ihrer Familiengeschichte nicht ohne Tradition ist – „Virágs Stammbaum ist so ein halber Blumenstrauß.” Während Virágs Vater die ungarische Sprache nie erlernte, wächst Virág zweisprachig auf und erwirbt so die ihrer Ansicht nach “bessere Sprache, wenn man zu Pflanzen oder Tieren spricht”, da diese sanfter ist.
So finden sich immer wieder ungarische ‚Sprachtupfer‘ in dem Text – einzelne Wörter wie der von der Mutter an Virág vergebene Kosename ‚Bogárkám‘ (dt. Mein Käfer) oder ihr Ausruf ‚Jóságos istenem‘ (dt. Mein guter Gott), als die 150 Liter Süsswasser aus dem Aquarium auf dem Fussboden landen. Virágs eigene Gefühle sind oft auf Ungarisch, beispielsweise wenn ihr während des Krankenhausaufenthaltes die Freundin Bilge fehlt und sie dieses Fehlen nur mit dem ungarischen Wort ‚Hiányzól‘ – „Das ist irgendwo zwischen ‚Du fehlst mir‘ und ‚Ich vermisse Dich'“ – ausdrücken kann.
Insofern wird auch die Zweisprachigkeit zu einem Thema in diesem Roman, mittels derer Virág eine andere Einsicht in die Familienverhältnisse erhält: Sie begreift, dass es vieles gibt, was die Mutter auf Deutsch nicht sagen kann und dass diese auch deshalb weinen muss. Nicht zuletzt trägt die Tatsache, dass der Vater eben kein Ungarisch kann, zu einer Art Ausschluss aus der Familie bei.
Neben der sprachlichen Sensibilität besticht an dem Buch zudem ein Detail in der äußerlichen Aufmachung: Vor jedem Kapitel findet sich ein Foto von einer Polaroid-Kamera – das sind die von Virág als ‚Bildkinder‘ bezeichneten Aufnahmen, die verschiedene Augenblicke aus ihrem Leben festhalten.

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