Rezension: László Krasznahorkai: Baron Wenckheims Rückkehr

Roman
Aus dem Ungarischen von Christina Viragh
Verlag: S. Fischer Frankfurt/Main, 2018, 496 Seiten
ISBN: 978-3-10-002237-0
Originaltitel: Báró Wenckheim hazatér, 2016
Bezug: Buchhandel, Preis: 25,00 Euro

von Gudrun Brzoska

Wieder einmal besticht Krasznahorkai durch seine brillante Sprache, die sich in ellenlangen Sätzen manchmal über ganze Seiten hinzieht. Mäandernd wie ein Fluss, oder wie der Rhythmus eines langen Musikstücks: einmal atemlos, dann wieder in Kehrtwendungen, alle Seitenthemen auskostend, was auch die einzelnen Kapitelüberschriften TRRR, RAM, PAM usf. nahelegen. Christina Viragh hat den Roman meisterhaft übersetzt und lässt uns von Neuem die Schönheit der ungarischen Sprache erleben.

Unzählige Protagonisten, ja eine ganze Kleinstadt – unschwer als die Geburtsstadt des Autors zu erkennen – bevölkern den neuen Roman des preisgekrönten Schriftstellers. Natürlich ist „Gyula“ nicht Gyula, das hübsche Städtchen an der ungarisch-rumänischen Grenze mit seinem beispielhaft renovierten Almásy-Schloss, vielmehr steht es als Metapher für alle Provinzstädte der Welt, heruntergekommen, mit unfähigen, korrupten Politikern, die nur darauf warten, dass das „Heil“ von außen kommt, dass etwas geschieht, ohne dass sie sich selbst anstrengen müssen.

Noch vor Beginn der eigentlichen Geschichte steht eine „Warnung“, steht ein Dirigent vor einem eingeschüchterten Orchester, führt sich mit seinem Apfel in der Hand auf, wie ein misslauniger Gott, dem nichts entgeht, der keine Freude an seinen Geschöpfen hat, der das Ende der Geschichte so schnell wie möglich hinter sich bringen will. Das Orchester hat nur seinen Anordnungen zu folgen, jeder für sich, ohne dass ihn das Ganze zu interessieren hat. Freude werde es keine geben, nur harte Arbeit.

Was hier so zynisch beginnt, schaukelt sich im Laufe des Romans zu einer wahren Apokalypse auf.

Eigentlich ein lächerlicher Plot, den Krasznahorkai ironisch, sarkastisch und satirisch auf fast 500 Seiten ausbreitet: Ein Baron kehrt in seine Heimatstadt zurück. Das Boulevardblatt „Blikk“ stellt Überlegungen an über seinen enormen Reichtum, den er in Argentinien erworben haben soll – obwohl bereits durchgesickert ist – aber ignoriert wird – dass er, ein Spieler, dem Gefängnis drohte, von seiner Familie nach Wien geholt wurde, um den adeligen Namen nicht in Skandale zu verwickeln. In der verklärenden Erinnerung von Stadtverwaltung und Bürgerschaft bedeutet dieser Besuch aber, die hoffnungslose Wirklichkeit in eine Zeit zurückzudrehen, in der die Aristokratie noch für ihre Untertanen gesorgt hat. Die kleine Stadt ist völlig aus dem Häuschen, als sich diese Nachricht verbreitet, selbst wenn es das Ende der Demokratie bedeutete. Der Bürgermeister gibt die Parole an die Reporter aus: „bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass ab heute er der Herr im Haus ist, und daneben ist vollkommen egal, was sie denken und zusammenkritzeln, denn für den Fall, dass Sie nicht die Wahrheit schreiben, also nicht das, was hier gesagt wurde, können Sie und ihre Zeitungen sehen, wo Sie bleiben, denn das hier ist, dem Himmel sei Dank, keine „Demokratie“ mehr, von jetzt an, das hier ist ein Besitztum, dessen Herr nach so vielen Jahrzehnten endlich wiedergekommen ist.“ Doch der Baron, elegant eingekleidet von seiner Wiener Verwandtschaft („Kleider machen Leute“) möchte nur noch einmal seine ungarische Heimat wiedersehen, die er vor 46 Jahren verlassen musste und vor allem seine Jugendliebe Marika, die in seiner Erinnerung zu Marietta wurde.

Ein läppisches, groteskes Programm wird zu seinem Empfang zusammengestellt, eine karnevaleske Szene: ein Meer ungarischer Fahnen, ein von Huplärm der „Ortswache“ übertönter Frauenchor, der das Wort „Argentinien“ kaum aussprechen kann. Reden werden gehalten, die unüberhörbar peinlich finanzielle Forderungen an den Baron stellen – eine veritable Kakophonie. Dazu sollen Spiele wie „Kinderwagenrennen“, „brüllend Niesenwettbewerb“ usw. zu seinem Ergötzen abgehalten werden.

Doch der Baron möchte gar nicht aus dem Zug aussteigen – entsetzt zieht er sich aus diesem Ungarn zurück.

Vergnüglich, wie Krasznahorkai den Grenzübergang schildert: Ein Ungar reist nach Ungarn ein, hat aber einen Pass aus Argentinien. Der Beamte hatte allerdings bereits im „Blikk“ über ihn gelesen und wartet nun mit der sprichwörtlichen ungarischen Gastfreundschaft auf: Essen muss man unbedingt – und fährt allerhand vor ihm auf, was nicht angerührt wird. Der Baron bezahlt trotzdem großzügig mit einem 100 Euro-Schein, den der Schaffner einsteckt. Krasznahorkai malt genüsslich aus, wie unbeholfen sich der Baron hier bewegt – er kommt ja buchstäblich aus einer anderen Welt – und dass er gar nicht versteht, wie er in das alles hineingeraten war.

Er ist eher ein unschuldiger Don Quichote, der teilnahmslos und staunend das Ganze über sich ergehen lässt, ist nicht der erwartete Heilsbringer, der Wohltäter der Gemeinde. Er ist ein armer Habenichts, der nur seine guten Kleider besitzt und sonst nichts. Als das endlich allen klar wird – nach seinem Tod – lässt ihn die Stadt mit Schimpf und Schande fallen, alle Reden und Fotos müssen im Reißwolf verschwinden, niemand will mit ihm in Berührung gekommen sein. Ohne Trauerzug wird er in ein Armengrab verfrachtet.

Es gibt noch einen zweiten Erzählstrang, der nur lose verbunden ist mit dem des Barons: Gleich zu Anfang konfrontiert er nämlich den Leser mit einem Professor, einem angesehenen Moosspezialisten, der sich, den Anforderungen der Gesellschaft müde, aus dem Leben der Stadt zurückgezogen hat in die Wildnis. Er will einfach nur seine Ruhe haben und denken. Zwei Stunden am Tag verbringt er mit „Gedankenentleerungsübungen“. Die Einwohner verehren zwar den schrulligen Mann, als berühmten Bürger des Städtchens, aber niemand darf ihm zu nahe kommen, außer seiner ehemaligen Haushälterin, die ihm immer wieder ihre Fürsorge aufzwingt. Wir sehen und hören seine bis dato verleugnete 19jährige Tochter vor seiner Hütte aufkreuzen mit einem ganzen Schwarm sensationslüsterner Medien, die ihn solange provoziert, bis er die Meute mit Gewehrschüssen in die Luft vertreibt.

Es kommt zur ersten Katastrophe, als er in Notwehr einen der Neonazis der „Ortswache“ erschießt. Diese Motorrad-Gang geht dem korrupten Polizeihauptmann zur Hand, bildet sich ein, mit Terror, Gewalt, Folter und Menschenjagd der „reinen Idee“ zu dienen um ein „Neues Ungarn“ zu erschaffen.

Der Roman ist so mehrstimmig wie die Wirklichkeit und setzt sich aus vielen Einzelteilen zusammen: in jedem Abschnitt sehen wir das Geschehen aus der Sicht eines anderen. Text und Stil passen sich dem jeweiligen Redner an, der die Situation aus seiner Sicht schildert. Häufig hört niemand richtig zu. Die Leute leben nebeneinander her ohne Empathie, nur auf sich selbst konzentriert. Krasznahorkai versteht seine Protagonisten ohne zu moralisieren und zeigt sie so, wie sie sind. Er ist ja einer von ihnen, wie aus dem späteren anonymen Pamphlet hervorgeht.

Alle Nachrichten unserer Zeit greift er auf: die Neonazis, den Nationalismus mit übersteigertem Heimatbegriff, die Flüchtlingssituation, die Armut, das Romaproblem, einen sensationslüsternen Journalismus, Fake-News, Demonstrationen, sogar Papst Franziskus, dem der Baron in Buenos Aires begegnete, als dieser dort noch Bischof war.

Alles geschieht gleichzeitig wie auf einer riesigen Leinwand, die vor dem Leser aufscheint:

Gleichzeitig erfahren wir, erfährt die Stadt, dass Baron Wenckheim, dessen Familie früher im Ort gelebt hat, zurückkommt. Er möchte in seiner Geburtsstadt noch einmal am Ufer des Körös unter den Trauerweiden spazieren gehen, die alten Plätze besuchen. Der überforderte Bürgermeister, der Assoziation an den Bürgermeister in der Oper „Zar und Zimmermann“ weckt, fährt mit ihm in einer eigens für ihn aufgemotzten Kutsche durch die Stadt. Eine illusorische Welt: Der Baron erkennt die Landschaft, die Schauplätze seiner Jugend nicht mehr, sie sind ein Abklatsch seiner Erinnerung und haben für ihn mit der Realität nichts zu tun. Hoffnung und Wünsche vernebeln den klaren Blick aller Beteiligten für die Realitäten:

 „Die Stadt war so klein und so dunkel und die Straßen so eng, die Häuser so geduckt und so verlottert und der Himmel über ihnen so tief, dass er am liebsten gesagt hätte, das ist nicht dieselbe Stadt, aber er musste doch zugeben, dass es sie war, die Stadt, aber auch irgendwie eine Kopie, die nur ans Original erinnerte, wenn auch haargenau….“ Auch seine Jugendliebe, deren verblasstes Foto er immer bei sich trägt, erkennt er nicht. In seiner Erinnerung ist sie das hübsche junge Mädchen geblieben – und nicht alt geworden, wie er selber. Sie allerdings ist am Boden zerstört, weil er in ihr eine fremde Frau sieht. Erst Stunden vor seinem eigenen Ende versteht er, womit er sie so beleidigt hatte. Marika „ging“ zwar damals eine Weile mit dem überaus schüchternen Jungen, doch erst seine beiden jüngsten Briefe und die ganze aufgeheizte Stimmung erinnern sie wieder an ihn, an seine damaligen Briefe, seine schöne Schrift. Romantisch steigert sie sich in diese Erinnerung hinein, so dass sie am Ende selbst an eine Liebesgeschichte glaubt. Nur wenige, z.B. Marikas Freundin Irén, denken da rationeller. Sie hat erfasst, dass Wenckheim nur Marikas wegen kommt, und nicht, um hier irgendetwas zu bewirken, schon gar nicht mit Geld.

Gleichzeitig muss der Professor die Flucht ergreifen – dass sie ihm gelungen scheint, geht aus späteren Andeutungen hervor, als sein Mantel in der Hauptstadt gesichtet wird, wie der Träger des bekannten Kleidungsstücks einer Rednerin bei einer Demonstration lauscht, die wohl seine Tochter ist.

Gleichzeitig macht die Motorradgang gewalttätig, dumpf und dumm Jagd auf den Professor, gleichzeitig demonstriert der Polizeihauptmann seine Macht im Städtchen, gleichzeitig versucht ein Kleinkrimineller, der sich bereits im Zug an den Baron herangemacht und sich als sein Sekretär angedient hatte, an den „Schatz“ des Heimgekehrten zu kommen, gleichzeitig rauscht ein Konvoi aus schwarzen Limousinen durch die Straßen, von dem niemand weiß woher er kommt und wohin er fährt, „die Angst fuhr durch die Stadt“. Gleichzeitig bleibt die Zeit stehen, gleichzeitig wird der Neonazi, genannt „Herzchen“, von seiner Bruderschaft würdevoll beerdigt – eine Persiflage auf das pomphafte Auftreten der Rocker – und gleichzeitig wird der tote Baron in ein Armengrab verfrachtet.

Ein Netz scheint sich zusammen zu ziehen, alles deutet auf Horror und Katastrophe hin, alle wollen nur noch Geld verdienen, egal wie, Geld ausgeben für eigene Angelegenheiten, ein Lebenssinn ist ihnen abhanden gekommen, die Anarchie beginnt.

Und immer wird gewartet: auf den Baron, darauf, dass sich etwas tut, darauf, dass alles besser wird, darauf, dass bestimmt wird, was getan werden soll. Ein „Deus ex machina“ wird verlangt, ein Erlöser, der alles zum Besseren wendet. Doch dieser „Deus ex machina“ wird ganz anders auftreten, als sich das Volk erhofft.

Die inneren Monologe des Professors auf der Flucht, sowie des Barons in seinen letzten Stunden, kreisen um die Fragen von Leben und Tod und einem Sinn im Leben. Der Professor zitiert Attila József, „dass die Angst das Wesen der Existenz ist“. Und später: „dass die ungeheure Kraft der Angst die Kultur hervorbringt…“. Angst ist das Motiv, das sich durch das ganze Buch zieht.

Tragisch ist dann der Tod des Barons; denn in dem Augenblick, in dem er einen Sinn in seinem Leben entdeckt, nämlich seine Schuld zu tilgen, seine Jugendliebe Marika um Verzeihung zu bitten, da er sie so sehr beleidigt hatte, vergisst er alle Vorsicht und wird von einem Zug überfahren, der um diese Zeit hätte gar nicht fahren dürfen.

Danach läuft in jedem Abschnitt der Film sozusagen rückwärts: Alle Personen, die sich in den ersten Kapiteln nicht genug tun konnten, den Baron zu empfangen und um ihn herumzuscharwenzeln, versuchen auf Anfang zurückzudrehen, ihr Benehmen als nicht geschehen zu betrachten, die paar Tage einfach auszuradieren.

Nach dem Tod des Barons gibt es kein Glück und keine Hoffnung mehr, die Katastrophe kündigt sich an durch nicht zu deutende Zeichen, wie Vergewaltigungen und Morde, wie Kälte, Regen, Sturm. Ein anonymes Pamphlet „An die Ungarn“ taucht auf. Der Artikel offenbart die finstere Verschlagenheit des Stadtlebens, um Überheblichkeit, Faulheit, Korruption und die Fäden, die zwischen der „Macht“ laufen.

Als es ums Publizieren geht, bricht eine heftige Diskussion aus zwischen dem Bürgermeister, der von sich selbst behauptet, die Inkarnation der Pressefreiheit zu sein und dem Chefredakteur der oppositionellen Presse. Allerdings, während der Chefredakteur die Pressefreiheit in Hinsicht auf das Publizieren des Textes verteidigt und sich mächtig ins Zeug legt, der Bürgermeister die Stadt sauber halten will von solch einer Schmiererei, ist der Zeitungsmann einige Seiten später weit davon entfernt, seinen Mitarbeitern Redefreiheit zu gewähren und organisiert „wie üblich ein abschreckendes Treffen“. Jeder ist hinterlistig, abschreckend, aggressiv und dumm in dieser Nach-Wende.

Sogar Übersinnliches dringt in die Welt der Kleinstädter: ein unübersehbares Heer von Tanklastern verstopft Straßen und Plätze, der Konvoi rauscht ein zweites Mal durch die Stadt, die Zeit bleibt stehen, Kröten bedecken die Straßen, alle sind gelähmt von einer unerklärlichen Angst, was Vergleiche mit den „ägyptischen Plagen“ weckt.

Die Apokalypse nimmt ihren Lauf, doch niemand rührt sich, jeder versucht sich vor dem Unausweichlichen zu verstecken. Der Ort scheint abgeschlossen von der Welt, unerreichbar. Tragisch ist, dass keine Katharsis stattfindet, aus der etwas Neues hätte entstehen können, aus dem verbrannten Land werden keine neuen Blüten wachsen. Es gibt nur noch Asche und fertig, wie das Ende des Romans suggeriert, wo anstatt des Inhaltsverzeichnisses eine „Tanzkarte“ aufgeführt ist: „da capo al fine“. Nur diejenigen, die reinen Herzens sind, kommen davon.

Der Roman ist nicht einfach zu lesen und verlangt dem Leser einige Anstrengung ab. Doch schnell wird er hineingezogen in diese ganz eigentümliche Stimmung, in diese Literatur mäandrierender Monologe, in diesen Fluss und Rhythmus. Nicht alles muss und kann man verstehen – das Buch ist trotzdem unterhaltsam und erlaubt einen Blick auf unsere ganze sinnarme und verrückte Welt – nicht nur in Ungarn.

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