Rezension: László Márton: Die Überwindlichen. Mit Holzschnitten von Christian Thanhäuser

Roman
Verlag Edition Thanhäuser Ottensheim (Österreich) 2018
ISBN: 978-3-900986-92-6
Original auf Deutsch, gleichzeitig auf Ungarisch: Két obeliszk
Bezug: Buchhandel Preis: 28 Euro

von Gudrun Brzoska

Ein höchst anregender, dabei überaus vielschichtiger Roman liegt vor mir: Die unerfüllte Liebesgeschichte zwischen dem gefürchteten Satiriker, Essayist, Verleger und Herausgeber Karl K., und der Baronesse Sidonie N., hier Sidi N., deren Familie noch nicht lange in den Adelsstand erhoben worden war.
Die Assoziationen zu Karl Kraus und Sidonie von Nádherný zu Borutín, kommen nicht von ungefähr. Wahres und Erdachtes, Fiktion und Wirklichkeit mischen sich zu einem engen Geflecht. Mal ist der Protagonist „nur“ Karl K., mal nimmt er die authentischen Züge von Karl Kraus an und einen Teil von dessen Biografie. Dann wieder verwandelt er sich zurück in Karl K.. Márton versteht es meisterhaft viele Geschichten in der (historischen) Geschichte unterzubringen und damit ein farbiges Gemälde der Zeit vor und nach dem 1. Weltkrieg zu zeichnen. Er webt gleichsam eine dicht-bewegte Kulisse, vor der – wie in einem Theater – die Protagonisten agieren.
Der Roman zeigt die Diskrepanz zwischen einem tatkräftigen damals 39jährigen – und zwanzig Jahre später desillusionierten, lethargischen alten Mann:
Damals hatte er jede sprachliche Schlamperei auf die spitze Feder genommen, „die historischen Katastrophen von den Schlampereien und Salopperien der Presseformulierungen ab[ge]leitet, indem er die These entwickelte, derzufolge ein fehlendes Komma in einer Tageszeitung einen Krieg in der Wirklichkeit entfesseln kann“. Er ist ein Mann gewesen, der leidenschaftlich gegen einen drohenden Krieg argumentiert hatte, ein Großstadtmensch, der in einer naturnahen Idylle Zuflucht suchte, und der sich – als 60jähriger – nicht einmal mehr aufraffen kann, in seiner Zeitschrift rhetorisch etwas gegen Hitler zu unternehmen: „Zu Hitler fällt mir nichts ein“. Dieser Mann sucht noch einmal die Herausforderung mit der Natur, diesmal mit der „Hölle“, dem Berg Tödi in der Schweiz.
Seine Geliebte, elf Jahre jünger, schwankte damals noch unsicher zwischen den Konventionen, die ihr der gesellschaftliche Rang auferlegte und einem Freiheitsstreben, das ihr ein unabhängiges Leben ermöglichen sollte, sie ist inzwischen eine reife Frau, die nach einer gescheiterten kurzen Ehe in der Weltgeschichte herumreiste und nach der Enteignung ihres Gutes in finanziellen Nöten steckt…
Beide lernen sich 1913 zufällig im Café Imperial in Wien kennen; Karl K. ist sofort von ihr hingerissen und verliebt sich unsterblich. Sidonie N. ist fasziniert von dem geistreichen und gebildeten Mann, der mit seiner – eher konservativen – Meinung nicht hinter dem Berg hält.
Neun Monate später wird er endlich nach Schloss Janowitz (Janovice) eingeladen, welches für ihn – vor allem der Schlosspark – und damit beginnt auch der Roman – zum verklärten Paradies werden soll. Wien ist die Hölle! Hier aber sitzt er an einem ovalen Steintisch, lässt sich inmitten von immer wieder dementierten Vorbereitungen auf den 1. Weltkrieg von einem Schmetterling ablenken und beginnt nicht nur sein bis heute geschätztes Drama Der Weltuntergang (=„Die letzten Tage der Menschheit“), sondern auch romantische Gedichte zu schreiben.
In diesem Widerspruch zwischen seinem Leben und Auftreten als gefürchteter Kritiker, seinem Leben, welches in allerhand Prozesse in Wien verwickelt ist – und seinen wie ein Traum anmutenden Besuche in Janowitz siedelt Márton den Roman an.
Immer wieder muss man nachschauen, ob die abenteuerlichen Namen vom Autor erfunden, ob Begebenheiten von ihm ausgedacht sind, oder der Realität entsprechen. Hin- und her changierend überlappen sich Fantasie und Wirklichkeit: Flora und Fauna, die, wie in Grimms Märchen, sich mit den Menschen zu verstehen scheinen, Gestalten, die Márton umwandelt, einführt und seiner Sicht der Geschichte anpasst. Das ist alles recht vergnüglich zu lesen, zumal der Autor ein wunderschönes, farbiges, anmutiges Deutsch verwendet.
Ja, Márton hat diesen Roman auf Deutsch geschrieben, animiert von seinem Freund Christian Thanhäuser, Verleger und Graphiker, welcher sich, wie auch der Autor, schon seit Langem fasziniert mit Karl Kraus beschäftigte. Er sollte einmal eine ganz andere, kaum bekannte Seite des großen Satirikers und Zynikers zeigen, seine Liebe zur Baronin Sidonie Nádherný von Borutín. Jedes Kapitel wird mit einem floral-verschlungenen, an Labyrinthe erinnernden Holzschnitt eingeleitet. Márton bemerkt dazu, dass Holzschnitte und Roman gleichzeitig entstanden sind, ebenso gleichzeitig auch „Két obeliszk“ auf Ungarisch.
Der erste Teil des Romans beschreibt in großartigen Tableaus wunderbare Gegenden, Pflanzen und Tiere, Wasserfälle, Ausflüge in die Natur vor denen sich das Leben der Protagonisten abspielt: Die erste Begegnung der Beiden damals 1913 im Café Imperial in Wien, die Köstlichkeiten, die dort serviert wurden, die Persönlichkeiten, die dort ein- und ausgingen. Humorvoll werden die Familienverhältnisse der Baronesse Sidi ausgekramt, der „Eindringling“ Karl K., ein getaufter Jude, aber doch ein „Fremder“, wie ihn der Familienfreund Rilke warnend beschreibt, Karl K.s Stellung in der damaligen Gesellschaft (und hier nimmt er wieder ganz die Identität Karl Kraus‘ an) ausgebreitet, das heimliche Liebesverhältnis von Sidi N. und Karl K.. Nebenbei erfährt der Leser aus der Klatschpresse, was damals vor sich ging: Überall lauert schon der 1. Weltkrieg, Karl K. „wittert schon, wie nicht wenige seiner Zeitgenossen, dass irgendwann, früher oder später, aber jedenfalls in absehbarer Zeit ein großer Krieg, vergleichbar mit dem Dreißigjährigen, vom Zaun gebrochen wird, aber die Vermutung ist vorübergehend in Klammern gesetzt. Er mutmaßt, dass die letzten Tage der Menschheit ante portas stehen, augenblicklich will er aber die vorletzten genießen.“
Karl K. argumentiert leidenschaftlich gegen diesen drohenden Krieg, schreibt wichtige Kapitel zu seinem Antikriegsdrama Der Weltuntergang, möchte gar eine Audienz erwirken, als auf dem benachbarten Schloss der Deutsche Kaiser, der Ungarische König und der Thronfolger zur Jagd eintreffen, um ihnen mitzuteilen, dass „Diese Entwicklung – österreichisch-ungarische Okkupation, möglicherweise Annexion mit deutschem Rückhalt – würde einen großen Krieg, einen Weltkrieg verursachen, denn Rußland würde sich ganz gewiss an der Seite Serbiens einmischen, und England würde Deutschland angreifen. – Und das bedeutete das Ende der Menschheit.“ Natürlich wird Karl K’s. Brief nicht beantwortet, er wird nicht zur Audienz geladen.
Abrupt endet die Idylle, als Sidi ihrem Cousin Max Th., dem „Affenmax“, ihr Jawort zur Hochzeit gibt.
Die beiden Liebenden sehen sich noch einige wenige Male, setzen ihre Beziehung auch lose fort, aber von Heirat ist nicht mehr die Rede.
Der zweite Teil des Romans spielt zwanzig Jahre später: Ein Weltkrieg ist über die Menschheit hereingebrochen, ein Friede wurde geschlossen, der bereits einen weiteren Krieg in sich trägt, die Julirevolte in Österreich wurde blutig niedergeschossen (Karl K. forderte als Einziger den Polizeipräsidenten öffentlich zum Rücktritt auf), der deutsch-österreichische „Christliche Ständestaat“ funktioniert nicht mehr, die Machtübernahme der Nazis in Deutschland ist erfolgt. Kaiser und König sind tot, der Thronfolger erschossen, die ganze Zarenfamilie ermordet, auch Lenin, dem Schweizer Politiker mit Duldung des Deutschen Kaisers zur Durchfahrt nach Rußland verhalfen, ist gestorben, ebenso einige österreichische Bundeskanzler, ebenso mehrere Widersacher Karl K.s.. Auch seine Zeitschrift Der Reflektor wurde verboten, er selbst ist in Ungnade gefallen, obwohl sein Drama Der Weltuntergang stürmisch gefeiert worden war: „Er hatte den Weitblick zu erkennen, dass die Kriegspropaganda noch zerstörender wirkt als der Krieg selbst; den Mut, seine Erkenntnis vor die Öffentlichkeit zu tragen; das Talent, dazu eine suggestive sprachliche Form zu gestalten; und noch dazu das Glück, in einem Staat zu leben, wo er wegen seiner Tätigkeit zwar angegriffen und angepöbelt, aber weder verhaftet noch vernichtet wurde.“
Mit dem Weltkrieg, vor dem er so leidenschaftlich gewarnt hatte, mit dem Tod fast aller Protagonisten, ist für Karl K. vieles zerbrochen. Er ist enttäuscht, lethargisch und aller Illusionen beraubt.
Hier, bei seinem letzten Treffen mit Sidi, träumen beide vorausschauend von den künftigen Katastrophen: Sidi vom Tod des Geliebten und der „Überschwemmung“ mit Hakenkreuzen, Karl K. von der bevorstehenden Ermordung des Kanzlers Engelbert (Dollfuß), von dem er gehofft hatte, er werde Österreich vor Hitler retten.
Bei der Besteigung des Tödi, begleitet von den ehemaligen politischen Kontrahenten Robert G. und Arthur H., die im Roman zu Bergführern, Werwölfen und Lawinen mutieren, sucht Karl K. – es ist sein 60. Geburtstag – noch einmal die Konfrontation mit der Natur, mit der Hölle, mit der „Tödigottheit“ – und entrinnt ihr unbeschadet. Die drohende Lawine hat ihn verschont: „Die Lawine sieht jetzt aus wie ein Engel, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt“; wie ein apokalyptisches Schauen auf die Zukunft, auf den 2. Weltkrieg, wo sich Trümmer auf Trümmer häufen. Der Engel wird fortgetrieben während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.
Am nächsten Tag liest Karl K. in der Zeitung unter anderem, „dass der österreichische Bundeskanzler Engelbert D. gestern Nachmittag in seinem Kanzleramt am Wiener Ballhausplatz von unbekannten Tätern erschossen wurde; er starb drei Stunden nach dem ersten und dreißig Sekunden nach dem zweiten Schuss.“
Ein informatives Nachwort liefert Thomas Macho, der den Roman in den zeitgenössischen Rahmen stellt – und Karl Kraus vom glühenden Verehrer Elias Canetti beschreiben lässt.

 

 

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