Rezension: Christina Viragh: Eine dieser Nächte

Roman
Verlag Dörlemann Zürich, 2018
ISBN: 978-3-03820-056-7
Bezug: Buchhandel, Preis: 28 Euro

von Gudrun Brzoska


Zwölf Jahre ist es schon her, dass Christina Viragh ihre Leser mit einem Roman beschenkt hatte. Seit „Im April“ hat sie viel übersetzt, u.a. den Roman von Péter Nádas „Parallelgeschichten“, für dessen Übersetzung sie 2012 den renommierten Berliner Brücke-Preis erhielt. Dies alles habe die Fertigstellung eines eigenen Romans erheblich verzögert, erzählt die Autorin im Interview „Auf dem blauen Sofa“. Insgesamt habe sie nur etwa drei Jahre daran gearbeitet.
Herausgekommen ist ein umfangreicher Roman, knapp 500 Seiten dick. Und es lohnt sich, diese ineinander verwobenen Erzählungen und Lebensgeschichten mit großem Genuss zu lesen. Viragh versteht es meisterhaft, die einzelnen Stimmen mit ihrem je eigenen Timbre zu Wort kommen zu lassen. Manchmal ist es ein richtiges Stimmenkonzert, was da entgegenkommt.
Ein Flug von Bangkok nach Zürich bringt einige Reisende im Flugzeug zusammen: Die klassische Ausgangslage eines Dramas in Einheit von Raum, Zeit und Handlung. Und es ist ein Drama, welches sich während der zwölfstündigen Reise abspielt. Es geht um nichts weniger als um Leben und Tod. Draußen herrscht undurchdringliche Schwärze – beste Zutat, um die Flugstunden mit Geschichten zu unterteilen, zu unterhalten und um Angst zu vertreiben. Gemeinschaft wird nach anfänglichem Sträuben hergestellt, Empathie und der Blick ins eigene Innere. Wie im wirklichen Leben sind Drama und Komödie eng verknüpft, wenn für kurze Zeit die Einsamkeit eines Jeden aufgelöst wird. Dabei stellen sich ähnliche Begebenheiten heraus, Erlebnisse kreuzen sich. Der Mensch ist nicht allein auf der Welt, alle seine Handlungen sind irgendwie verknüpft mit denen anderer Menschen.
Neun Personen sitzen auf engstem Raum zusammen im Flugzeug, ein Ausweichen ist kaum möglich. Sechs von ihnen mischen sich in die Haupterzählung ein, spinnen sie fort, verknüpfen sie mit eigenem Erleben oder fantasieren sie neu.
Emma Dél, die einen Schriftstellerkongress auf Bali besucht und, von diesem enttäuscht, den Rückflug angetreten hat, gehört zu den Reisenden. Ihr hat die Autorin Christina Viragh einige autobiografischen Züge verliehen: Wie sie, ist diese als Kind mit den Eltern aus Ungarn in die Schweiz geflüchtet und lebt jetzt in Rom. Das sei aber bereits das Ende der Gemeinsamkeiten, so die Autorin in ihrem Interview.
Neben ihr hat ein dicker Amerikaner in Polohemd und Shorts seinen Platz gefunden. Er entspricht ganz und gar dem Klischee des lauten von sich eingenommenen Ami, der in Bali eine Sextour unternommen hat. Schon vorher im Wartesaal war er ihr unangenehm aufgefallen. Schlafen kann sie nicht, so wie keiner der in seiner Nähe sitzenden Passagiere. Big Bill, wie er sich selbst nennt, erzählt nämlich ständig von sich und seinem verkorksten Leben, von seiner Familie, seinen Ahnen. Allmählich zieht er die Widerstrebenden in seinen Bann: Das schwule Paar Stefan, ein Anästhesist und den gewesenen Lehrer Michael, der, wie er bestürzt feststellt, bei der geschiedenen Frau des Ethnologen Walter in die psychiatrische Praxis geht. Dieser wiederum ist eifersüchtig auf die lesbische Freundin seiner Frau und versucht mit allen Mitteln seine Tochter auf seine Seite zu ziehen. Der 15jährige Hagen ist ein Scheidungskind, auf dem Weg zu seiner Mutter und deren Partner. Auch er glaubt seine Familie in Bills Erzählungen wiedergefunden zu haben. Selbst eine japanische Familie nimmt Anteil an Bills Geschichten. Alle fühlen sich nach und nach animiert, sich in die Erzählungen einzumischen, sie weiterzuerzählen, neu auszulegen oder von sich selbst, von ihrem Leben zu erzählen.
Zunächst sind sie aber dem ständig sprechenden Bill gnadenlos ausgeliefert. Er erzählt und erzählt, zwei Geschichten pro Stunde hat er sich zum Ziel gesetzt, wobei er zunächst nur zu „Martha“ spricht. Martha nennt er den Whisky, den er einen nach dem anderen leert, Martha, seine treue Begleiterin, genannt nach dem verstorbenen Hund seines Großvaters. Dieser hatte den Hund, mit dem er erfolgreich in zahlreichen Varietés aufgetreten war, für 30 Dollar verkauft. Ein Trauma im Leben seines Enkels Bill.
Nicht nur die Mitreisenden geraten – ob sie wollen oder nicht – in den Sog seiner „Geschichten, die niemand hören will“, sondern auch der Leser: Wie könnte diese oder jene Story weitergehen – oder eine andere Wendung nehmen?
Die Geschichten ufern aus, berühren verschiedene Länder und Jahrhunderte. Ja, Bill nimmt seine Zuhörer und uns mit auf eine Reise durch Zeiten und Kontinente, während man doch gleichzeitig mit ihm im Flugzeug sitzt. Im Laufe der Reise werden die Geschichten immer spannender und verwickelter, nicht zuletzt, weil sich die Mitreisenden einmischen und mit ihren eigenen Lebensdramen verbinden.
Die anfängliche Ablehnung seiner Mitreisenden scheint Bill Kovacsics, Nachkomme eines slowakischen Uhrmachers und Varietékünstlers eher anzustacheln, noch tiefer und wilder in die Fabulierkiste zu greifen. Nicht nur erzählt er aus seinem Leben, lässt im Rauschen von Espenblättern die Stimmen seiner Ahnen aufwispern, sondern imaginiert auch alle Lebewesen und Zeitalter Amerikas vor den Ohren seiner Zuhörer. In Traumerzählungen sucht eine wundersame Karawane vergebens einen Weg in ein leeres Land „Hicsunt“ und findet es doch nie. Dabei muss ich unwillkürlich an die geheimnisvollen Erzählungen Marco Polos denken, die ihm zu seiner Zeit auch keiner abnehmen wollte.
Viel ist die Rede von Übersinnlichem, von Tod und Sterben, von Schamanen, einem Wanderprediger und einem vietnamesischen Guru. Der heutige Mensch will nicht mehr gläubig sein, ist aber begierig darauf, sein Leben mit dem Nicht-Erklärbarem in Verbindung zu bringen. Viele Stichworte werden zu Metaphern: der Treibsand, in den Bill als Junge fast hineingeraten wäre, als Sinnbild für den Tod, das Nicht-Aussprechen-Dürfen des Namens des Guru, der zwar immer wieder in Bills Erzählung beschworen wird, ist das schwarze Loch, der Tod, das Nichts.
Dazu die konkreten Toten: Bills Vater stirbt im Vietnamkrieg, der Wanderprediger wird von einem Unbekannten erschossen, Bills Kind wird tot geboren, eine Ehefrau wird aus Eifersucht fast ermordet.
Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität vermischen sich hier ständig, wie in den märchenhaften Geschichten, zum Beispiel „Aus 1001 Nacht“, wo Scheherazade für das Leben – und gegen den Tod erzählt.
Klar wird bald, dass nicht nur Bill, trotz seiner Lautstärke und Präsenz Angst hat, Angst vor Dunkelheit und undurchdringlicher Schwärze, Angst abzustürzen und nicht in Zürich anzukommen. Mit dieser Angst bringt er seine Mitreisenden ins Nachdenken. Nur der Schüler Hagen, der ständig alles auf seinem iPad mitschreibt und die hanebüchensten Überlegungen anstellt, scheint bis zum Schluss davon unberührt zu bleiben. Das Wichtigste ist für ihn, dies alles gleich nach der Landung an seine Freunde zu posten.
Der abergläubische Michael findet sich plötzlich im Leben seiner italienischen Familie – dabei scheinen Fäden zu Bills Leben zu führen, Emma denkt an ihren ungarischen Großvater und an ihre Jugendliebe Cesare, Walther an seine geschiedene Ehefrau und an seine Tochter, die er für sich gewinnen will. Obwohl sie es nicht wollten, erzählen alle von sich, von den Krisen ihres eigenen Lebens.
Wie jede gute Schriftstellerin erzählt Emma die gehörten Geschichten ihrer Mitreisenden gleich in Gedanken weiter, gibt ihnen eine eigene Wendung, schlägt andere Richtungen ein, fügt Fantasie hinzu, wird sogar zur mündlichen Geschichtenerzählerin.
Ein großartiges Buch, welches unser heutiges Leben in ganz unterschiedlichen Facetten aufblättert – und am Ende eine nicht vorherzusehende Wendung nimmt.

 

 

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