Rezension: Esterházy, Péter – „Bauchspeicheldrüsentagebuch“

Aus dem Ungarischen von György Buda
Verlag Hanser Berlin, 2017
ISBN: 978-3-446-25544-9
Originaltitel: Hasnyálmirigynapló, Budapest 2016
Bezug: Buchhandel Preis: 20,00 Euro

von Gudrun Brzoska

Vor einem Jahr, am 14. Juli 2016, starb Péter Esterházy. Im Mai 2015 war bei ihm Bauspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert worden. Am 8. Juni bei einem Interview mit dem BR (Bayer. Rundfunk) – da wusste er schon von der Krankheit – antwortete er auf die Frage, was er gerade lese: „Mir geht es gerade nicht gut – ich werde ehrlich sein – ausnahmsweise – ich lese weniger als sonst – ich lese noch einmal Anna Karenina“. Im folgenden Herbst hätte er bei der Göteborger Buchmesse – Ungarn war Gastland – die Eröffnungsrede halten sollen. Er ließ sie vorlesen – und ganz nebenbei einfließen.: „…. jetzt versucht etwas anderes mein Leben zu erfüllen, also könnte ich auch über den Bauchspeicheldrüsenkrebs beschwingt und inspiriert sprechen, was ich jetzt dem Publikum erspare, aber machen Sie sich keine Hoffnungen, früher oder später werde ich auch länger darüber sprechen…“

Dieses Buch, in dem er oft genug „beschwingt und inspiriert“ über den Bauchspeicheldrüsenkrebs spricht, liegt inzwischen vor uns. Als er im Herbst 2014 manchmal Schmerzen unterm Rippenbogen spürte, fiel ihm der Begriff hasnyálmirigyrák” (Bauchspeicheldrüse) ein, das habe so schön geklungen; aber nie habe er daran gedacht, dass dieses Wort ihn persönlich betreffen könne.

Lange Zeit versuchte er weiter zu arbeiten, Aufgaben zu übernehmen; denn in Wörtern war er zu Hause, sie waren seine Heimat, wie er an anderer Stelle sagt: Er besuchte seinen todkranken Freund Imre Kertész an dessen letztem Geburtstag, hielt eine denkwürdige Rede an seinem Grab: „Eine Beerdigung ist nicht das Ende von etwas, sondern der Beginn. Und ich denke dabei nicht an das ewige Leben, sondern an die Aufgaben, die uns der Tote hinterlassen hat….“ Er war im April 2016 bei der Premiere seines Buches „Die Markus-Version“ in Berlin – und beim Budapester Buchfestival noch bereit seine Leser nicht zu enttäuschen und signierte – einen Monat vor seinem Tod – die Bücher, die ihm eine geduldig ausharrende Menschenschlange reichte.

Was heißt das alles? Hat Péter Esterházy seine Krankheit ignoriert, nicht recht Bescheid gewusst um den tödlichen Ausgang?

Er beginnt sein Tagebuch mit dem Befund am 24. Mai 2015: „Krebs, das ist das richtige Anfangswort, wenngleich es nicht sofort fiel, gar nicht so bald, wobei ich nicht denke, die Ärzte hätten das Wort gemieden. Ich war es ja sogar, der heiter danach fragte…“ Mit der Diagnose wird er zum Tagebuchschreiber und notiert alles, beobachtet seinen Körper, sein Verhalten, die Veränderungen – zunächst eher nebensächlich interessiert, so wie man etwas Fremdes, das einen nicht wirklich etwas angeht, durch ein Mikroskop betrachtet. Mit dem Schreiben will er dem Unheil begegnen, es in Worte und Sätze zwingen.

Ihm, dem belesenen Literaten kommen sofort Bücher in den Sinn, die sich mit Krankheit und Sterben befassen. Vor allem mit Harold Brodkeys: „Die Geschichte meines Todes“, wird er sich immer wieder beschäftigen.

Der Leser kennt ja schon den tragischen Ausgang, aber zu dieser Zeit ist Esterházy noch ganz optimistisch: „Nicht als würde ich sterben, oder als wäre mir das in Aussicht gestellt. Noch ist nichts in Aussicht gestellt“.

Aber Esterházy wäre nicht Esterházy, würde er nicht doch immer wieder abschweifen in seinen Tagebuchnotizen, Geschichten aus Wörtern türmen, sie verdrehen und hinter ihren Sinn schauen. Zugleich versucht er sich mit dem, was da in ihm wächst anzufreunden: Die Bauchspeicheldrüse – also ist sie weiblich. Er umschreibt sie euphemistisch als seine Fee, sein Bauchspeichelchen, seine einzige Liebe, das Fräulein, oder ganz intim Mutzi. Später, als ihn Mutzi schon ganz in der Gewalt hat, nur noch mit B. oder dumme Gans.

Obwohl er ein nahes Ende noch weit von sich weist – ist doch eine Ahnung in ihm, die Möglichkeit, dass die Geschichte nicht gut ausgehen könnte: „Ich stehe am Anfang des Endes, könnte ich witzeln…“ PE. (Esterházy) macht seinen Lesern nichts vor, er schreibt wie er empfindet, beobachtet was passiert. Er rechnet damit, dass aus diesem Tagebuch ein publiziertes werden wird – und nimmt sich vor, ganz gegen seine Gewohnheit nichts zu redigieren, „sondern (es) so, halb ungekämmt stehenzulassen“. Noch ist das Tagebuch für ihn ein Text – ein Text wie so viele andere, die er geschrieben hat – und er liest seiner Familie auch immer wieder daraus vor.

Der Leser kann manchmal gar nicht glauben, was er da liest, nämlich ein Sterbetagebuch. Es scheint oft ganz unwirklich, dass es dabei tatsächlich um PE gehen soll, so ironisch und schalkhaft, so in Wörter verpackt und aus ihnen lebend, erscheint uns dabei Esterházy – so wie in seinen „gewöhnlichen“ Texten. Und doch ist es so – und wir wissen schon Bescheid, wissen, dass es keine Hoffnung gibt – und wir können nur mit- bzw. nacherlebende Zuschauer sein, wie er seine Krankheit und sein Leben in Wörter und Text zwingt.

Er versucht, das gewohnte Arbeitstempo einzuhalten, doch das will ihm immer weniger gelingen: Zwischen Untersuchungen, Krankenhausaufenthalten, Chemotherapie. Alles strengt ihn mehr und mehr an – er kann seine Aufgaben, nämlich das Schreiben von Artikeln, von Reden, das Durchsehen von Druckfahnen, alles was er sonst in seinen Arbeitsalltag untergebracht hat, nicht mehr einhalten. Die Zeit gleitet ihm davon. Zunehmende Müdigkeit breitet sich aus und bremst ihn.

Vor den Untersuchungen ist er „aufgeregt wie vor einer Prüfung“. – Noch kann er nicht glauben, dass es um ihn geht, denn eigentlich fühlt er sich noch gut und wohl: Mir geht es gut. Die Bauchspeicheldrüsenfee – so nennt er sie inzwischen, meint aber, im Krankenhaus könne er mit seiner Heiterkeit einpacken (sie will beachtet werden). Doch er meint, auch die Kommunisten waren durch das Lachen besiegt worden. Also geht das, den Krebs einfach weglachen? – Aber da lauert doch auch die Angst hinter der Heiterkeit. Sein Magen ist schwer. Was kommt auf mich zu?

Als Schriftsteller macht er sich natürlich Gedanken über diesen Tagebuchtext: „Dieser Text ist dann zugkräftig, wenn ich an meiner Fee sterbe. Wenn ich schon weit weg bin, teurer Leser, während du das liest. Welch unfairer Vorteil, so arbeiten zu können. Und mein Tod wandelt sich so zu einer koketten Idee“.

Viele Tage werden vergehen, an denen er sich nicht aufraffen kann, im Tagebuch weiter zu schreiben, Tage, an denen alles stecken bleibt.

Ganz „unschuldige“ Sorgen plagen ihn: Werden ihm die Haare ausfallen? Ja, natürlich. Schlecht wird ihm werden, mit Brechreiz wird er kämpfen – das Essen und auch der Wein werden ihm nach den Therapien nicht mehr schmecken.

Starken Halt in seinem Leben gibt ihm seine Familie, die ihn liebt und die er liebt – „sie sind wohlgeraten“ –auch die Enkelkinder, die noch zu klein sind um zu verstehen. Sein Schreiben hält ihn aufrecht: Die Tagebuchtexte sind voll von Erinnerungen an Kollegen, Freunde, alle mit Zitaten versehen. Das zeigt den ungeheuren Erinnerungsstrom, der unablässig in ihm fließt und ihm aus der Feder fließt. „Dass ich der Hauptdarsteller meines Lebens sein soll, das sehe ich nicht immer“ – ständig kommen ihm auch die eigenen Zitate in den Sinn.

Und dabei beobachtet er sich genau und ironisch: „Heute beginnt der Sommer. Ich wiege 83,4 Kilo, also habe ich abgenommen, das sind 10 Kilo weniger seit Weihnachten. Ohne Krebs wäre das super“. – Und er fühlt sich kerngesund – doch in ihm ist der Wurm drin.

Kein Aufbegehren gegen die Krankheit, gegen das Schicksal kommt ihm in den Sinn. Eher zunächst ein ungläubiges: „Ichbingemeint“? Er nimmt Mutzi, die als Geschwulst in ihm wächst, an, scherzt mit ihr, spricht mit ihr. Sie ist immer da – und noch immer kann er nicht ganz glauben, dass diese Krankheit eine endgültige ist. . „Oh, Scheiße-scheißescheiße, flüstere ich“, das kommt ihm doch auch mal über die Lippen.

Immer wieder schreibt er viele Tage nichts – hat das Gefühl seine Hausaufgaben nicht gemacht zu haben, wie ein schlechter Schüler. „Es ist nicht leicht, der Wirklichkeit nahezukommen, nicht einmal der eigenen“.

Wichtig ist ihm sein Glaube an Gott. Dabei verfällt er nicht in „Gebetsbettelei“, sondern spricht mit ihm auf Augenhöhe. Aber das Warten, dass etwas geschieht, das Warten auf die Behandlung, die Müdigkeit, all das langweilt ihn – der Tod ist langweilig – das Sterben ist langweilig. Aber seine Gespräche mit Gott – ohne Vorwurf– ohne aufbegehrende Fragen sind wichtig: „Du brauchst nicht zu hoffen, Herr, das hier steht offensichtlich mit dir in Verbindung. – Es gehört nicht hierher, ich dachte nur eben daran: Ich bin dir nicht im Geringsten böse. Dass du mich zum Besten gehalten hättest oder so etwas. Dieses Jetzt ist schon in Ordnung, es ist bloß ziemlich schlimm. Es ist aber alles gut. Du kannst im Wesentlichen auf mich zählen, auch wenn ich nicht mit allem in diesem deinen Leidensprojekt einverstanden bin. Herr, das ist zweifellos deine größte Idee, die Liebe“.

Ein Jahr vor seinem Tod rechnet er mit dieser Möglichkeit: Es könnte sein, dass die Krankheit ihn besiegt. Irgendwie hat er sich das wohl anders vorgestellt, dass es schmerzhafter würde, schneller ginge?

Ich freunde mich hier mit meiner Mutzi an, und kommt es dann so, dass sie mich unvermittelt erdolcht? Sie umarmt mich mit einem Messer in der Hand. Sie hat gar keine Hand. Einen Kopf hat sie, das stand im Bericht. – Nicht: erdolcht, sondern ermordet, das klingt härter“.

Aber noch ist es gut zu leben! Und doch, auch das fließt ihm aus der Feder: „Wie gern stürbe ich. Dieser Satz fiel mir beim Dösen ein, während ich an das verweigerte Mittagessen dachte, an mein damit zusammenhängendes momentanes Unwohlsein und an die damit verbundenen Umstände, die Entscheidungen (..) für die Zukunft. Und sollte jemand mir diesen Satz zitieren, würde ich ihn sofort verleugnenden. Ich? So etwas? Nie im Leben“. – „Noch nie habe ich den Satz ausgesprochen: Ich sterbe. Ich meine, bezogen auf mich. Voller Sehnsucht nach einem Satz. Nicht nach diesem“. – Ich murmle im Halbschlaf Brocken von Gebeten, das ist aber kein echtes Gebet. Manchmal sage ich nur: Mein Herr – das ist schon eher ein Gebet. Freilich ist Bitten, Bitten-Können auch eine große Sache. Herr, hilf! Das jetzt ohne Hintergedanken zu sagen“. Und Ironisch parodierend: „Diese Bauchspeicheldrüsengeschichte schien am Anfang eine gute Idee zu sein, sie verbesserte die Menschheit, Anteilnahme, Liebe (ein wenig Hass, aber der zählt nicht), Rücksichtnahme (und Rücksichtslosigkeit, aber die zählt nicht), Betroffenheit (und Zynismus, aber der zählt nicht) entfalteten sich in ihren Spuren, doch stellt sich langsam heraus, dass dies für einen einzigen Menschen zu viel ist und solche Welterlösungsprojekte (manchmal Parodien, aber die zählen nicht) besser dir überlassen werden sollten, Herr“.

Inzwischen ist von ihm auf Ungarisch „Die Flucht der Jahre“ erschienen. Ein schriftliches Interview mit Marianna Birnbaum. Da weiß er noch nichts um seine Krankheit. Dieses Buch ist noch so hoffnungsfroh, so unbeschwert. (Auf Deutsch erschienen 2017 im Hanser Verlag, Berlin)

Immer wieder können wir ihn auf Ausflügen in die Literatur begleiten, fast kleine Vorlesungen am Beispiel Kosztolányis. Wie kommt die Wahrheit in den Text – und ist der Text Wahrheit oder wird er zu Wahrheit gemacht? Und damit ist er wieder mittendrin in seinem Element: „Die tintenfleckigen Finger, die habe ich fast vergessen. Sie werden immer blau, und es sind eher die Finger schuld als die Feder. Schuld sind sie gar nicht, denn blicke ich meine tintigen Finger an, weiß ich, dass ich arbeite, und das freut mich. Und jetzt sind sie seit einigen Tagen wieder blau“.

Er freut sich über sein fertiges Buch mit Szüts, so wie vor vierzig Jahren. Sie trinken einen Roten darauf. (Esterházy und Miklós Szüts: A bünös (der Schuldige) – ein „Märchenbuch“ mit Bildern über den „Helden“ Bauchspeicheldrüse.)

Am 2. März 2016 seine letzte Eintragung: „Jetzt werde ich nie mehr allein sein. B. wird immer mit mir sein. Ich verbessere das Immer in Ewig“.

Und PE. beginnt das Geschriebene in die Maschine zu tippen.“ Irgendwo muss ich es abschließen und natürlich weiterschreiben. Das wäre ein hinreichend guter letzter Satz: Ich verbessere das Immer in Ewig“.

Ja, immer und ewig wird seine Literatur hoffentlich unsterblich sein. Mit diesem Buch hat er noch einmal nicht nur seine schriftstellerische – sondern vor allem seine menschliche Größe gezeigt. Es wäre wünschenswert, dass es möglichst viele Leser fände.- Wie schade, dass er uns schon so früh verlassen musste.

© Gudrun Brzoska

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