Rezension: Konrád, György – „Gästebuch“

Gästebuch
Nachsinnen über die Freiheit
Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke
Verlag Suhrkamp Berlin 2016
ISBN: 978-3-518-42533-6
Originaltitel: Vendégkönyv, 2013
Bezug: Buchhandel, Preis: 22,95 Euro

Sein ganzes langes, oft bedrohtes Leben lässt György Konrád, Schriftsteller und Philosoph in kurzen Streiflichtern vor uns Revue passieren. Er lädt uns ein, Gast bei ihm zu sein, erklärt uns manches, lässt uns teilhaben an seinen Zeitsprüngen und Gedankensplittern. Gleich zu Beginn fragt er sich selbst, was denn dieses Buch sei – Textpatience oder Roman? Und schon ist er dabei, seine Gäste in die Entstehung eines Romans, an den Überlegungen und plötzlichen Einfällen dazu, mit hineinzunehmen.
Nein, ein Roman ist dieses „Gästebuch“ sicher nicht, eher eine Aphorismensammlung, eher sein Vermächtnis an die Nachwelt, sein Resümee: So sieht er sich, so sollen ihn seine Leser sehen. Wer einen durchgängigen Text erwartet, wird enttäuscht sein: Man sollte das Buch in kleinen Häppchen genießen, gemütlich in einem Sessel sitzend, vielleicht ein Glas Rotwein trinkend – ganz wie sein Autor es am liebsten selbst tut – das Gelesene überdenken – und selbst ins Philosophieren kommen. Immer wieder betont Konrád, dass er ein glückliches, erfülltes Leben geführt habe, er, ein Davongekommener: Beinahe wäre er deportiert, beinahe erschossen worden, beinahe ins Gefängnis gekommen. Je älter er wird, umso dankbarer ist er für sein Leben: So wie es war, war es gut. Angst kennt er bis heute nicht: „Wovor sollte ich Angst haben?“
Einigermaßen chronologisch beleuchtet er in knappen Sätzen und ganz kurzen Kapiteln sein Leben, seine Ansichten. Erzählt er eine kleine Episode, gerät er gleich danach ins Grübeln und Philosophieren: Geboren ist er 1933, mit 11 Jahren fast deportiert, so wie alle seine Klassenkameraden – mit deren Andenken er seither lebt. 1956 hatte er sein Studium abgeschlossen, die Revolution brach aus, sein Leben nahm eine andere Wendung, er wurde Jugendschutzinspektor. Emigrieren, wie viele seiner Altersgenossen, wollte er nicht: Seine Sprache ist ungarisch, darin kann er sich ausdrücken. Er ist Ungar und Jude. – „Dass ich ungarischer Schriftsteller bin, daran würde sich selbst dann nichts ändern, würde man mich des Landes verweisen oder ich mich selbst dazu entschließen, mich von hier wegzubegeben. – Da meine beiden Zugehörigkeiten – die ungarische und die jüdische – gleichermaßen stark sind, versuche ich, zwischen ihnen Frieden zu stiften.“ Konrád wurde Mitarbeiter im Institut für Städteplanung. Aus all diesen Episoden und Tätigkeiten gingen übrigens bemerkenswerte schriftstellerische Werke hervor, die in Ungarn jedoch nur teilweise und zensiert, publiziert werden konnten. In den 70er Jahren durfte er ins Ausland reisen und sich im Westen umsehen. In den 80ern wurde er zum Mahner für Europa und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mischte er sich vorübergehend in die aktive Politik ein. Auch die Zeit als Präsident der Akademie der Künste in Berlin streifen seine Gedanken – und wie erleichtert er war, als er, der mit Auszeichnungen bedachte Autor, wieder nach Hause zurückkehren konnte, in die Einsamkeit des Schreibens, ohne Verpflichtungen, die er ohnehin seinem alter ego, seinem Ich im Roman, Kalligaro, am liebsten aufgehalst hatte. Der hatte für ihn all das erledigt und zwar freundlich und charmant, wozu er selbst keine Lust gehabt hatte.
Mit Freude spricht er von seiner Familie, seinen verschiedenen Ehefrauen, Kindern und Enkelkindern. Sie sind ihm wichtig. Doch Freiheit geht ihm über alles; Freiheit und Verantwortung gehören für ihn untrennbar zusammen: Freiheit nicht nur von etwas, sondern auch die Freiheit etwas zu tun.
Manche Texte kennt der Leser schon aus anderen Büchern, hier sind sie zum Teil überarbeitet, komprimiert.
Und immer ist er sich seines Alters und des vielleicht schon nahenden Todes bewusst – er ist bereit, doch gern würde er noch ein wenig leben.
Ein Flaneur ist er, ein Bummler, der gern spazieren geht, die Natur beobachtet – oder zu Hause im Sessel sitzt, beobachtet, nachsinnt – am liebsten mit einem Glas Cognac.
Schriftsteller gehören für ihn zu einer hehren Spezies: Fantasie im Kopf, Freiheit im Herzen: „…ein Weltbund rasender Individualisten. Über uns haben wir niemanden, nur den Sternenhimmel“ und über „… die Moral des Schriftstellers – Der Wille zur Autonomie des Geistes“.- „Ich schreibe nicht, um die Anerkennung der Leser zu erringen, sondern weil ich einer Textpassage ihren Schliff und dem formlosen, ahnungsvollen und auf seine Geburt wartenden Gedanken eine Gestalt verleihen möchte.“
Alles was ihm in den Sinn kommt, wird thematisiert: die Religion, die Politik, seine Unzufriedenheit mit dem heutigen Ungarn, seine Kinder und Enkelkinder, ein Spaziergang – und schon wird ein kleiner philosophischer Exkurs daraus. Manchmal könnte das auch ein Anfangsfaden für einen Roman sein.
Breiten Raum nehmen seine Überlegungen und Gedankensplitter zu seinem Leben als „heimlicher“ Schriftsteller des ungarischen Samisdat und Dissidenten während des Kommunismus ein. Damals hatte er jahrelang Publikationsverbot, konnte seine Werke nur heimlich über die Grenze ins Ausland bringen und dort veröffentlichen. Sein Einkommen bestand aus diesen im Ausland übersetzten Werken; in Ungarn lebte er von Gelegenheitsarbeiten – und war trotzdem zufrieden. Heute scheint ihm, im Rückblick an damals, das Leben lebenswert, weil er tat, was er tun musste, in der inneren Emigration sich frei fühlte und schrieb, was er wollte.
Manchmal regt er sich aber doch auf, über die Politik, über seine Landsleute, über den zunehmenden Antisemitismus in Ungarn: „Die Herrschaft der Partei ist gefallen. Auf wen kann man nun seinen Hass lenken? Auf die Juden.“
Häufig unterbricht er seine Spaziergänge und Kaffeehausbesuche, um sich in Budapest an die Stätten zu erinnern, wo den Juden 1944 so viel Leid widerfuhr. Er denkt an seine vergasten Klassenkameraden, an die Deportationen, an die in die Donau geschossenen Opfer. „Sich erinnern heißt lernen. – Erinnerung ist eine Impfung gegen Faschisierung.“ Zeitsprünge. Und immer wieder ein vergleichender Blick auf heute, auf Korruption und Rassismus. Er sinniert über die Zeit – über Politik, die Jahre des Kommunismus, 1956, die Ermordung Imre Nagys, über Kádár. Er überdenkt seine Freundschaften mit Schriftstellerkollegen, Existenzialisten, die von der Partei verstoßen worden waren. Und immer wieder kehren seine Gedanken an den Krieg zurück. Kurze Zeit hatte er sich politisch engagiert, unterschrieb Petitionen für die polnischen Kollegen, wurde gebeten mitzumachen. Doch eigentlich ist das seine Sache nicht: Er sieht sich als Zuschauer, der seine Gedanken frei schweben lässt. Wenn schon politisch, dann eher als Versöhner. Natürlich geriet er auch in die Mühlen der politischen Polizei, wurde verhört, landete fast im Gefängnis. Er streift die Wende nach 1989, macht sich Gedanken, wie angreifbar er vielleicht gewesen sei, jedoch: „Keine einzige der im Großkaufhaus angebotenen Konfektionsideologien habe ich mir andrehen lassen. Allesamt sind sie ein heimtückisches Bündnis mit dem Töten von Menschen eingegangen“.
Er sieht von seinem Kaffeehausplatz auf Gebäude in denen gefoltert, zusammengeschlagen wurde, Gebäude in denen er damals Zuflucht mit seiner Schwester gefunden hatte. Seine „Antiwelt“. Zwischen Erinnerung und Traum.
Einzelnen Schriftstellerfreunden und Weggenossen windet er einen Erinnerungskranz, Danilo Kiš, Imre Kertész, den er schon beobachtet hatte, als dieser noch fürs Kabarett schrieb, und anderen.
Konrád gibt Sätze ab, über deren Gültigkeit er sich sicher ist:
Über Schriftsteller: „Wir haben gelernt, keinerlei menschlicher Behauptung restlos Glauben zu schenken. In Europa ist das denkende Ich zum wichtigsten Gegenstand des Denkens geworden. Dass das Ich und die Welt nicht eins sind, erfahren wir hier am klarsten.“
Über Ost- und Westeuropa: „Der osteuropäische Durchschnittsmensch erlebt die Welt als eine Serie von Niederlagen; seine Ziele konnte er nicht erreichen, die Erfüllung seiner Sehnsüchte ist ihm nicht gelungen, und die äußeren Kräfte hält er für schrecklich übermächtig. – Sein Ziel besteht in der konfliktfreien Anpassung. Er glaubt, fügsames Verhalten und die Strategie des Mauselochs seien vorteilhaft.“
Über die jüdische Religion: „Der Gott, mit dem der Jude spricht, ist ewig, zeitlos, befindet sich jenseits der Grenze menschlichen Lebens.“
Über Nationalismen: „Der ideale lokale Idiot ist der Familie gegenüber herablassend und der Obrigkeit gegenüber unterwürfig“ Und er reflektiert darüber, wie schwer es diesem Menschen fällt, etwas zu tun, wenn man ihm dazu keine Order gegeben hat. „Und wenn der Nationalstaatskult bereits überhandnimmt, dann taucht als Heilsbringer der Führer auf.“
Sein Kalligaro-Ich kam immer mit Wenigem zurecht, brauchte nicht viel, nur Freiheit. Materielles beschäftigte ihn wenig – er hatte genug und das würde wohl so bleiben.
Über sich selbst (Kalligaro): „Zwischen seiner Geburt und heute ist dies und jenes mit ihm geschehen, hat sich bestimmend auf ihn ausgewirkt, er ist eine Figur geworden. – Manchmal wollte er sich interessanter zeigen, als es der Wirklichkeit entsprach; er nahm Rollen an, die damit einhergingen, dass er geringschätzte, was ihm tatsächlich gehörte. – Nach seinem Tod soll man ihn verbrennen und die Asche zerstreuen.“
Über sein Leben nach dem 80. Geburtstag: „Meine einsamen Stunden verbrachte ich seit sechzig Jahren mit meinen toten Spielkameraden; wenn ich die Augen schloss, kamen sie herbei. – Ich gehe nach Hause. Alles auf meinem Weg Vergangene mochte ich. – Es – Was ich sage, halte ich heute vielleicht für richtig, morgen schon nicht mehr. Ich muss nicht immer der gleiche sein.“
Und noch ein Plädoyer für den Künstler: „Unter den Bürgern haben es die Künstler auf dem Weg der Unabhängigkeit am weitesten gebracht. Auch in jener Verwegenheit, im eigenen Namen zu sprechen, als würden sie ihre aus einer einzigen Person bestehenden Republik vertreten. Kultur kostet weniger als Rüstung und bringt mehr Nutzen. Das Verschwinden des Eisernen Vorhangs ist nicht den Waffen, sondern den Worten zu verdanken.“
Und immer wieder – fast beschwörend – über die Freiheit: „Der freie Mensch trifft Unterscheidungen und wägt die Folgen ab: Was passiert, wenn er den Erwartungen entspricht, was wenn er sich ihnen verweigert“ Was geschieht, wenn er sich duckt oder widersetzt? – Sowohl zur Freiheit als auch zur Verantwortung bedarf es erheblicher Intelligenz. Eines klugen Herzens… “ – „Frei bin ich, wenn ich tue, tun kann, was ich für das Richtigste halte. – Frei bin ich, wenn ich die Möglichkeit habe, mit dem, was ich mache, einverstanden zu sein, wenn mir meine Verpflichtungen gefallen, ich sie selbst eingegangen bin.“
Seiner Biografie ist noch hinzuzufügen, dass György Konrád heute mit seiner dritten Frau und seinen kleinen Kindern am liebsten in Hegymagas oberhalb des Plattensees lebt, wo er weiterhin schreibt, philosophiert und Gäste empfängt, die sich auf ihn einlassen wollen.

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