Rezension – Barnás, Ferenc „Ein anderer Tod“

Roman
Aus dem Ungarischen von Eva Zador
Verlag: Nischen Verlag, Wien
ISBN: 978-3-9503906-3-6
Originaltitel: Másik halál, 2012
Bezug: Buchhandel, Preis: 22,00 Euro

„Mich interessiert die innere Welt“, sagte der Schriftsteller Ferenc Barnás in einem Interview. Es gehe ihm darum, was in der Psyche des Menschen passiert. Und in der Psyche des namenlosen Erzählers passiert viel: Zunächst schälen sich aus Gedanken- und Erinnerungsfetzen eines ungefähr 50jährigen ehemaligen Lehrers und Universitätsdozenten heraus, dass er einschneidende Erlebnisse oder Begegnungen hatte, die ihn aus der Bahn geworfen haben. Gleichzeitig stellt uns der Autor Ferenc Barnás ein Stück neuere ungarische Geschichte und Zeitgeschichte vor.
Als 51jähriger Saalwärter in einer Galerie lässt unser Antiheld die letzten elf Jahre seines Lebens Revue passieren. Er erzählt unzusammenhängend, was ihm in den Sinn kommt, anmutend wie Traumsequenzen. Für den aufmerksamen Leser sind aber auch die scheinbar losen Anfänge wichtig, denn nach und nach ergibt sich der Sinn.
Seine unzureichenden Bezüge in seinem früheren Leben hatte der Lehrer jahrelang, wie schon zu seiner Studentenzeit, als Straßenmusikant im westlichen Ausland aufgebessert. Es war nicht leicht gewesen für ihn, aus seinem Milieu auszubrechen und es so weit, zu diesen angesehenen Berufen, zu bringen. Eines Tages trägt er sich trotzdem mit dem Gedanken, seine Stellen als Lehrender aufzugeben, nur noch als „Straßenirgendwas“ herumzuziehen und sich seinen Texten zu widmen, die er „Variationen“ nennt. Es soll kein Roman werden, sondern er möchte sich mit dem Schreiben über etwas, über sich selbst klar werden. „Es macht nicht viel Sinn, wenn ich hier aufschreibe, in welcher Reihenfolge ich meine Stellen als Lehrer gekündigt habe, und wie es zu dieser Zeit ungefähr um mich stand. In Budapest hatte ich in mehreren Schulen mit künstlerischem Schwerpunkt unterrichtet und eine Zeit lang auch an der Universität, dort zwar nicht Literatur, sondern etwas anderes. Ich hatte viel dafür getan, diesen Beruf ausüben zu können. Meine Verwandten glaubten eine ganze Weile nicht, dass ich eine Universität absolvieren könnte, damit hatten sie im Wesentlichen auch recht, schließlich ist das aus dem Landwirtschaftlichen Kombinat in Környe, wenn ich recht weiß, bislang noch niemandem gelungen. Mir ist es gelungen, und lange Zeit schien es tatsächlich so, als wäre ich oben angekommen…
Noch vor seinen Kündigungen lernt er in Kempten an einer Straßenecke, an der er musiziert, einen Deutschen kennen, Michael Landenberg. Dieser Michael war einst als Kellner in Johannesburg beschäftigt gewesen. Dort schmähte und bedrohte ihn ein Bure stundenlang. Nach diesem Erlebnis konnte Landenberg kaum mehr schlafen, nur noch für einige Stunden und nur mit starken Medikamenten. Dies alles erzählt er dem neuen Bekannten in endlosen Satzschleifen. Eine enge Freundschaft beginnt, allerdings meist nur brieflich und später auch telefonisch. Eines Tages überredet ihn Michael, sich nur noch auf die „Variationen“ zu konzentrieren und seine Berufe ganz aufzugeben. Er würde für seinen Lebensunterhalt aufkommen. Der Erzähler lässt sich überreden.
In dieser Zeit unternimmt er viele Wanderungen durch Budapest, etwas, das er schon früher gemacht hatte. Er erträgt es nämlich nicht, sich längere Zeit in einem geschlossenen Raum aufzuhalten. Und er beobachtet. Er beobachtet seine Mitbewohner im Haus, seine Mitmenschen unterwegs, es sind immer wieder die gleichen, die ihm auffallen: Bettler, Landstreicher, sozial Ausgegrenzte, Rowdies, die auch schon mal einen, der ihnen nicht behagt, zusammenschlagen. Er sieht Tote in Plastiksäcken liegen, die nicht gleich weggeschafft werden konnten. Das erinnert ihn an die Leichen, die 1945 in Budapests Straßen lagen, weil die Pfeilkreuzler zu viele aus dem Ghetto getrieben und ermordet hatten. In dieser Zeit kommt es vor, dass er aus sich heraustritt, nicht mehr weiß, wer und was er ist, Absencen hat. Das war ihm vorher nur zweimal so ergangen, als 17-18-Jährigem, als er ein Foto aus dem 2. Weltkrieg in die Hände bekam: „auf dem verstümmelte Zivilisten ausgestreckt auf einer Lichtung oder an einem Waldrand lagen: Das Gesicht der meisten war nicht zu erkennen; zertrümmerte Schädel, nebeneinander aufgereihte Gliedmaßen; über ihnen einige Soldaten….“
Als er durch einen Telefonanruf erfährt, dass sein Freund Michael Selbstmord begangen hat, bricht etwas in ihm zusammen. Immer häufiger überkommen ihn paranoide Wahnvorstellungen, er sieht Schatten, hat große Angst. Das bringt ihn dazu, das Fenster seiner Einzimmerwohnung vergittern zu lassen, obwohl sie nicht im Parterre liegt. Was in diesen Momenten mit ihm geschieht, weiß er nicht, will es auch nicht wissen, was er sieht. Er hat schizophrene Zustände, in denen er den Eindruck hat, dass nicht er es ist, der ist – und doch weiß er, dass er er ist: „Wenn ich endlich aussprechen könnte: Das und das bin ich“.
Jeden Tag dreht er stundenlang seine gleichen Runden durch Budapest, trifft die immer gleichen Menschen, die er beobachtet und über die er sich Gedanken macht. Hauptsächlich, so scheint es, leidet er an Ungarn, daran, dass sich das Land nicht seiner Vergangenheit und seinen Erinnerungen stellt.
Mit einem Mal spürt er, dass sich etwas beginnt, in ihm zu verändern, er hat das Gefühl, dass es ihm gut täte, wieder zu unterrichten. Doch er bekommt nur Absagen. Endlich erhält er eine Stelle als Saalwärter in einer Galerie. Anfangs kann er sich nicht entspannen, ist immer auf dem Sprung, versteckt sich: Ehemalige Kollegen, Bekannte und frühere Schüler sollen ihn hier nicht sehen, sollen nicht wissen, dass er „so“ ist. Er ist sich seiner selbst nicht sicher, fürchtet, dass er etwas anstellen könnte, wenn „es“ über ihn kommt, hat kein Zutrauen zu sich selbst. Am schlimmsten wäre es, mit ihm geschehe etwas, und die anderen würden es merken. Davor hat er Angst und daran muss er zwanghaft denken, dass dieses Etwas eintreten könnte, diese Anfälle, egal wo und egal wann. Er erinnert sich, dass er in den Minuten davor irgendetwas sucht, weiß aber nicht, was. Während diese „Sache“ über ihn kommt, ist er nur mit einem beschäftigt: Eins zu bleiben mit sich selbst, nicht auseinanderzufallen.
Elf Jahre ist er in der Galerie beschäftigt. Die ersten Jahre sind anstrengend, mit viel Publikumsverkehr. Er versucht sich ganz seiner Arbeit zu widmen, nicht zu denken, nur zu tun, alles gut zu machen. Im Laufe der Zeit beginnt er doch ernsthaft nachzudenken, weicht den Bildern nicht mehr aus, die über ihn kommen. Geholfen haben ihm dabei indirekt seine Kollegen, vor allem die „Gräfin“, eine Esterházy, der man ihren ganzen Besitz genommen hat, die schon viele Berufe hatte ausüben müssen, vom Klempner bis zur Taxifahrerin, und die eine gewisse Beschützerrolle für ihre Kollegen übernimmt. Als die Regierungen der „nicht miteinander Sprechenden“ wechseln und damit auch Leitung und Aufgabe der Galerie, kommen ruhigere Zeiten. Er hat mit einem Mal Zeit, die Stille um ihn herum, die Kunstwerke zu sich sprechen zu lassen. Er will wieder der sein, der er 40 Jahre lang war, bevor der Telefonanruf kam. Nach und nach wird er stärker und psychisch stabiler. Zusammen mit den Kunstobjekten, zusammen mit atmenden Menschen, ist es gut zu sein, auch deshalb weil er an nichts anderes denken muss…
Zwischenzeitlich hatten seine „Variationen“ ihren eigenen Weg angetreten; in den USA bekam er ein Stipendium dafür, welches ihm auch von der Leitung der Galerie bewilligt worden war.
Nach elf Jahren des Beobachtens, Lernens, des Sich-Vorwärts-Tastens glaubt er sich wieder so gefestigt, dass er ein zweites Stipendium in Amerika antreten kann und vielleicht auch die ständigen Anfänge in seinem Leben dort weiterführen wird: Mein Leben beginnt ständig, bei mir hat nichts eine Fortsetzung, und es gibt darin auch nichts anderes, nur den Beginn und das Beginnen, was traurig ist, ich weiß, weil man mit einundfünfzig vielleicht schon an einem anderen Punkt angekommen sein müsste.
Vier Jahre lang hatte er intensiv nachgedacht – Schicht um Schicht seiner zusammengepressten Erinnerungen abgetragen – das hat er von der abstrakten Malerei gelernt, wie dort Schicht um Schicht aufgetragen wurde, um einen bestimmten Farbton zu erreichen.
Und um nichts zu vergessen, was ihm durch den Kopf geht – und was er beobachtet oder an das er sich erinnert, schreibt er es schnell in ein kleines Notizbuch, das er immer bei sich trägt. Ängstlich gibt er Acht, dass ihm dabei niemand zusehen kann. Daraus will er ein Buch machen – dieses Buch – in Amerika, während seines Stipendiums. Jedenfalls hatte ich in diesen Tagen öfter das Gefühl: Es ist gut, zu leben, es ist gut zu sein.
Ferenc Barnás hat als Student viel im westlichen Ausland, in Deutschland und in der Schweiz gearbeitet, u.a. als Kellner, als Straßenmusikant, als Museumswärter. Dem ist zu verdanken, dass seine Beobachtungen so genau, farbig und lebensnah sind.
Die Sprache ist so auf den unter psychischen Störungen leidenden Erzähler zugeschnitten, dass man glaubt, ihm zuzuhören. Wenn der Leser nur genau genug zuhört – der Erzähler geht drei Schritte vor, dann zwei zurück -, indem er immer wieder relativiert, woran er sich gerade erinnert hat – hört er zwischen den Zeilen etwas über Geschichte und Politik, etwas über den Zustand Ungarns.
Das Buch verlangt vom Leser ein hohes Maß an Konzentration und Kombinationsvermögen, vor allem wegen der umständlichen, aber literarisch so ausgefeilten Sprache, welche die Spannung bis zum Ende hält. Es lohnt sich also sehr, durchzuhalten!
Über Ferenc Barnás: Der 1959 in Debrecen geborene Autor studierte in seiner Heimatstadt, in Budapest und München Hungarologie und Literaturwissenschaft. Er war als Straßenmusiker unterwegs, als Postbote, Bergmann und Fahrer, als Erzieher und Dozent für Musikästhetik.
Vier Romane hat er bisher geschrieben. „Der Neunte“, sein erstes, ins Deutsche übersetzte Buch, erhielt in den USA einen Preis für den besten ausländischen Roman. Wir Leser können nur hoffen, dass nach diesem zweiten Roman auch bald die Übersetzung der weiteren folgen wird.

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