Rezension: Magyar Isaacson, Judith – „Freut euch, ihr Lebenden, freut euch“ – Erinnerungen einer ungarischen Jüdin

Herausgegeben von Gerda Neu-Sokol
Verlag: Hentrich & Hentrich, 2010
ISBN 978-3-941450-10-3
Bezug: Buchhandel; Preis: 24,80 Euro

Judith Magyar Isaacson wuchs in der ungarischen Stadt Kaposvár auf und verbrachte dort eine unbeschwerte Kindheit und Jugend. Als Jüdin wurde sie im Juli 1944 nach Auschwitz deportiert. Zusammen mit ihrer Mutter Rose Magyar und ihrer Tante Magda Vágó Rosenberger durchlitt sie die KZ-Haft in Auschwitz sowie den Aufenthalt in dem zum KZ Buchenwald gehörigen Arbeitslager Hessisch-Lichtenau. Während der Zeit der Befreiung 1945 lernte sie im zerstörten Leipzig ihren späteren Ehemann, den Amerikaner Irving Isaacson, kennen.
Die Heirat, die Gründung einer Familie sowie die Umsiedelung nach Maine, USA, begründeten ihre Rückkehr in ein bürgerliches Leben und später den Beginn einer beruflichen Laufbahn.
Mit Beginn der 80er Jahre setzte sich Judith Magyar Isaacson zunehmend mit ihren Erinnerungen an den Holocaust auseinander; die daraus resultierende Niederschrift wurde mehr und mehr zu einer Hauptbeschäftigung. Entstanden ist daraus der erste – und weitaus umfangreichere – Teil dieses Erinnerungsbuches.
Unter dem Titel „Sarahs Töchter“ erzählt die Autorin in diesem Teil von ihrer Kindheit und dem Familienleben in Kaposvár, von dem Terror der KZ-Haft und des Arbeitslagers sowie der Zeit der Befreiung in Leipzig.
Den Abschluss des ersten Teils bildet die Schilderung ihrer ersten – emotional sehr bewegenden – Reise 1977 nach Kaposvár und weiteren Recherche-Reisen nach Hessisch Lichtenau und Fürstenhagen in den 80er Jahren. Ergänzt werden die zum Zeitpunkt der Verlobung bzw. Hochzeit geschriebenen Briefe an die noch unbekannten Familienangehörigen in Maine, denen sich die Autorin vertrauensvoll öffnet: „Eure Liebe ist sehr wichtig für mich“ – oder an anderer Stelle: “ Jetzt habe ich nur noch den Wunsch nach einem Zuhause, nach Liebe und einem ruhigen Leben.“
Nachdem der erste Teil 1990 erschienen war, gab Judith Magyar Isaacson sehr viele Lesungen und hielt Vorträge zum Thema Holocaust. Unvermittelt kamen dabei neue Erinnerungen auf; einzelne Ereignisse und Personen wurden dadurch wieder lebendig. Diese Erinnerungen begründen den zweiten Teil des Buches und sind von Reflektionen über ihr Leben in den USA und späteren Begegnungen mit der ehemaligen Heimat begleitet. Unter dem Titel „Weiterleben“ sind Geschichten versammelt, die sich auf die Befreiung und der ersten Begegnung mit Irving Isaacson beziehen, aber auch auf ihren in den 60er Jahren beginnenden neuen Lebensabschnitt: Die Aufnahme des Mathematik-Studiums, der Beginn ihrer Tätigkeit als Dozentin und als Dean of Women bzw. später Dean of Students am Bates College in Maine.
Nicht zuletzt finden sich in diesem zweiten Teil kurze Texte – Träume und Skizzen – die immer wieder die Schrecken der Vergangenheit evozieren.

Beide Teile des Buches sind durch eine äußerst lebendige Sprache und detaillierte Formulierungen gekennzeichnet. Nicht nur aus ihren eigenen Schilderungen, sondern auch aus den im Buch abgedruckten Fotos sowie den diversen Vor- und Geleitworten des Buches spricht eine Lebensfreude, die angesichts des erlebten Grauens rätselhaft erscheint. Dies insbesondere vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen im Lager B III in Auschwitz, in dem in der Regel niemand länger als drei Wochen überlebt hat. In einem Brief an ihre Schwägerin zur Zeit der Befreiung 1945 erklärt sie: „Trotzdem kann ich nicht sagen, daß ich in den Lagern sehr unglücklich war. Das Ganze war so schrecklich, daß es auf seltsame Weise unterhaltsamer war, als ich erwarten konnte.“
Ganz offensichtlich haben die Holocaust Erlebnisse die Selbstsicherheit und das Moralgefühl der Autorin nicht brechen können; immer wieder zeigt sich, wie sie unbeirrt ihrer Intuition folgte und nach eigenen Werten handelte. Zur Hilfe wurde ihr dabei die Literatur: Auschwitz ließ sie an Aldous Huxleys‘ schöne neue Welt denken und im Viehwaggon auf dem Weg nach Leipzig erinnerte sie sich an Goethes „Wanderers Nachtlied“.
Nicht zuletzt verweist allein der Titel des Buches „Freut euch, ihr Lebenden, freut euch“ auf die besondere Bedeutung der Literatur für Judith Magyar Isaacson: Dies ist die Zeile eines Gedichtes des ungarischen Dichters Endre Ady, die von der Autorin selbst als ihr ‚Auschwitzmotto‘ bezeichnet wird. Als ein weiteres Motto mag ihr ein Zitat von Sokrates gedient haben, das ihr ehemaliger Lehrer Dr. Biczó für sie in einem Buch gekennzeichnet hat, welches die Autorin wie vieles andere im Krieg verloren hatte: „Lieber ein Unrecht erleiden als ein Unrecht begehen.“

Judith Magyar Isaacson hegte lange den Traum – selbst in Auschwitz, aber auch später – an der Sorbonne Komparistik und französische Literatur, und in Ungarn dann ungarische Literatur zu studieren. Zwar hat sie sich später für ein Mathematikstudium entschieden; ihre Neigung für die Literatur jedenfalls hat sie mit dieser Niederschrift eindrucksvoll verwirklicht: Ein wichtiges Erinnerungsbuch für eine Generation, die nicht über eigene Erinnerungen an den Holocaust verfügt.

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