Rezension: Ackrill, Ursula – „Zeiden, im Januar“

Roman
Verlag: Klaus Wagenbach, Berlin, 2015
ISBN: 978-3-8031-3268-0
Bezug: Buchhandel, Preis: 19,90 €

Was wissen wir in Deutschland – und im wieder vereinigten Europa – über Siebenbürgen, genauer über die deutsch sprechenden Siebenbürger Sachsen? Sehr wenig bis gar nichts, erfuhr ich in zahlreichen Gesprächen. Als ich „Zeiden, im Januar“ in die Hände bekam, war ich sehr erfreut; denn die anfangs fast ausnahmslos guten, bis überschwänglichen Kritiken hatten mich neugierig gemacht. Die Autorin kam mit ihrem Debütroman sogar die Shortlist für den Leipziger Buchpreis! Mit diesem Buch, so dachte ich, könnte uns im Westen wieder ein Land mit seinen Menschen näher rücken, vor allem mit der Fokussierung auf eine kritische, folgenreiche Zeit. Doch leider musste ich bald ernüchtert feststellen, dass zwar über einen kleinen Zeitabschnitt, nämlich den Januar 1941 viel, über den 21. Januar fast minutiös, berichtet wird, ja, dass fast die ganze Geschichte der Zeidener und auch des übrigen sächsischen Siebenbürgen nur auf diesen einen Punkt hinzulaufen scheint, als die Zeidener sich nämlich entschlossen, dem Werben der Nazis nachzugeben und ihre jungen Männer in die Waffen-SS einschmuggelten. Von der jahrhundertealten Kultur- und Historienerzählung erfährt der Leser nur bruchstückhaft und ohne Zusammenhang. Das ist schade. Stattdessen muss er viel selbst recherchieren und häufig nachschlagen welche, der handelnden Personen fiktiv oder historisch verbürgt sind.
Sicher, die Autorin möchte nur die Zeit genauer beleuchten, in der sich für die Zeidener alles zum Schlechten wandte. Aber wie konnte es dazu kommen? Sie erwähnt nur am Rande und eher vorwurfsvoll, dass sich die Bevölkerung immer wieder ihre Eigenständigkeit erkämpfen musste, dass das Königreich Rumänien nach dem 2. Weltkrieg mit dem Versprechen lockte, den Sachsen ihre Selbständigkeit zurückzugeben, diese Zusage aber nicht einhielt. Aus dieser Enttäuschung heraus und um endlich wieder etwas zu gelten, schlossen sich die Siebenbürger, ähnlich wie die Banater, Nazideutschland an. So darf man die Geschichte meines Erachtens nicht verkürzen.
Darum halten sich Lob und Kritik hier die Waage: Lob, weil Ackrill ein Thema in ihrer Heimat Siebenbürgen angepackt hat, das so bisher noch nicht beleuchtet worden war. Sie wirft ein Schlaglicht auf die Verführung und die Verführbarkeit der Siebenbürger Sachsen durch Nazideutschland. Bislang war eher vom Elend zu lesen gewesen, das die Bevölkerung nach dem verlorenen 2. Weltkrieg mit Deutschland getroffen hatte, nämlich die Enteignung, die Verschleppung der arbeitsfähigen Menschen zur Zwangsarbeit in die UdSSR und die Repressalien in der dann folgende Diktatur in Rumänien. Die Autorin entwirft einen bunten Erzählteppich von Geschichte und Geschichten, stellt ihre Protagonisten mit ihren Biografien vor, flicht Erzählungen von früher ein, die teils authentisch, teils fiktiv sind.
Kritik ist anzumelden, weniger, weil der Leser nur mit hoher Konzentration dem Fortlauf des Romans folgen kann, da Ackrill ständig zwischen Zeiten und Orten hin- und herspringt – daran kann man sich gewöhnen – sondern vor allem, weil sie den Leser völlig allein lässt, die wirklichen historischen Gegebenheiten herauszufinden. Es wäre hilfreich gewesen in einem Vorwort oder Anhang einen kurzen Abriss der Geschichte der Siebenbürger Sachsen zu geben – und auch, warum sie, die nach dem 1. Weltkrieg noch für einen Anschluss an Rumänien votiert hatten, in den 40er Jahren eine solche Kehrtwende vollzogen.
Reizvoll ist zwar die Idee – verwirrt hier jedoch noch mehr – reale und fiktive Persönlichkeiten zu durchmischen, welche Ackrill im Anhang gleichberechtigt ohne Kommentar aufführt, mit Geburtsjahr, Geburtsort und Werdegang.
Die Autorin kennt das Ende – und von daher kann sie ihre Heldin, die Historikerin Leontine Philippi, die an einer Chronik Zeidens schreibt und unbedingt wissen will, wie „ihre Zeit“ sich entwickelt – hellsichtig und stur ihre Landsleute beschwören lassen, nicht auf die Propaganda der Verführer hereinzufallen, sich lieber an die Mehrheitsbevölkerung zu halten und mit dieser zu paktieren. Leontine wirft den Zeidenern vor, sich als eine verschworene Gemeinschaft zu sehen, die sich nicht assimilieren will, die sich gegen alle anderen Ethnien abgrenzt und die übermäßig stolz ist auf ihre handwerklichen Fertigkeiten und ihre Sparsamkeit. Leontine ist keine historische Figur, sondern die Vorstellung der Autorin, wie es gewesen wäre, hätte es eine solche Kassandra gegeben.
Leontine macht sich schon seit langem Gedanken darüber, wie ihre Mitbürger mit aller Kraft erst die Tradition verteidigten, ohne zu bemerken, dass sie sich damit in eine Sackgasse manövrierten – um dann mit genau dem gleichen Ingrimm auf die Versprechungen und Verführungen der Reichsdeutschen hereinfallen. „Was den Sachsen mangelt, ist indigene Selbstverständlichkeit. Dass wir endlich einmal nicht mehr rechtfertigen, unsere Existenz erklären und Meldung erstatten müssen, wer wir sind, wie wir hergekommen sind, wieso wir leben wollen, so wie wir wollen, wieso wir uns unterstehen, hier zu leben.“ Obwohl Leontine also den Grund für die Verführbarkeit kennt, macht sie ihren Zeidenern weiter Vorwürfe ohne ihnen aber eine praktikable Alternative aufzuzeigen.
Eine neue Zeit ist angebrochen: aus Deutschland kommen Abgesandte und Verführer und erinnern die Sachsen daran, dass sie Deutsche sind. Aber so gut und vertrauenswürdig sind diese dann auch wieder nicht, als dass sie in die Wehrmacht eintreten dürften. Für sie gibt es – wenn – dann nur die SS.
Alles kulminiert auf den einen Tag, den 21. Januar 1941 in Zeiden, der Wahlheimat Leontines, an dem die entscheidende Sitzung im Rathaus stattfindet – und auf der beschlossen werden soll, dem Ansinnen Deutschlands statt zu geben.
In immer neuen Schleifen, Gedankensplittern, Erinnerungsfetzen – mit Einschüben in die tatsächliche politische, gesellschaftliche und antisemitische Lage macht uns Ursula Ackrill mit einem kleinen Ausschnitt der Geschichte Siebenbürgens und mit den Biografien ihrer Protagonisten bekannt. In Zeiden z. B sympathisiert Apotheker Reimers mit den Möglichkeiten der Euthanasie: „Kinder, Kinder, die Euthanasie beseitigt nur Ballastexistenzen, die uns auf der Tasche liegen und verbrauchen“, seine Tochter Edith dagegen, will den Dorftrottel Joseph retten. – In Bukarest jagen und ermorden wild gewordene rumänische Legionäre die Juden. Die Autorin bedient sich dabei einer befremdlich exaltierten Sprache, die leider auch grammatikalische Fehler enthält und nichts mit dem Siebenbürger Idiom zu tun hat, so dass es manchmal schwer fällt bei der unfreiwilligen Komik ernst zu bleiben. („Die Sonne kämpft gegen die grauen Hüllen an, ein dampfender Knödel aus der Ursuppe“. – „Das Bett ist lauwarm, aber als Leontine sich wendet, ortet ihr Bauch die wärmste Mitte des Bettes und brütet sie“.)
Leontine hat eine Ziehtochter, Maria, sie kommt aus Bukarest nach Zeiden und führt Leontines Haushalt. In der Hauptstadt macht sie aber Geschäfte, kauft und verkauft Waren, welche die Legionäre den ausreisewilligen rumänischen Juden abgenommen haben. Maria scheint nichts zu verstehen, oder sie will es nicht. Für sie ist nur wichtig, dass die Rumänen – endlich! – wieder ein Volk sind mit „Weltkultur“ und traditioneller Mystik. Auch sie sind ein Herrenvolk geworden – und darauf ist sie stolz.
Andere Figuren sind historisch verbürgt, so etwa der „Aviator“ Albert Ziegler. ein bekannter sächsischer Testflieger und Erfinder, ein Jugendfreund Leontines, der sie schon 1913 aufgefordert hatte, mit ihm zu kommen, doch sie wollte hier, in ihrer Geschichte, weiterleben. „Ich kann nicht weggehen, bis ich sehe, wie diese Geschichte ausgeht. – Es ist leider Gottes meine Geschichte. – Ich kann sie nicht ändern, aber im Einzelnen nachzeichnen muss ich sie“. Auch der Arzt Fritz Klein, späterer KZ-Arzt, der Sturmbannführer Kurt Geißler und Andreas Schmidt, der die Musterung leitet, sind verbürgte Personen. Nicht so Franz Herfurth, Schularzt in Zeiden, mit dem Leontine lange Zeit freundschaftlich verbunden war. Mit ihm diskutierte sie heftig und lustvoll, bis Herfurth ebenfalls das Heil der Sachsen im Anschluss an das Deutsche Reich sah. Nun haben sie sich nichts mehr zu sagen.
Leontine argumentiert: Die Rumänen haben uns in ihrer Gewalt. – Nicht erst seit 1918, sie waren auch vorher die Mehrheit um uns, und haben nun noch die Staatsgewalt dazu. Was sie uns alles vorwerfen, läuft darauf hinaus, dass sie mehr Recht als wir auf das haben, was wir uns in Siebenbürgen erbaut haben. Sie haben zwar die Macht, sich in den Besitz unserer Eigentümer zu bringen. Das reicht aber nicht aus. Der Mensch braucht Rechtfertigung. Es soll kein Übergriff sein, sondern eine Rückgabe von uns an sie. Weil wir hier sowieso nichts zu suchen hätten. Weil wir unsere Städte unter ausbeuterischen rechtsverletzenden Umständen errichtet hätten. Weil wir ihnen etwas schuldig geblieben wären. – Das Verfahren können wir Schritt für Schritt verfolgen, wenn wir achtgeben, was den Juden widerfährt. Unter Deutschen und unter Rumänen“. Eigentlich liefert die Autorin damit doch den Grund, warum sich die Sachsen den Deutschen zuwenden.
Herfurth ist überzeugt, dass Hitler sie schützen würde vor den Rumänen, dass es für ihn ein Leichtes ist, sie in ihren angestammten Rechten zu belassen – und dafür muss man auch deutsch fühlen und sich für das deutsche Reich einsetzen. Doch Leontine hält dagegen: „ … Wir sind schwach und flehen wie kleine Kinder. Wir bilden uns ein, dass Deutschlands Absichten mit unseren übereinstimmen. – Deutschland jedoch will mit Amerika und Großbritannien ins Rennen gehen und die Vorrangstellung in der Welt erkämpfen. Wir wollen bloß unsere kauzige Stiftung Deutschtum unter den Schutz des Reichs stellen. Die ist dem Reich aber keinen Pfifferling wert. Alles was von der Nazi-Parteilinie abweicht, wird abgetrieben. Wo bleibt unsere Selbstregierung? Deutschland hat einfach Wichtigeres zu tun, als sich mit uns zu befassen…“
Auch andere Sachsen spricht sie an, sie haben doch Zeitung gelesen, wissen von der Gewalttätigkeit der Deutschen. Doch die Landsleute stellen sich unwissend. Dabei weiß die Lehrerin wie alle anderen im Raum: „Sie kennt die Nürnberger Gesetze, weiß vom Ausgang der Reichs-Kristallnacht, vom Feldzug durch Polen. Sie setzt auf die Macht des zweiten Gebots. Das zweite Gebot der Sachsen ist „Schweig.““
Nach der Versammlung wird Leontine von Schmidt verhört und bedroht, während man ihre Wohnung durchsucht. Sie weiß, sie kann nicht bleiben. Herfurth hilft ihr noch einmal: Sie kann am nächsten Morgen mit den gemusterten Jungen heimlich das Land Richtung Deutschland verlassen.

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