Rezension: Heidelberger-Leonard, Irene – „Imre Kertész. Leben und Werk“

Verlag: Wallstein, Göttingen, 2015
ISBN: 978-3-8353-1642-3
Bezug: Buchhandel, Preis: 19,90 Euro

Etliche Literaturwissenschaftler, Weggefährten, Freunde, Studenten, Doktoranden und Philosophen haben sich bereits intensiv mit Kertész‘ Werk und Leben auseinandergesetzt. Nun liegt ein neues Buch vor: Irene Heidelberger-Leonard führt uns gut lesbar und einfühlsam ein in die enge Verflechtung von Leben und Werk des Nobelpreisträgers. Wer einen Einstieg zu Biografie und Werk des Schriftstellers sucht – und wer seinen Überblick vertiefen möchte, der ist hier gut beraten. Heidelberger-Leonard geht von Kertész‘ Grundimpuls aus, dass in der Diktatur Opfer und Henker austauschbar sind – jeder ist schuldig – nur die Toten sind unschuldig (Kertész). Sowohl Opfer als auch Täter nehmen ihre Rolle an – und sind daher schuldig – über sie wird verfügt – deshalb sind sie „schicksallos“. Anhand dieser Konstellation, Opfer und Henker, macht uns die Autorin mit Kertész gesamtem Werk bekannt und gibt dabei tiefe Einblicke in den jeweiligen Lebensabschnitt des Schreibenden. Ausführlich hat Kertész die Verzahnung seiner Werke mit seinem Leben in seinen Tagebüchern notiert, vor allem im zuletzt erschienenen „Letzte Einkehr“. Heidelberger-Leonard konnte Gespräche mit Kertész führen, seine Freunde befragen und Einsicht nehmen in die Materialsammlung der Kertész-Stiftung in Jena.
Diese Grundlagen – und die weitere Feststellung, dass mit Auschwitz der Grundkonsens, das Grundvertrauen in Europa vernichtet wurde und damit auch die Selbstbestimmung des Individuums, bilden das Gerüst für das ganze Buch. Kertész selbst beleuchtet den zuletzt genannten Aspekt in allen seinen Werken. Frei fühlt er sich nur im Schreiben, wenn er seinen Figuren, d.h. auch seinem eigenen Ich, die Freiheiten – aber auch die Determiniertheiten gestattet, mit denen der Autor im realen Leben das Drama Auschwitz verarbeiten kann. Heidelberger-Leonard geht es aber nicht nur um das Miteinander von Kertész‘ Leben und Werk, sondern auch um seine Lektüre, um die Biografien der Autoren, die ihn berührten und seinen Stil prägten bezüglich Sprache und Inhalt: Nietzsche, Thomas Mann, Jean Améry, Franz Kafka, Paul Celan, Sándor Márai –Weltliteratur, die sich komprimiert in seinem Werk niederschlägt.
Kertész lebt nicht, wie er selbst sagt, um zu schreiben, sondern er schreibt, um zu leben; er schreibt, um das, was ihm widerfahren ist, zu verstehen – um sein Leben zu verstehen. In seinen Romanen stirbt er immer neue Tode – und befreit sich schreibend von ihnen. Dabei versteckt er sein Ich hinter und in seinen Romanen, mit denen er das eigene Leben zu bewältigen sucht. Es geht ihm dabei nicht um seine Autobiografie, sondern um die immer gleiche Frage: wie konnte der Mensch so weit kommen, wie konnte er den gesamten Humanismus, den Europa jahrhundertelang angehäuft hatte, über Bord werfen? Und wenn er sagt, das einzige Thema, über welches er schreibe, sei Auschwitz, so ist das richtig: Auschwitz ist der Ausgangs- und Endpunkt von allem. Seit Auschwitz wissen wir mit Sicherheit – was andere Denker und Schriftsteller davor schon angedacht hatten: Jeder kann ein Mörder sein, jeder zugleich Täter und Opfer. Auschwitz war kein „Ausrutscher der Geschichte“, sondern könnte jederzeit wieder geschehen.
Und wie entfesselt sich diese ganze Täter-Opfer-Struktur entwickelt hat, sieht, hört und spürt man mit Schaudern – allein wenn man die täglichen Nachrichten verfolgt.
Für jeden seiner Romane hat Kertész eine eigene Sprache gefunden, so Heidelberger-Leonard. Ein Roman baut auf dem anderen auf, wenngleich der eine nichts mit dem nächsten zu tun zu haben scheint. Manchmal liegen Jahrzehnte zwischen Beginn und Fertigstellung eines Werkes – und doch kehrt der Schriftsteller immer wieder zum begonnenen Werk, zum Ausgangspunkt zurück.
Das unermessliche Leid in Auschwitz habe ihn zu unermesslichem Wissen geführt, sagt Kertész; Auschwitz habe eine Kultur, einen Geist der Katharsis hervorgebracht.

In sieben Kapiteln fasst die Autorin die Werke zusammen, die inhaltlich in engem Zusammenhang stehen, gleichzeitig blättert sie Kertész‘ Leben auf: die Herkunft seiner Eltern, den Freiheitsdrang der Mutter, die Eifersucht des Vaters – die Trennung der Eltern, das Internat, welches er verabscheute, die unglückliche Beziehung zum Vater. Noch 1982 schreibt Kertész in sein Tagebuch: Das Verhältnis zu meinem Vater ist die Grundformel meines Lebens“, die Verschleppung des Vaters zur Zwangsarbeit, seine eigene Verhaftung mit 17 weiteren Schulkameraden, die anschließende Deportierung nach Auschwitz, welche er als Einziger überlebt, seine Rückkehr, die Jobsuche, Leben, Heirat und sein Exil in einer Einzimmerwohnung während der Rákosi und der Kádár-Zeit, seine innere Emigration, um „das einzig mögliche Buch zu schreiben“ – auf ungarisch. 1958 war ihm bewusst geworden, dass für ihn „nur eine Wirklichkeit existierte: ich selbst, und dass ich aus dieser einmaligen Wirklichkeit meine einmalige Welt erschaffen musste.“
Kertész ist die Stimme, die nicht nur das eigene Erleben schildert, literarisch universell überhöht; sondern in seinen Romanen zur Katharsis auffordert, die Gründe für das wahnhafte Morden nennt, eindringlich dem Leser zeigt, wie dieses Morden in Gedanken und Taten bis heute weitergeht. Für ihn bedeutet Auschwitz, nach seinen eigenen Worten, nicht nur überleben, sondern auch wissen um den ganzen Menschen, der einmal Opfer und einmal – oder gleichzeitig Mörder ist.
1951 wird Kertész zum Militärdienst einberufen und zeitweise als Wächter im Militärgefängnis eingesetzt. Diese Episode hat ihn sehr geprägt. (Ich, der Henker).
Heidelberger-Leonard gibt Auskunft über die Zusammenhänge zwischen seinen Werken, schreibt über die jahrzehntelange Arbeit an seinen Romanen, über die Lektüre, die Mühen, die ausweichenden Arbeiten mit Übersetzungen, die Verzweiflung, bis er die jeweils angemessene Sprache findet.
Nach dem Ende der Diktatur wird Kertész das Leben im Ostblock vollends unerträglich, er ist der Ansicht, dass der Systemwechsel Ungarn nicht zur Freiheit geführt hat. So viele Hoffnungen seien in so kurzer Zeit vernichtet worden, schreibt er. (Nachzulesen in der Korrespondenz mit Eva Haldimann.)
1990 tritt er aus dem Ungarischen Schriftstellerverband aus, da er offenem Antisemitismus ausgesetzt ist. Zehn Jahre später siedelt er für viele Jahre nach Berlin. In Deutschland wird sein Werk geschätzt, hier fühlt er sich verstanden, und hier beginnt Kertész sein neues Leben mit der ungarischen Amerikanerin Magda Mária Ambrus-Sass. Hier erfährt er vom Nobelpreis für Literatur, der ihm 2002 überreicht wird. Das Schreiben, seine einzige Identität, wird zunehmend beschwerlicher (s. Letzte Einkehr). Die Verpflichtungen, denen er sich nach dem Nobelpreis ausgesetzt sieht, freuen ihn, machen ihm aber auch zu schaffen. In Ungarn tut sich, nach anfänglicher Begeisterung über den Nobelpreis, die Mehrheit seiner Landsleute bis zum heutigen Tag, schwer mit Kertész‘ Werken. Politik und Bevölkerung stellen sich nicht ihrer Vergangenheit unter Hitler – und so verwandelt sich der Weltautor und Nobelpreisträger in seinem Heimatland in eine Hassfigur – Kertész‘ eigene Wahrnehmung, als er noch in Berlin lebt. Gleichzeitig verzweifelt er an Orbáns Politik.
Seine Gesundheit zwingt ihn schließlich, 2012 nach Budapest zurückzukehren.
2014 nimmt er den Orden des Hl. Stefan entgegen, den höchsten Orden des Landes, was bei seinen Freunden auf Unverständnis und bei seinen Feinden auf Hohn trifft. Er sagt dazu, er nehme den Orden an im Geist der Versöhnung; denn im heutigen Ungarn sei es dringend nötig, endlich wieder einen Konsens herzustellen.
Das Geheimnis von Kertész‘ ganzem Leben und Werk liegt in der Spannung zwischen Selbstschöpfung und Selbstvernichtung, zwischen unbedingtem Gestaltungswillen und tiefer Verzweiflung.
Damit zeigt uns die Autorin Kertész als Mensch und sensiblen Künstler und nicht als unberührbares Denkmal. Vor allem beschäftigt sie sich dabei mit der literarischen Bedeutung seiner Werke, die bis heute zu oft hinter dem Leben des Schriftstellers nicht recht wahrgenommen wird.

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