Rezension: Spiró, György – „Träume und Spuren“

Novellen
Aus dem Ungarischen von Ernő Zeltner
Verlag: Nischen, Wien & Budapest, 2013
ISBN: 978-3-9503345-4-8
Originaltitel: vom Autor aus zwei Sammelbänden ausgewählt
Bezug: Buchhandel; Preis: 19,80 Euro

In Deutschland nur wenigen durch seine Bühnenwerke bekannt, ist György Spiró einer der bekanntesten und begabtesten Schriftsteller Ungarns, der alle literarischen Gattungen beherrscht. Im vergangenen Jahr konnte man ihn endlich im neu gegründeten Nischen-Verlag, Wien & Budapest, entdecken, mit seinem Roman „Der Verruf“, Darin geht es um den Aufstand 1956, um Macht und Willkür des Parteiapparats.
In den 18 Novellen hier, die er selbst ausgesucht hat, schaut ein Kind, ein Jugendlicher, ein Erwachsener, mit naiv staunenden Augen und später bewusst hinter die Kulissen des mörderischen Apparats, später „Gulaschkommunismus“ genannt, sieht in die Abgründe des Systems und kombiniert die Hintergründe.
Jahreszahlen und Personennamen werden selten genannt; durch Kenntnis einiger Zusammenhänge lässt sich aber bald errechnen, dass der Ich-Erzähler der Geschichten in Vielem identisch ist mit dem Autor: 1946 geboren, Jude, Schriftsteller. Eine Autobiografie sind diese Novellen dennoch nicht: Stellvertretend für viele seiner Zeitgenossen erlebt und erleidet der Erzähler diese Ära:
Als dreieinhalbjähriges Kind erlebt er, wie sich die Eltern nächtens mit „Spanienkämpfern“ an der tschechoslowakischen Grenze treffen. Es ist die Zeit des Rajk-Prozesses. Auch er war ein Spanienkämpfer gewesen. Es spürt die Angst und die Unruhe der Erwachsenen, doch selbst genießt es die Fahrt, das lange Aufbleiben, den ungewohnten Tagesablauf.
In diese Zeit oder etwas später fällt auch der Wunsch seiner Mutter, ihn durch eine österreichische Kinderfrau, die Nuschi-Néni, deutsch lernen zu lassen. Sie selbst hatte in einem Heim bei Wien einige Brocken aufgeschnappt, wie wir später erfahren. Mit dieser Néni macht das Kind aber lieber Spiele auf Ungarisch, diktiert ihr, da er selbst noch nicht schreiben kann, fantasievolle Geschichten. Die ersten Enttäuschungen über die Erwachsenen kommen: Ihm fällt turnen leicht, er ist ein richtiges Ass. Doch als er, nach längerer Krankheit rundlich geworden, wieder turnen will, erkennt ihn sein Lehrer nicht mehr – und turnen fällt ihm auch nicht mehr leicht. Die Nuschi-Néni kommt bald nicht mehr. Dafür wird er der strengen, ungeliebten Großmutter anvertraut, die ihren Enkel hasst und nur Schlechtes über ihn zu berichten weiß. Auch die Schule enttäuscht ihn: Alle müssen das Gleiche tun, darauf wird großer Wert gelegt – selbst wenn es andere, bessere Wege zur Lösung gäbe.
1956. Inzwischen ist er 10 Jahre alt – und kann sich nicht erklären, warum plötzlich Allerseelen, der 2. November, mit so vielen Kerzen als christlicher Feiertag begangen wird. Erklärt wird ihm offenbar nichts, denn: „Sie hatten Geheimnisse vor mir, seit ich auf der Welt war. Ich wurde in friedlichen Straßen spazieren gefahren – und da knattern jetzt Maschinenpistolen, so als ob man Puffmais röstet. … Früher schliefen wir in unseren Pyjamas, jetzt liegen wir in Trainingsanzügen auf dem Boden mit einem Bündel neben uns….“ und: …“Ich konnte nur staunen, mit welcher Selbstverständlichkeit Mutter und Großmutter dieses für mich ungewöhnliche Leben lebten, so als merkten sie gar nicht, dass seit dem Krieg schon elf Jahre vergangen waren… „ …“Ich habe historische Tage miterlebt….“ Seit dieser Zeit ist für den Erzähler nichts mehr von Dauer und Ewigkeit. Überall sieht er hinter die Fassade, sieht, wie noch intakte Häuser als Ruinen aussähen, von Gestrüpp überwuchert.
Manche Geschichten erzählt Spiró mehrmals, aus unterschiedlicher Sicht, aus unterschiedlichen Jahren. So auch die vom Schuldirektor, einem gewalttätigern Menschen, der die Schüler hart bestrafte und doch verlangte, dass man ihn und die übrigen Lehrer „liebte“. Jahrzehnte später wird er mit diesem Direktor zum Ehrenbürger der Stadt ernannt – und wie er so schön bemerkt: „Also hatte der eine Ehrenbürger dem anderen einst mit der Holzlatte den Arsch versohlt.“ Und: „Vielleicht ist die Voraussetzung für ein langes Leben aber auch, dass man nicht geprügelt wird, sondern selber prügelt.“
Eine der berührendsten Erzählungen ist die, als er mit seinem todkranken Vater zum letzten Mal ein Fußballspiel besucht. Das musste 1974 gewesen sein, Ungarn gegen Schweden. Der Vater ist eigentlich schon viel zu schwach, um sich in mörderischer Hitze ein Fußballspiel anzusehen, aber um seinem Sohn die Freude nicht zu verderben, nimmt er die Strapazen auf sich. Und der Sohn? Er will seinem Vater eine letzte Freude machen, hat gleichzeitig Angst, ihn zu überfordern. Ernsthaft unterhalten haben sie sich schon lange nicht mehr. Er weiß, dass der Vater bald sterben wird – was man diesem verheimlicht – und ist einerseits froh, wenn diese Quälerei endlich ein Ende haben wird – andererseits würde er am liebsten jetzt gleich anfangen zu trauern, jetzt, wo er sich noch unter Kontrolle hat – und damit es bald vorbei ist.
Noch eine Geschichte vom sterbenden Vater: Er hat ein Bombenthema für seinen Sohn geträumt, freut sich darüber. Bevor er den Traum erzählen kann, ist er tot.
Familiengeschichten werden erzählt, Ehegeschichten, immer wieder geht es vordergründig darum, dass man sich nicht versteht, sich quält. Aber hinter allem steckt eine Sprachlosigkeit, ein Nicht-Bescheid-Wissen. Da geht es um die Noch-Ehefrau, die sich in alles Russische verliebt, weil ihr jung verstorbener Vater Russe war. Doch die Hauptursache für die Trennung ist die, dass der Ehemann versucht hat, sie nach seinem Geschmack umzumodeln, ihr die Schönheiten der ungarischen Literatur nahe zu bringen. Nun muss er erkennen, dass es eine Literatur gibt, welche seine Frau noch stärker beeindruckt, nämlich die russische – und außerdem hat sie einen Vater in ihm gesucht.
Eine andere Geschichte: Sie dürfen ins Ausland reisen, Devisen werden zugeteilt. Sie kaufen eine Menge Bücher in Paris und London. Fast alles Geld ist draufgegangen. Sie haben reine Literatur gekauft, hauptsächlich russische. Etwa 40 Bücher quetschen sie in ihre Rucksäcke. Hinter Hegyeshalom kommen die Zöllner – und schadenfroh teilen sie mit, dass alle Bücher konfisziert werden, was in Budapest auch so geschieht. Ausgeliefert der Staatsgewalt des „Gulaschkommunismus“. Sie sind sicher, dass die Zöllner ihren russischen Kollegen die Bücher gegen Schnaps „verkaufen“. Nur den einbändigen Shakespeare dürfen sie mitnehmen: „Den Shakespeare fürchten die nicht so sehr. Sie kennen ihn nicht gut genug. Zu unserem Glück“.
Und dann ist der Erzähler im Jetzt angekommen: 2008: Er fährt mit der Straßenbahn Richtung Kettenbrücke und beobachtet ein etwa 17jähriges Mädchen, das einem Jungen auf dem Schoß sitzt. Sie sagt zu ihm: „Jetzt kommt gleich das, worüber der Lehrer gesagt hat, was man am besten mit ihnen machen sollte“. Der Erzähler versteht sofort was sie meint: die Juden in die Donau schießen, wie 1944. Sie passieren nämlich gerade das Denkmal der bronzenen Schuhe an der Donau. Aus den Augen des gut gekleideten Mädchens spricht ungeheuerer Hass.
Spiró, der Erzähler, ist bekannt in Ungarn, auch als Jude. In einer anderen Novelle provoziert ihn ein Mitfahrer mit aus dem Zusammenhang gerissenen Sätzen, die er über Ungarn und die Ungarn geschrieben haben soll. Er verteidigt sich, doch sein Gegenüber besteht darauf, dass man seine Bücher nicht lesen solle. Die jungen Leute allerdings, nehmen keine Notiz davon – sie haben Kopfhörer in den Ohren und wissen überhaupt nicht, wessen Bücher sie nicht lesen sollen.
In der letzten Geschichte rollt der Erzähler die Biografie seiner Familie auf, kehrt in seine Kindheit zurück,, womit sich der Kreis schließt: Die Großmutter hat sich Anfang 1957, knapp 60jährig, mit Schlaftabletten das Leben genommen, um sich an der Familie zu rächen. So, jetzt könnt ihr euch freuen“ – schreibt sie als „Abschiedsbrief“. Sie schien alle gehasst zu haben, außer ihrer Tochter. Nur einmal war sie sich ihrer Wichtigkeit bewusst gewesen, 1956, während der Revolution. Da wurde sie gebraucht. Da hatte sie genau gewusst wie zu leben sei – nämlich wie im Krieg, auch wenn der bereits seit 11 Jahren vorbei war. Großmutter erbeutete sogar ein Stück vom abgehauenen Ohr der Stalinstatue und schenkte es dem Enkel, doch die Mutter warf es später aus Angst weg.
Spirós Geschichten sind alle irgendwie traurig, handeln von nicht bewältigtem Leben, vom krampfhaften Versuch, sich ein eigenes Leben zu bewahren. Sie erzählen von der schwierigen Lage von Unfreiheit und Schikanen der Kádár-Ära, aber auch von der Scheinheiligkeit der Landsleute im Ausland, wie der Cousine in New York. Die Geschichten sind zynisch und manchmal grausam – und auch wieder ironisch, wenn er z.B. wie oben, daran denkt, wie er im Kinderwagen durch Budapests Straßen geschoben wurde – in denen man jetzt schießt, als würde Puffmais zerplatzen.

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