Rezension: Feory, Ana – „Ungarn … eine Kindheit und Jugend in der Diktatur“

Autobiografie
Verlag: Frankfurter Taschenbuchverlag (public book media Verlag), 2013
ISBN 978-3-86369-189-9
Bezug: Buchhandel, Preis: 14,90 Euro

Das 120 Seiten umfassende Buch schildert das persönliche Schicksal einer Exilungarin, wie es tausendfach erlebt wurde. Und doch wird klar, wie gnadenlos ein einziger Mensch im Wirbel der Weltgeschichte hin und her geschleudert wird, obwohl er eigentlich nur eines will: leben!
Weihnachten 2011: Die Autorin besucht Budapest. Dieser Besuch mit den vielerlei Beobachtungen und Erlebnissen wühlt sie auf, spült Erinnerungen hoch, lässt sie nachdenklich werden – über ihre Vergangenheit, ihre Orientierung zwischen Ungarn und Deutschland, wohin sie 1963 geflüchtet war.
Es bedrückt sie, die armselige Situation der Bevölkerung sehen zu müssen, 22 Jahre nach der Wende. Sie macht sich Vorwürfe: „All die Jahre hast du dich nicht um dein Land gekümmert!“ Sie hatte sich nur um westliche Lebensart bemüht, in der sie hoch aufgestiegen war und dann, nach dem Tod ihres zweiten Mannes Marc total abgestürzt ist.
Bei früheren Besuchen, ab 1973, widerten sie die Schikanen an der Grenze an, andererseits genoss sie es, von den Ungarn beneidet zu werden, wenn sie ihren Status vorführte. Ihrem Sohn hatte sie nie ihre Muttersprache beigebracht. Anpassen, nicht auffallen, besser sein als die Deutschen, das war ihre Devise während ihres Aufstiegs. Jetzt erkennt sie ihre Aufgabe, am Weihnachtsfest 2011: Sie muss sich für Ungarn einsetzen, das in ihren Augen ausgegrenzt und ungerecht behandelt wird – und entschließt sich, dieses Buch zu schreiben:
1944 musste die Familie aus Budapest flüchten, ihre noble Villa verlassen und in die Gerecse-Berge flüchten. Als Halbjuden waren sie bedroht. Plötzlich war das schöne Leben vorbei mit Personal, mit Reisen in das wieder ungarische Siebenbürgen. Sie, damals vier Jahre alt, und ihre jüngere Schwester verstanden das alles nicht: Krieg, Flucht, Sirenen, Bomben.
In Baj – heute zu Tata gehörend – lebten sie primitiv, aber total abgeschieden bis zum Ende des Krieges und immer in der Angst, entdeckt zu werden. Der Vater versorgte sie, versuchte in Budapest seine kleine Chemie-Firma weiter zu führen. Er ernährte, so gut es ging, nicht nur seine Familie sondern auch seine Geliebte Elisabeth. Für die Mutter war das alles eine Katastrophe; oft genug ließ sie ihre Verzweiflung an den Kindern aus. Schließlich kam die Großmutter zu Hilfe. Inzwischen rückte die Front näher; Budapest war zur Festung erklärt worden: 102 Tage dauerte der Kampf um die Hauptstadt.
Nach Ende des Krieges zog die Familie wieder nach Budapest. Ana wurde wegen dauernder Unterernährung schwer krank. 1946 konnten sie eine Villa beziehen. Die Eltern trennten sich jetzt offiziell, wenngleich der Kontakt niemals abriss. Absurderweise wurde die Mutter nochmals schwanger. Sohn Nico war kein einfaches Kind, kam später sogar in ein Heim, nachdem Mutter und Schwestern nicht mehr fertig wurden mit ihm.
Ab 1947 herrschten die Kommunisten, lähmende Angst breitete sich aus, angebliche „Klassenfeinde“ wurden einfach abgeholt. 1952 kam der Vater zusammen mit seiner Geliebten ums Leben, als sie mit dem Motorrad unterwegs waren und von einem Geheimpolizeiwagen gerammt wurden.
Ana, inzwischen 13 Jahre alt, wurde allmählich selbstbewusst mit klaren Vorstellungen. Sie wagte 1953 sogar den kleinen Aufstand: In der Schule weigerte sie sich, den toten Stalin zu betrauern. Im Land formierten sich verschiedene oppositionelle Gruppen. Rákosi trat zurück. Die Leute hörten „Radio Free Europe“ und hofften auf Hilfe. Nach der 4. Klasse durfte Ana wegen ihrer Abstammung nicht in das Gymnasium in Buda, wo sie wohnten, sondern musste mit der Tram ans andere Ende von Pest fahren. Die lange Fahrt langweilte sie aber überhaupt nicht, neugierig sammelte sie viele Eindrücke von unterwegs.
Die Mutter ging inzwischen zwei Arbeiten nach, um Geld zu verdienen. Deshalb vermietete sie auch ein Zimmer an einen Studenten, Imre, der wohl mit dem Aufstand etwas zu tun hatte. Als am 23. Oktober 1956 die Tram nur noch bis zur Brücke fahren konnte, begann für Ana eine kurze, aber oft lebensgefährliche Zeit des Freiheitsgefühls. Voller Neugier zog es sie immer dorthin, wo „etwas los“ war, so u.a. auch zum Heldenplatz, als das Stalin-Denkmal gestürzt wurde. Der trügerischen Ruhe und dem aufkeimenden Gefühl von Freiheit wurde abrupt am 4. November ein Ende bereitet. Allen Versprechungen zum Trotz entpuppten sich die Ankündigungen von „Radio Free Europe“ als Seifenblasen: Die Sowjets marschierten ein. Die Idee, gemeinsam mit der Freundin Eva zu fliehen, konnte sie nicht umsetzen. Jetzt blieb nur die Möglichkeit, sich im neuen Regime einen Freiraum zu suchen, und den fand sie im Kanu-Club. Nach dem Abitur durfte Ana nicht zur Universität, wiederum wegen ihrer Abstammung. Sie lernte Buchhändlerin. Erst 1960 bekam sie einen Studienplatz. Im Kanu-Club aber machte sie Karriere und war kurz davor, in die Nationalmannschaft aufgenommen zu werden. Doch auch dieser Traum zerschlug sich brutal und schnöde, da eine Kameradin sie zum Kentern gebracht hatte. Nun konnte sie ihre unbändige Sehnsucht nach Freiheit nicht mehr zurückhalten: Sie plante die Flucht. Mit geradezu militärischer Präzision gelang ihr diese dann auch 1963; sie war 23 Jahre alt. In Deutschland begann sie ganz unten, wie sie selbst sagt, und hat vieles geschafft.
Das Buch beschreibt das Schicksal eines Lebens im Strudel des Krieges und der kommunistischen Zeit danach. Der Leser begleitet ein junges Mädchen, das zu einer wohlhabenden Familie gehörte, dann aber immer wieder am unteren Rand der materiellen Existenz leben musste und vor Hunger schwer krank wurde. Hinzu kam die tiefe Verletzung durch ihre persönlichen Erfahrungen in der Familie, wo sich die Mutter einerseits bis zur Erschöpfung aufopferte, andererseits oftmals keine Wärme mehr für ihre Kinder übrig hatte. Der Vater, der sich intensiv um die Kinder kümmerte, sie auch nach der Trennung z.B. ins Theater einlud, ist eine Beziehungsperson, wie man sie sich eigentlich wünschte. Sein gewaltsamer Tod hinterließ in dem jungen Mädchen eine Leere, aus der sich jedoch der Wille zur Selbständigkeit und zur Freiheit herausbildete. Ana beschreibt oft beinahe romantisch die Schönheiten der Natur, der Erlebnisse, selbst im Krieg; Faktoren, aus denen sie Kraft bezog. Sie lässt den Leser teilhaben an ihren innersten, ehrlichen, oft genug auch zaudernden Gefühlen, wie z.B. ihr zwiespältiges Verhältnis zu dem Studenten Imre. Die „Flucht“ in den Kanusport befreite sie für einen kleinen Teil, aber immer wieder wurde sie auf den harten Boden der Realität zurück geworfen. Der Leser erlebt, wie sich ein junger Mensch sein eigenes Leben erobern möchte und nie aufgibt.
Die im Schlusswort angeführten Anklagen an die Adresse der EU sind zwar aus der Sicht der Autorin verständlich, da sie seit ihrem Besuch 2011 in Budapest ihre „Bekehrung“ zu ihrer Herkunft ernst nimmt; allerdings übersieht sie, dass viele Probleme „hausgemacht“ sind und aus Versäumnissen der verschiedenen Regierungen herrühren.
Da die erste Auflage eine Reihe von Fehlern enthält, ist lt. Auskunft der Autorin eine verbesserte zweite Auflage in Arbeit.
Wolf Brzoska

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