Rezension: Mora, Terézia – „Das Ungeheuer“

Roman
Verlag: Luchterhand Literaturverlag München, 2013
ISBN: 978-3-630-87365-7
Bezug: Buchhandel, Preis: 22,99 Euro

Mit diesem Roman hat Terézia Mora 2013 die Jury überzeugt und erhielt dafür den Deutschen Buchpreis. „Das Ungeheuer ist ein tief bewegender und zeitdiagnostischer Roman“, so die Kritiker- sie habe damit ein stilistisch virtuoses Werk und eine lebendige Road Novel aus dem heutigen Osteuropa geschaffen.
Wir begegnen hier dem Antihelden Darius Kopp wieder, den wir aus „Der einzige Mann auf dem Kontinent“, 2010, kennen gelernt haben, gutmütig, dick und zufrieden, wenn er essen kann. Er ist IT-Spezialist und am Ende des Romans mal wieder arbeitslos. Damals war auch seine Frau Flora, gebürtige Ungarn, Übersetzerin, Serviererin, häufig ohne Job, noch mit im Lebensspiel. Inzwischen ist sie tot; sie hat sich erhängt – und für Darius Kopp ist damit die Welt zusammengebrochen. Zehn Jahre lang waren sie ein Paar gewesen, neun Jahre verheiratet. Es war doch alles immer gut gewesen zwischen ihnen, eine Weile hatten sie doch im Paradies gelebt? Er kann die Tat nicht verstehen. – Den Beruf hatte er schon im ersten Buch verloren – jetzt auch Flora. „…Wohin kannst du gehen, wenn statt eines Ortes eine Person dein Zuhause geworden ist“? Sie hatte sich einmal beiläufig gewünscht, ihre Asche möge verstreut werden – und Darius möchte diesen letzten Willen erfüllen. Aber kein Ort scheint ihm passend.
Für zehn Monate zieht er sich zurück und trauert. Sein Leben besteht aus Fertigpizzen, Alkohol und DVDs; Kopp hat eine Methode entwickelt, die ehemals gemeinsame Wohnung nicht mehr verlassen zu müssen. Bis Freund Juri ihn mit Gewalt da herausholt, ihn zu einem Vorstellungsgespräch zwingt. Der Auftritt geht aber schief, nicht nur, weil er überqualifiziert, der neue Chef nicht von ihm überzeugt ist, sondern weil Kopp selbst nicht will. Schon zu Floras Lebzeiten hatte ihr Mann entdeckt, dass sie eine „Geheimdatei“ auf ihrem Laptop führte – auf Ungarisch. Dabei hatte er immer den Eindruck gehabt, sie wolle mit Ungarisch und Ungarn gar nichts mehr zu tun haben.
Bei einer Lesung erzählte Mora, dass sie Floras Geheimdatei auf Ungarisch geschrieben hatte – und ins Deutsche übersetzt (diese Anmerkung sollte in der Neuauflage stehen). Und zwar in ein Deutsch, das nicht geschliffen klingt, sondern ganz wörtlich aus dem Ungarischen übersetzt ist. Sie wollte damit auch äußerlich jedem ihrer Helden eine ganz eigene Stimme geben. Kenntlich macht dieser eigene Text auch eine horizontale Linie, die sich durchs ganze Buch zieht. Sie trennt die „Unterwelt“ von der „Oberwelt“, die Welt der Toten von der der Lebenden. Zwei Lesebändchen erleichtern dabei den Überblick. Das Buch ist in fortlaufende Kapitel eingeteilt, was das Lesen ungemein erleichtert, wenn man abwechselnd (und nicht parallel) Darius’ und Floras Texte liest.

Nach Floras Tod hatte er versucht zu arbeiten. 14 Tage Trauer waren ihm zugestanden – doch eines Tages geht er einfach nicht mehr hin, holt nicht mal seine persönlichen Sachen ab. – Von einer jungen Frau lässt sich Kopp die Eintragungen übersetzen – und fährt dann los, Richtung Osten. Es gelingt ihm sogar, sich die Asche seiner Frau in einem Pappkarton nachschicken zu lassen. Er hat einen Plan, nämlich die Asche seiner Frau zu bestatten – aber kein Ziel. Jetzt ist er unterwegs, mit ihrer Asche im Kofferraum.
Damit sind wir bei einem der großen gesellschaftlichen Themen unserer Gegenwart: Wieviel Trauerzeit wird einem Menschen zugestanden – bis er sich wieder – um vergessen zu können, um sich abzulenken – in den Arbeitstrubel stürzen muss. Nicht umsonst gab es früher ein Trauerjahr. „Dass zu trauern nicht ein sich Gehenlassen, gar ein Nichtstun ist, sondern, im Gegenteil: Ein Akt. Aktiv. Eine Aktivität. Er wird so lange trauern, bis er fertig ist, damit und nicht eher.“
Als Kopp endlich beginnt, in den Aufzeichnungen seiner Frau zu lesen, wird ihm rasch klar, dass er seine Frau überhaupt nicht gekannt hat. Voll Trauer, Wut und Selbstbezichtigungen folgt er dem Text einer Unbekannten.
Floras Kindheitserinnerungen sind armselig: Leben in einem feuchten schimmeligen Kabuff bei den rohen verständnislosen Großeltern, häufiger Hunger, Missbrauch durch einen Lehrer, eine Mutter, die unter Depressionen litt, in die Psychiatrie kam und sich das Leben nahm. „Ich bin ein Niemandskind. Mutter tot, der Vater fort, weder Gott noch Heimatort“. Sobald sie kann, verlässt sie ihr Dorf, geht ins Internat, später als Studentin nach Berlin. Sie gibt sich alle Mühe, ihr Leben gelingen zu lassen, nimmt unzählige Jobs an, lässt sich ausnutzen, hat Affären, die alle schief gehen, sucht Liebe und Geborgenheit, lässt aber doch niemanden an sich heran. Sie ist 20 Jahre alt und fürchtet sich nicht – nichts macht ihr etwas aus! In Wirklichkeit hat sie Angst als Ausländerin, und wenig Selbstbewusstsein. Trotzig schreibt sie in ihre Geheimdatei: „Ich werde euch überleben!“ Sie arbeitet als Übersetzerin und „spendiert“ dem Leser dabei eine hinreißende Kostprobe von Kassák-Gedichten aus dem Buch der Reinheit.
Flora kämpft mit ihrer Depression, die erst richtig zum Ausbruch kommen, als sie Job um Job verliert, von einem Betrunkenen an einer Haltestelle geschlagen wird, von ihren Chefs und Kollegen missachtet. Schon als Kind hat sie mit dem Gedanken gespielt, sich auf die Gleise zu legen. – Im Anfang gelingt es ihr noch, die ständige Traurigkeit zu besiegen, doch immer mehr gerät sie in den Strudel der Krankheit. Sie beschreibt ihren hilflosen Kampf gegen dieses Ungeheuer, gegen ihre Albträume; sie liest Analysen, studiert die Krankheitssymptome, schreibt Beipackzettel ab, Geschichten anderer Leidensgenossen, stürzt sich in rastlose Arbeit um sich abzulenken, was ihr immer weniger gelingt. Schließlich kreist ihr Denken nur noch um sie selbst, darum und wie sie mit ihrer Angst fertig werden soll. Eineinhalb Jahre vor ihrem Suizid hört sie ganz auf mit Schreiben. „Das Leiden hat nur mit mir ein Ende“. – „Da ist niemand. Die Krankheit und du. Du und du.“ – Über Darius, über ihre Liebe, lässt sie sich wenig aus. Nur einmal, als eine Freundin glaubt, ihr Mann könne sie gar nicht richtig sehen, verteidigt sie ihn: „Das ist ein Missverständnis. Dass der Partner oder überhaupt einer einen sehen sollte. Es ist vielmehr so, dass seine Immunität es ist, die mich tröstet. dass er mit jemandem wie mir zusammenleben kann, ohne dass er davon angegriffen wird. Er bleibt stets, was er von Anfang an war. – Zu wissen, dass er versteht, also mitleidet, würde mein Leiden nur noch erhöhen“. – Und im Tagebuch: „Gegen den psychopathischen Einzeltäter kann sich eine Gesellschaft nicht schützen. Aber für dich selbst kannst du etwas tun: Wenn du dich schon zerstören musst, dann tue es so diskret oder so schnell, dass andere keinen Schaden daran nehmen. Den Schmerz, der dir nachfolgt, kannst du aber auch dann keinem nehmen. Verzeih, dass ich dich da hineingezogen habe. Guter Gott, was mach ich nur?“

Darius liest nicht nur ihre Dateien, er „unterhält sich“ auch mit Flora: „Schau Flora…“ Vieles hat er nicht geahnt – oder auch nicht wissen wollen. Der dicke Mann mag es lieber gemütlich, ohne Stress. Meistens hat er seine Frau so genommen wie sie war, obwohl das für ihn hieß, auf seine Freunde zu verzichten, auf laute und anspruchslose Treffen. Flora wagte sich immer seltener hinaus in eine Welt, die ihr oft genug auch „feindlich gesinnt“ war. Nur in ihrer Wohnung fühlte sie sich sicher. Und Darius akzeptierte das. Bis sie es eines Tages, nach einem Zusammenbruch, nicht mehr aushielt, ins Wochenendhaus einer Freundin zog – zuerst nur vorübergehend – später ganz. Sie arbeitete schwer in einem Bauernhof, was ihr Mann gar nicht verstehen konnte – er war immer ein Städter gewesen. Ihr zuliebe kam er sie so oft besuchen, wie es ihm möglich war, half auch bei der Arbeit, ungern, aber er wollte ihr nahe sein. Vor allem aber war er eifersüchtig. Eifersüchtig auf dieses Leben ohne ihn, in dem sie zufrieden zu sein schien, eifersüchtig auf die Menschen um sie herum – und vor allem auf Freundin Gaby, eine Lesbe, wie mutmaßte.
Während seiner Reise in den Osten bewegt er sich in seinem vertrauten Kulturkreis, findet sich überall irgendwie zurecht. Wichtig ist nach wie vor das Essen. Dabei verträgt er alles, was er bekommt. Neben ihm „sitzt“ manchmal Flora. Er spricht mit ihr – sie antwortet oder lacht leise – und löst sich plötzlich wieder auf. Mit ihm spricht, ja diskutiert auch der Erzähler, die Autorin – manchmal ist es wohl auch die innere spöttische Stimme, die ihn auf den Boden der Tatsachen zurückholt, wenn er sich mal wieder eine Sache – und vor allem das Leben mit Flora schönreden will. Zunehmend nimmt dieser Wechsel von Personen, oft in ein und demselben Satz, den Leser gefangen. Es kann gar nicht anders sein, um Tempo und Spannung zu halten.

Das andere große Thema des Romans ist nicht nur die fortschreitende Depression Floras, sondern auch, dass man vieles nicht verstehen kann, auch nicht beim geliebten Menschen. Weder, was solch eine Krankheit mit dem Betroffenen macht, noch, warum er seinem Leben ein Ende setzt. Darius sah zwar die Zusammenbrüche seiner Frau, war aber hilflos, wagte es auch gar nicht, sie aus ihrem selbstgewählten Exil herauszuholen. „Ich habe wirklich alles versucht, ich habe sie umworben, angefleht und angeschrieen, sie blieb, was sie war: ein Nein“ – versucht er sich vor sich selbst zu verteidigen. Einmal fragte sich Flora: „Warum hat er mich nicht einfach mitgenommen?“ Die Sache war ihm zu schwierig. So schloss er die Augen und lebte neben Flora her. Gut war es, wenn sie kochte, wenn sie für ihn da war.
Und Flora? Sie wollte allein mit ihrer Krankheit fertig werden, suchte nur in Extremfällen einen Arzt auf, doch auch die Psychiater konnten ihr nicht helfen, das sah sie ganz klar. Auch sie lebte neben ihrem Mann her, konnte und wollte sich nicht öffnen.

Die dritte Seite des Romans ist die Entwicklung Kopps auf seiner Reise in den Osten Europas. Eine Reise, die Terézia Mora selbst gemacht hat, wie sie sagt., sonst hätte sie das Buch nicht so schreiben können. Es stimmt nicht, dass Kopp sich nicht verändert hätte. Ja, er hat seine Frau am Ende des Romans immer noch nicht beerdigt, hat die Urne mit ihrer Asche immer noch bei sich, doch Darius Kopp lernt allmählich, sich selbst zu vertrauen, selbst Entscheidungen zu treffen. Unterwegs trifft er immer wieder auf „Helfer“, die ihn ein Stück weit begleiten, ihm, der ganz und gar ziellos unterwegs ist, eine Richtung geben. Gutmütig und offen, wie er ist, setzt er sich dann auf den gewiesenen Weg. Seine „Emanzipation“ beginnt damit, dass er sich gegen einen Helfer auflehnt, seinen eigenen Willen durchsetzt.

Über Floras Heimatdorf in Ungarn lässt er sich nach Albanien treiben, in den Kosovo, nach Bulgarien, immer tiefer nach Osteuropa, bis Istanbul, dann wieder nach Georgien, nach Armenien, wo er die letzte Orientierung verliert, da er vergessen hatte sein Handy aufzuladen. Solange dieses funktionierte, konnte er Nachrichten versenden – oder hätte es können; war er verbunden mit der übrigen Welt. Nun ist er ganz auf sich gestellt, muss auf eigene Faust weiter, muss auf eigene Verantwortung entscheiden. Immer ist er auf der Flucht vor seinen Erinnerungen, vor dem Leben mit Flora, das er doch so gerne wieder und wieder heraufbeschwört, das er so gerne wieder mit ihr fortsetzen würde. Schließlich angekommen in Griechenland, lernt er eine Witwe kennen, Christina, deren Mann sich auch das Leben wegen seiner Depressionen genommen hatte. Kurz vor seiner Abreise wird sein Auto, seine einzige Habe, während einer Demonstration gegen die Sparzwänge so demoliert, dass nur noch Schrott übrig bleibt. Die Wut der Masse hatte sich gegen ihn gerichtet, weil er beim Öffnen der Autotür ein Kind zu Boden stieß. Nun haben die frustrierten Menschen ein Ventil gefunden und gehen auf ihn los. Darius bekommt davon zunächst gar nicht viel mit; denn vor ihm entfaltet sich seine eigene Erinnerung: Da hatte er sich schuldig gemacht an Flora – und seine Frau danach nie mehr gesehen. Es war also doch nicht alles Friede und Paradies und Eheglück!
Den Pappkarton aus dem Auto kann er retten und Darius beschließt, Floras Asche in den Ätna zu werfen, damit ihr nie mehr jemand zu nahe treten könne. Und damit scheint auch Flora einverstanden zu sein: „Weißt du, sagt sie zu ihm, ich hatte es immer schaffen wollen“.
Ob Darius Kopp es schafft, allein auf sich gestellt, ohne Handy, ohne Auto, die Asche seiner Frau würdig im Ätna zu beerdigen – und ob es ihm gelingen wird, ein Mensch mit Empathie zu werden, dessen Sinnen und Trachten sich nicht nur ausschließlich um sich selbst dreht, das können wir – hoffentlich – in einem weiteren Roman um unseren Helden lesen.
Er ist auch ein Held, wie im Märchen: Einer, der naiv auszieht, reingelegt wird – und weil er ein gutes Herz hat, zum Schluss doch den Schatz erringt, der auch darin bestehen kann, dass er sich nun etwas zutraut und deshalb Leistungen erringt..

Dem Roman und dem Leseverständnis hätte es gut getan, Floras seitenlange Abschriebe von Beipackzetteln, Krankheitssymptomen, Krankheitsgeschichten anderer, Rezepten – rigoros zu kürzen. Diese Seiten blähen Floras Erzählung unnötig auf und strapazieren den Leser. Trotzdem: Ein sehr lesenswertes Buch, das zu Recht mit dem Deutschen Buchpreis bedacht wurde. (Man muss ja nicht jeden Beipackzettel lesen.)

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