Rezension: Esterházy, Péter – „Esti“

Siebenundsiebzig Geschichten
Aus dem Ungarischen von Heike Flemming
Verlag: Hanser, Berlin, 2013
ISBN: 978-3-446-24145-9
Originaltitel: Esti, 2010
Bezug: Preis: 24,90 Euro

Wieder solch ein Buch, funkelnd von Wortwitz, Wortschöpfungen, Melancholie und Ironie; Eigenschaften, die der ungarischen Sprache zu Eigen sind – und die auch ins Deutsche rüberkommen, vor allem, wenn der Text so gut übersetzt ist wie hier. – Ein großes Lob an Heike Flemming, die es sicher nicht immer einfach hatte mit diesen Texten; denn der sprachverliebte Autor hat hier alle Register gezogen.
Eingeteilt hat Péter Esterházy, alias Esti, seine siebenundsiebzig Geschichten in drei große Kapitel: Esti wird vorgestellt in einer ganzen Novellensammlung – Kornél Esti wird in Beziehung gesetzt zu Esti – und schließlich: Die Abenteuer des Kornél Esti, in denen er Geschichten und Lebensentwürfe um Esti ausprobiert. („Kornél Esti“ und „Die Abenteuer des Kornél Esti“ sind die Titel der ins Deutsche übersetzten Erzählungen seines großen Vorbildes Dezső Kosztolányi.)
Esti ist die Hauptfigur; deshalb steht sein Alter Ego draußen und kann sich selbst beschreiben. In ihm sieht Péter Esterházy nicht nur einen Doppelgänger, den Doppelgänger von Kosztolányis Helden Esti, sondern er schlüpft geradezu in ihn hinein, wandelt ihn und sich wieder und wieder, als ein aus „Worten gewobener Mann“. – „Kornél Esti – c’est moi“. Bereits seine Schul- und Studienkameraden nannten ihn Esti, was er als seine größte Auszeichnung ansieht.
Alles, was dem Autor durch den Kopf geht, jede für gut befundene Formulierung schreibt er auf: Bon mots in Hülle und Fülle – es müssen nicht die eigenen sein – Anspielungen, Zitate, schöne Sätze aus fremder Feder: „banale Freude ist Estis Leben“.
Vielleicht kommt der Leser mit dem umfangreichen Werk am besten zu Rande, wenn er nicht alles verstehen oder hinterfragen will: Einfach zulassen, was einem da begegnet. Ich könnte mir vorstellen, dass sich Esterházy köstlich amüsiert über alles Grübeln seiner Leser, was er denn gemeint und bezweckt – wen er zitiert habe.
Esterházy als Esti lässt uns aber auch teilnehmen an den Schwierigkeiten zu schreiben, sich überhaupt etwas einfallen zu lassen – dabei ist und bleibt alles Fragment „Fragment, das heißt Dichtung“. Dabei fleht er um Erbarmen. Aber auch der Leser ist immer wieder versucht um Erbarmen zu flehen, ob der überbordenden Fülle der fragmentarischen Einfälle: In der Kürze läge manches Mal die Würze!!
Er neckt uns, witzig und melancholisch zugleich, mit annähernd autobiografischen Kurzmitteilungen, eingepackt in Literaturgespinste; mit Ausflügen in die fernere und nähere ungarische Geschichte, mit Fantasievorstellungen und erdachten – und deshalb für ihn realen – Lebensentwürfen. Alles wird ihm zur Literatur; aus Worten errichtet er Gedankengebäude, baut er eine Welt zusammen, die für ihn zur wirklichen Welt wird.
Er streift die Zeit des Kommunismus, die Schwierigkeiten auszusprechen, was man dachte, er macht sich Gedanken zum Geschichtsbewusstsein seines Landes „Trianon als Exerzierplatz des nationalen Selbstmitleides, als Selbsttäuschung der individuellen Tragik unserer Geschichte“. Er versetzt sich weiter zurück in die ungarische Geschichte, deren Mittelpunkt die Könige Béla und Mátyás sind – er probiert verschiedene Daseinsweisen aus als Hund, mit dem es ein grausames Ende nimmt, als Käfer, als Gemälde, das auf seine Zerstörung wartet, als eingebildeter Kranker, als Studentin in einem skandalös kurzen Rock….
In einem der schönsten – und auch am leichtesten verständlichen Kapitel; erzählt Esti, einmal direkt von sich selbst – mit Seitenhieben auf den Sozialismus – und nicht nur verschlüsselt in Form von Zitaten und Aphorismen: Er ist ungefähr 10 Jahre alt (um 1960) und wünscht sich brennend ein ganz bestimmtes Fahrrad. Darauf ist sein ganzes Wollen gerichtet. Was es kosten würde, wie es zu beschaffen sei, kann und will er gar nicht denken. Im Laufe der Erzählung erfahren wir, dass dieses Drei-Gang-Fahrrad auch heute noch den Ansprüchen genügen würde, erfahren wir, dass diesmal die Eltern nur „der Pflicht gehorchend“ darüber jammerten, dass so viel Geld ausgegeben werden sollte, erfahren wir, dass der Familie eigentlich Geld egal war, erfahren wir von Prinzipien der Erziehung, erfahren wir, dass der Sohn sich an diese Geste seines Vaters einmal erinnern sollte. Der Vater muss Überstunden dafür machen, hier und da noch etwas einsparen. Esti darf selbst das Fahrrad kaufen; alles erscheint ihm in einer Gloriole, er selbst, das Fahrrad, die Eltern. Er fährt auf seinem Stahlross davon: „Mit dem Glanzpunkt war nahezu unmittelbar der Tiefpunkt verbunden, mit dem Fahrrad die Fahrradgeschichte.“ Denn kaum hat er es stolz vorgeführt, als ihm ein Kerl das Rad für eine Probefahrt mit einem Trick abluchst. Verdutzt sieht Esti, wie sein Fahrrad für immer verschwindet. Ein Polizist macht dem Vater dann bei der Anzeige klar: „Was im Herzen ist, mein Herr, sagte der junge Mann höflich, ist kein polizeilicher Posten. Für Traurigkeit ist die Polizei nicht zuständig. Kornél Esti merkte sich diese beiden Sätze“. Am meisten trifft ihn der Verrat! Eine graue und universale Gleichgültigkeit macht sich danach in ihm breit.
In einer weiteren Erzählung verschmilzt Kornél Esti mit Pierre Menard, der über Don Quijote forschte, verschmilzt mit Don Quijote selbst. In dieser Novelle beschreibt er auch sich und seine Kommilitonen: „Alle hatten wir unser Steckenpferd: Der eine gab sich dem Studium der Natur der Liebe hin [bis er merkte] dass die Diktatur auch die Liebe frisst, dass die Liebe in der Diktatur nicht möglich ist. […] Ein anderer von uns, ein Mathematiker, begann sich zu verkleiden, Farben zu tragen. Denn in der Diktatur existieren auch keine Farben, alles ist grau, selbst die rote Fahne der Arbeiterbewegung. Diese Diktatur war in den 70er Jahren schon weich wie Scheiße…. „Ungarn lebte nach 1956 durch und durch in der Niederlage. Das heißt in der Einsamkeit. Die Einsamkeit aber ist die Brutstätte des Verrats.“ […] Ich sah in der Arbeit den Fluchtweg […]. Es ist nicht möglich zu fliehen. Wir wollten auf jeden Fall leben und nicht nur überleben, wollten Wege finden und nicht nur Auswege. Wir stellten uns vor, wir wären Don Quijote, denn der Wahnsinn schien die einzige normale Möglichkeit“.
Auch über die deutsche Sprache reflektiert Esti: „Durch das Deutsche kam er mit dem nichtungarischen Teil der Welt in Kontakt – dafür war er der deutschen Sprache dankbar. …Das Deutsche liebt die Ordnung, die Unter- und Überordnung. Es mag die Mäßigung. … Auf Ungarisch gibt es kein Maß, so dass die Ungarn auch gar nicht ihre entsetzliche Maßlosigkeit erkennen. Für sie ist Maßlosigkeit großartig, herausragend, ein Zeichen von Talent. …“.
Eines Tages wacht Esti als Gemälde auf – doch so sehr er sich auch anstrengt, er kann nicht erkennen, was er eigentlich darstellt. Schön auch hier wieder die Wortschöpfungen wie „melancholieren“. Esti kennt sich in allen Künsten aus – und hat entweder ein elefantöses Gedächtnis oder einen überaus wohlgeordneten Zettelkasten – dazu eine überbordende Fantasie, die vor keinem Bild und vor keinem Vergleich Halt macht.
Im letzten Teil folgen die Abenteuer des Kornél Esti: „Das abenteuerliche Leben…: „Kornél Esti lebte, dann starb er. Das ist (wurde, war, wird) Kornél Estis Leben.“ „Schreiben ist nicht Erinnern an die Welt, sondern selbst die Welt…“ „… Mal bin ich Vater, mal Sohn, ich hätte nicht gedacht, dass das mein Leben würde“. – Das sind so in etwa die Überschriften zu seinem realen Wörter-Leben, in dem er immer wieder neue Ausgangssituationen, neue Erzählformen ausprobiert: Esti in einem Abenteuerfilm, in einem Krimi, als wohlschmeckende Speise – Esti in einem Moskauer Fragment, in dem er sich darüber wundert, dass selbst die Großmutter nichts anderes als kommunistische Lügen gehört hat, so alt sie auch ist.
Und dann noch ein Exkurs über die Literatur, die sein Leben ist: „Denn er, Esti, kann die Literatur und sein Leben schon nicht mehr auseinander halten. Zum einen, weil seine Tage faktisch so, damit vergehen, d.h. am Schreibtisch, zum anderen, weil er sein Leben als Stoff für die gerade zu machende Literatur, für seine Literatur betrachtet, […] …Die Sprache der Literatur ist nicht auf Verständigung aus, ihr Ziel ist Schöpfung […] sie will ein Gebäude aus Worten errichten. All ihre Aufmerksamkeit gilt dem Gebäude (der Schriftsteller übernimmt hier natürlich alles, er ist Auftraggeber, Hausherr, Architekt, Polier und Maurer…“
Vergnüglich zu lesen ist Esti allemal, auch wenn er allzu häufig „vom Hölzchen aufs Stöckchen“ kommt und kleine Episoden in einen umfangreichen Wortkokon einwickelt. Wer in Texten, fast ohne Handlung, herausknobeln möchte, wer oder was gemeint sein könnte, wer sich an geschliffenen Aphorismen, an Wortwitz und Wortschöpfungen erfreuen kann, wer einfach Literatur auf sich wirken lassen will – der ist mit „Esti“ richtig.

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