Rezension: Nagy Koppány, Zsolt – „Mein Großvater konnte fliegen“

Mythen, Geschichten, Geschichte
Aus dem Ungarischen von Orsolya Kalász & Monika Rinck
Verlag Edition Solitude Reihe Literatur, 2012
ISBN: 978-3-937158-61-7
Originaltitel: Nagyapám tudott repülni, 2007
Bezug: Buchhandel, oder direkt bei Akademie Schloss Solitude; Preis: 15,00 Euro

Im ersten Teil der 22 Kurzgeschichten: Mythen, Geschichten, Geschichte überwiegen die bitterbösen Erzählungen. Das meist überraschende lakonische Ende ist oft makaber, mit schwarzem Humor gewürzt. Es ist eine düstere, deprimierende Welt, die Koppány überspitzt beschreibt. Mythische und surreale Elemente vermischen sich glaubhaft mit der Alltagswirklichkeit. Im Hintergrund lauert der rumänische Alltag, die rumänische Geschichte. Ahnungslosigkeit steht gegen Perfidie, Borniertheit wird zur Brutalität. Im zweiten Teil: Spiele, Tragödien überwiegen die witzigen, absurden Geschichten, die aus der Situationskomik heraus leben. Aber alle haben einen tragischen Hintergrund, auch wenn sie noch so flapsig daher kommen.
Gleich in der ersten Geschichte Personenüberwachung lebt der Agent mit den Menschen zusammen, die er überwachen soll, ohne dass diese ihn bemerken. Er ist ganz klassisch ausgestattet mit Ledermantel, wie ein Geheimdienstler, behauptet er, doch da niemand mit ihm rechne, sei er unsichtbar. “Meine Aufgabe ist es, Menschen zu beobachten, Berichte über sie zu verfassen und sie, sobald sie nicht mehr gebraucht werden, zu beseitigen.“ Minutiös und emotionslos berichtet der Überwacher jede Kleinigkeit. Leidenschaftslos führt er aus, was ihm aufgetragen wird. Seine eigenen Gefühle schreibt er auf, damit er Privates nicht mit Dienstlichem vermischt. Er selbst wird seinerseits überwacht und muss damit rechnen, ausgeschaltet zu werden, sobald er einen Fehler macht, sich z.B. „private Gefühle“ leistet. Genau das geschieht. Er verliebt sich in die Frau eines Oberst, den er zu beschatten hat.
In einer weiteren Erzählung Heldenseele kann der „Held“, ein Feigling, der gern plündern würde wie seine Kameraden, erst dann die Familie niederknallen, als er ihr Haus in Brand gesteckt hat und alle einzeln aus dem Haus laufen.
Surreal / real ist auch die Geschichte vom Großen weißen lahmen Hund, der mitsamt seinem Herrn unbedingt eine Berühmtheit werden will. Dafür nimmt er sogar Schmerzen in Kauf.
Sicherlich ist der Hintergrund die rumänische oder/und ungarische Geschichte, als in Das Zeichen der Erzähler zwar endlich Arbeit gefunden hat, welche ihm zwar nicht angemessen ist, doch er ist mit allem einverstanden, wenn er sich diesem großartigen System würdig erweisen kann. Er wird aufs Äußerste gedemütigt – auch das nimmt er hin. Nach dieser Prüfung beglückwünscht ihn sein Vorgesetzter einerseits, dass er nun einer der ihren sei, ermahnt ihn aber auch, niemandem zu vertrauen. Alle sind verdächtig, jeder misstraut jedem.
In der Titelgeschichte Mein Großvater konnte fliegen geht es um einen Mythos, der sich im Dorf breit macht. Noch nie hatte jemand den Großvater, einen Gewaltmenschen und Trinker, fliegen sehen, doch alle sind überzeugt davon, weil er es selbst von sich behauptet. Doch der Großvater bleibt sich auch treu, als das Dorf kollektiviert wird –und hilft der Obrigkeit nicht, die Güter anderer einzuziehen. Am Tag nach seiner Beerdigung wird das Dorf geflutet und nichts bleibt mehr davon übrig. Diejenigen, die sich zurück wagen, behaupten, seine Seele würde über das Wasser fliegen.
Eine ganz makabre Erzählung ist Der Autofahrer. Es regnet. Ein Auto fährt einem anderen hinten auf. Der Autofahrer steigt aus, sein Auto ist schwer demoliert. Das andere Auto sieht weniger schlimm aus, doch der Unfallverursacher liegt mit dem Kopf auf seinem Lenkrad, besinnungslos, nicht angeschnallt. Anstatt ihm zu helfen, schlägt er ihn mit einer Keule, die einem Baseballschläger ähnelt, tot.
Im zweiten Teil kommen in Der Lohnleser Sebestyén sicher autobiografische Details zum Zug: Weil alle Welt kaum noch Zeit zum Lesen hat, lassen vor allem Direktoren und Manager bei Sebestyén lesen. Der wählt die Bücher aus, berät, nimmt einen Auftrag an oder verweigert ihn. Lohnlesen geht wie jede andere ordentliche Arbeit vor sich: 8 Stunden lesen, Privates nicht mit Geschäftlichem vermischen, pünktlich und korrekt liefern. „Nun, wir wollen nicht verheimlichen, dass sein Vater ihn als Arzt sehen wollte und seine Mutter als Anwalt – doch der kleine Sebestyén hatte keine Begeisterung für jene beiden Berufe gezeigt. Schon in der Schule hatte er für andere gearbeitet, schreiben sie eine Arbeit in ungarischer Literatur und Sprache, schrieb die halbe Klasse von ihm ab. ……“. Sebestyén fühlt sich trotzdem glücklich.
In Béla und die Blumen erzählt Koppány von der Absurdität des Alltags: Der Menschenfreund Béla hilft allen, auch Kindern und alten Damen beim Überqueren der Straße, womit er den Unmut vieler Autofahrer hervorruft, die anhalten müssen. Um die Welt noch ein wenig freundlicher zu machen, kauft er einen großen Strauß Rosen. Damit möchte er seine Mitbürger beglücken. Der Autor zeigt in einigen (Film)-Sequenzen, wie das vor sich ging: Einige sind ganz glücklich und gerührt über so viel Aufmerksamkeit, andere sehen ihn kaum an und gehen vorbei. Schließlich gerät er an eine ältliche Lehrerin, die in ihm einen Sittenstrolch vermutet. Sie schreit die Polizei herbei, die ihn überwältigt und verhaftet. Bald wird klar, dass Béla harmlos – das Tantchen aber hysterisch ist. Er kommt wieder frei – ohne Rosen – und muss der Polizei versprechen, kein öffentliches Ärgernis mehr zu erregen.
Witzig und böse ist der stumme „Dialog“ in Die Gedanken des Burgwächters. Dieser steht unbeweglich da, muss sich Frechheiten und Anzüglichkeiten eines kleinen Lümmels und seiner Mutter gefallen lassen. In Gedanken ist er aber groß und stark und gibt ordentlich Kontra. Genauso, als er abends seine Freundin trifft. Auch hier geht das Gedankengespräch der Beiden, die sich brauchen, aber nicht unbedingt lieben, weiter. Später geht er heim zu seinen Eltern: Die Mutter nörgelt ohne Worte an ihm herum, mag seine Freundin nicht, ärgert sich über seine miese Arbeit. – Der Sohn lehnt sich auf. Er wird seine Freundin ins Elternhaus bringen und wenn nötig, auch heiraten. Als er spät in der Nacht betrunken zurückkehrt, würde sich am liebsten von der Eisenbahnbrücke stürzen, doch solch ein Ende geht nicht: Er wird also weiter arbeiten, die Zsófi heiraten; ein unausweichliches, jämmerliches Ende.
Die letzte Geschichte Der Fuchs spricht ist die heiterste Erzählung: In ungarischen Märchen ist es wohl immer der Fuchs, dem der jüngste Prinz drei Haare herausreißen muss und sich in großen Schwierigkeiten etwas wünschen darf. Der Fuchs weiß schon, wie die Geschichte weitergeht und erzählt abschätzig, aus seiner Sicht, was unausweichlich folgen muss: Wie er sich abmüht, einen ganzen Wald zu roden, einen Berg abzutragen oder ein Wasser auszuschöpfen. Wie er total fertig ist am Morgen und wie der Prinz nur zuschaut bei dieser schweißtreibenden Arbeit, um dann frohgemut die Belohnung, die schöne Prinzessin in Empfang zu nehmen, ohne Dank an den Fuchs. „…ein großes Wunder, dass ich als erwachsener, erfahrender Fuchs noch an so etwas wie die Würde der Arbeit glauben kann.!
Gespannt warten wir auf die Übersetzung seiner Romane.

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