Rezension: Kiss, Tamás – „Früher im Licht“

Kriminalroman
Verlag: Europa Verlag Zürich, 2013
ISBN: 978-3-905811-68-1
Bezug: Buchhandel, Preis: 12,00 Euro

Früher im Licht, da konnte er alles sehen, fühlen, schmecken. Jetzt ist er in Dunkelheit und Kälte gefangen – nur sein Gehirn arbeitet klar und präzise: Kriminalkommissar Varga wurde angeschossen und liegt im Koma in einer Züricher Klinik. Seinem Denken ist bewusst, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, doch er will unbedingt klären, wer sein Mörder ist, wer ihn aus dem Fall, an dem er gerade gearbeitet hatte, herausgeschossen hat. Varga weiß, wie allein und ausgeliefert er in seiner eigenen Körperhülle dem TOD gegenübersteht. Er spürt Kälte und schauerliche Einsamkeit, und ab und zu die irrwitzige Hoffnung, doch noch ins Leben zurückzukehren.
Kindheitserinnerungen tauchen auf als Traumgesichte an eine unbeschwerte Zeit in Ungarn vor der Revolution 1956, an seine Flucht mit dem Vater – an ihre Trennung in Österreich und an seine eigene Aufnahme in eine Schweizer Gastfamilie. Diese Rückblenden wechseln ab mit klaren Erinnerungen an seinen Fall und Gesprächen mit dem TOD mit Bitte um Aufschub, bis er den Mörder kennt.
Kommissar Varga, der keinen Vornamen hat, können wir uns als 59 jährigen, eher hageren Mann vorstellen, der sich hauptsächlich von Cola und Creme-Schnittchen zu ernähren scheint. Dabei hat er ein feines Gespür für drohende Gefahren, dem er leider nicht immer nachgibt. Der Kommissar arbeitet gern mit seiner Assistentin Nowak, seiner rechten Hand, zusammen, die wie er aus dem Osten stammt. Wirklich heimisch geworden in der Schweiz ist er nie; im Gegenteil: Sein Blick auf die Schweizer und ihre Schweiz bleibt kritisch. Einzig für den FC Zürich und für den Kriminalroman von Dürrenmatt „Der Richter und sein Henker“ hat er eine Vorliebe.
Vargas Heimat bleibt Ungarn; dorthin kehren seine Träume immer wieder zurück. Allerdings hat er außer seiner Flucht auch traumatische Erlebnisse mitgebracht, die er nie mehr los wird: Den Tod eines jungen Panzerfahrers in Budapest während der Revolution – und den Tod eines Kameraden, der bei einem Streich ums Leben kam. Von daher rühren seine chronischen Kopfschmerzen, die er mit Unmengen von Aspirin zu bekämpfen sucht. – Immerhin ist Varga ein gewissenhafter, fantasiebegabter Kommissar geworden. Wie in jedem richtigen Krimi darf auch hier ein missgünstiger ungeduldiger Vorgesetzter nicht fehlen und Kollegen, die korrekt, aber ohne Intuition arbeiten.
Kommissar Varga aus Zürich hätte einen wunderbaren Serienhelden für einige Fortsetzungen abgegeben, hätte er bei seinen Ermittlungen nicht einen grundlegenden Fehler gemacht und ein wichtiges Detail übersehen: Über 322 Seiten lässt uns Tamás Kiss an vielfältigen Spuren, Überlegungen und Ermittlungen teilhaben, an Vargas Deal mit dem Tod, an seinen immer rascher wechselnden Traumgespinsten, bis zur Lösung des Falls. Doch Achtung! für Ungeduldige: Es nützt nichts, auf den letzten Seiten nach dem Mörder nachzuschlagen! Ohne den ganzen Fall vor Augen, und alle Fäden in der Hand zu haben, wird man daraus sicher nicht schlau werden. Nur Varga hätte rechtzeitig mit diesem Namen etwas anfangen und so sein Leben retten können.
Hier also sein letzter Fall, in dem auch ein kubanischer Revolutionsheld eine Rolle spielt: Ein junger rechtskonservativer – erst kürzlich überstürzt aus der Politik ausgeschiedener Jungstar, Marco Kistler „properer Musterschweizer, [ ] Ausländerhasser, Alleshasser […], Ex-Partner einer Sicherheitsfirma, Ex-Tennisprofi, Ex-Präsident der Jungen Schweizer Demokraten – eine prominente Blendrakete -“ wird – ausgerechnet am 23. Oktober, dem Jahrestag der ungarischen Revolution, ermordet an der Glatt (Flüsschen in der Schweiz) aufgefunden. Außer dass er sich an eine Praktikantin rangemacht, die Parteikasse geleert – und einige Male in Kuba war, um dort, so sieht es aus, einen großen Coup zu landen, haben die Ermittler vorerst wenig in der Hand. Er soll auf Kuba ein Kinderhilfswerk gegründet haben – eine echte Organisation oder eine Scheinfirma?
Die Spuren laufen zu vielen Verdächtigen. Einer von ihnen ist der rechte Nationalrat Forster. Was hat er, was haben andere mit dem Tod Kistlers zu tun? Und – haben sie überhaupt etwas damit zu tun? Kistlers Familie und viele Leute aus seinem Umfeld werden befragt – ohne greifbare Hinweise. Die Tatwaffe, ein älteres russisches Modell, weist auf Kuba hin. Und als Kistlers Sekretärin auch noch auf bestialische Weise ermordet wird, fliegen Varga und seine Assistentin (auch sie ohne Vornamen) kurzerhand nach Havanna, um dort ihre Nachforschungen zu intensivieren.
An Ort und Stelle kommen weitere Details ans Licht – alle wären Grund genug für einen Mord: Kistlers Frauengeschichten; dazu seine Liäson mit der Tochter eines der mächtigsten und reichsten Männer im kommunistischen Land. Wut des Vaters? Eifersucht eines Nebenbuhlers? Auch klandestine Verwicklungen verschiedener Staaten mit vorgeschobenen Mittelsmännern in Geschäfte mit biologischen Waffen, mit verbotenen Impfstoffen und anderes gleiten ins Visier der Ermittler. Oder sollten etwa auch die Russen in einem Dreiecksgeschäft mitmischen? Kurz, alles ist möglich: Eine Beziehungstat oder ein Mord um Spuren in einem Riesengeschäft zu vertuschen? War Kistler vielleicht gar ein Bauernopfer, um Verdächtigungen in eine bestimmte Richtung zu leiten? Die Verdachtsmomente führen immer intensiver zu schweizerischen Landsleuten; die Kubaner zwar wissen etwas, geben aber nur karge Hinweise.
Varga kämpft verbissen bis zuletzt und rekapituliert Stück für Stück alle Details seiner Ermittlungen bis zum – auch für ihn – überraschenden Schluss.
Schön sind dabei die kenntnisreichen Anmerkungen zu Kuba, wo sich der Autor, wie zu lesen ist, oft und gern aufhält, und wo er ein tatsächliches Kinderhilfswerk unterstützt. – Gut gemacht sind auch die übergangslosen Sequenzen zwischen Erinnerungsfetzen an Kindheit und Jugend, den um Aufschub bittenden Gesprächen mit dem TOD, dem Bewusstsein, wie es um ihn steht, seine Angst vor dem Ende – vor allem, ohne den Fall gelöst zu haben – und den tatsächlichen Ermittlungsvorgängen.

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