Rezension: Melinda Nadj Abonji – „Im Schaufenster im Frühling“

Roman
Verlag Jung und Jung, 2011 (Neuauflage des 2004 im Ammann-Verlag erschienen Romans)
ISBN: 978-3-902497-86-4
Bezug: Buchhandel; Preis: Euro 17,90

Luisa ist ungefähr 25 Jahre alt. Immer war sie schweigsam, hat kaum über ihre ungute Kindheit und Jugend gesprochen. Allmählich öffnet sie sich ihrer Nachbarin, die ihre Großmutter sein könnte, der 75jährigen Frau Sunder:
Die Kindheit, eine grausame Zeit von Einschüchterung, Quälereien, Verlusten und Abschieden. Sie war ein missbrauchtes Kind, losgelöst vom „normalen“ Leben. Als Erwachsene hat sie keine Pläne. Wovon lebt sie? Wir erfahren es nicht. Tag und Nacht scheinen die Kindheitserlebnisse als Fetzen in ihrem Kopf zu wirbeln. Manche Geschichten sieht sie erst heute als junge Frau im Zusammenhang, kann diese weiterführen in Gesprächen mit der behutsamen, geduldigen Nachbarin.
In wörtlichen Zitaten wiederholen sich Bilder und Situationen, werden vorbereitet und weitergeführt. So, als sei Luisa eine Szene kurz in den Sinn gekommen, an deren Verlauf sie sich später genauer erinnert und die sie Frau Sunder gegenüber auch endlich in Worte fassen kann.
Der Roman verlangt vom Leser aufmerksames Mitdenken; denn „jetzt“ und „früher“ springen übergangslos hin und her. Viele Figuren tauchen auf, die das Leben der kindlichen und der älteren Luisa bevölkern, doch wir erfahren nichts Genaues über sie und ihr Leben. Sie bevölkern Kindheit und Jugend, bilden den gesellschaftlichen Hintergrund ab: Einfache Leute wie Lisas Eltern, wie die Eltern ihrer Freundin Antonella, die Frottis. Oder die Jungen Bernhard und Nik mit ihren wohlhabenden Eltern, die sich aber nicht um ihre Kinder kümmern. Noch später taucht Ben auf, der aus den Tabletten seines Vaters einen berauschenden Cocktail mixt und dann Ziegler, Sohn reicher Eltern, der gegen das Establishment revoltiert. Deshalb will sich Luisa in ihn verlieben. Die pubertierenden Kinder machen ihre ersten Erfahrungen, wissen noch nicht genau, zu wem sie gehören. Auch später kann sich Luisa nicht so richtig zwischen ihrer Freundin Valérie und ihrem Liebhaber Frank entscheiden. In ihrer Kindheit sind zu viele Dinge falsch gelaufen.
Wir lernen sie kennen, als sie sechs oder sieben Jahre alt ist und eine grüne Haarschleife bekommen hat. Die trägt bis heute ihre Puppe, die noch immer auf dem Sofa sitzt. Damals hatte sie das Gefühl, dass diese Schleife sie nicht so schön macht, wie sie gern sein wollte: So wie die Frauen, schön, fröhlich, leichtfüßig, mit wippenden Haaren. Doch in ihrem Kinderalltag geht es nicht lustig zu, der Vater schreit und prügelt, die Mutter ist hilflos und heult. Auch der Lehrerin „rutscht“ immer wieder die Hand aus. Nur der Friseur Zamboni, dessen Hund im Schaufenster schläft, bietet ihr ungetrübtes Kinderglück. Er hört zu, ermuntert und lobt sie. Bei ihm fühlt sie sich sicher und aufgehoben. Am liebsten würde sie in seinem Schaufenster schlafen. Er sieht auch die Misshandlungen, die der Vater ihr zufügt. So ist Luisas Alltag und ihr war bis jetzt nicht aufgefallen, dass ihr Zuhause, die Schläge und das Geschrei vom Vater, das hilflose Weinen der Mutter, der tägliche Krieg sind. Sie spürt, weiß aber noch nicht, dass sie anders ist, als die anderen Kinder, weiß nicht, wie ihr geschieht. Sie zählt vorwärts und rückwärts um sich abzulenken, dann tun die Hiebe nicht mehr so weh.
Stereotyp stellt die Autorin immer wieder die Frage: „wie kam es dazu?“ Es gibt keine Antwort, Luisas Leben erzählt kühl und distanziert die Geschichte:
Sie lernt Antonella Frotti kennen, die Mädchen sind auf Anhieb ein Herz und eine Seele; beide Außenseiter. Antonellas Vater schlägt seine Tochter nicht nur, er missbraucht sie auch. Die Mädchen reagieren sich ab, verwüsten ihre Puppen und quälen andere Kinder, Luisa schlägt ihre jüngere Schwester, bis diese zurückschlägt. Antonella will sich an ihrem Vater rächen – und zündet das Haus an. Ein Hilfeschrei, den niemand verstehen will.
Immer wieder ist übrigens von Feuer die Rede, Metapher für Reinigung nach Missbrauch – Antonella hat Feuer gelegt, Valérie auch – später sieht Luisa als junge Frau wie ein Haus abbrennt.
Antonella kommt in ein Heim. Ein großer Verlust für Luisa. Sie wird ganz schweigsam, zieht sich zurück, verkriecht sich auf dem Dachboden. Nachts hat sie Angst und schläft meist nur noch mit Licht. Nur bei Herrn Zamboni findet sie Ruhe und Ordnung. Und ihm erzählt sie eines Tages.
Im dritten Kapitel steht Luisa als junge Frau in Wien am Bahnhof und wartet auf Frank. Sie ist Franks Geliebte, seine Frau lebt in Spanien. Luisa hat auch eine Freundin, Valérie, die tags in einem Kiosk arbeitet und in einer Abendschule eine Fortbildung macht. Valérie tritt selbstbewusst und kess auf; sie glaubt zu wissen, was sie will; mit Männern hat sie nichts im Sinn. Immer wieder fragt sie Luisa nach ihrem Liebhaber aus, provoziert eine Begegnung, bei der Luisa spürt, dass sich die Beiden kennen müssen.
Eines Tages bei Frank probiert sie die Kleider seiner Frau an, während er schläft. Sie wühlt in seinen Sachen und sucht irgendetwas Unbestimmtes. Unter dem Bett findet sie nicht nur eine Reihe Fotos von Franks Frau, sondern auch einen Revolver.
Am nächsten Morgen wird Frank durch einen Telefonanruf weggerufen: Kommunikationsprobleme – sehr bezeichnend für die ganze Situation. Er will nicht, dass Luisa auf ihn wartet. Sie lässt sich vom Taxi zu Valéries Wohnung bringen, ahnend, dass diese nicht da sein wird. Auch hier fängt sie an zu suchen, findet eine Visitenkarte von Franks Vater, einem Rechtsanwalt, wie sich später herausstellt.
Nachts erzählt Valérie schließlich, dass ihr Vater, ein angesehener Unternehmensberater, sie mit Geschenken und sorgfältiger Erziehung zu seinem Geschöpf machen wollte, das er aber, wann immer es ihm beliebte, missbrauchen konnte. Als sie bereits erwachsen ist, beschließt sie, auf sich aufmerksam zu machen, will mit der ganzen Verlogenheit Schluss machen: sie legt Feuer – ein Hilfeschrei. Doch das Gericht glaubt ihr nicht, zu unwahrscheinlich ist das, was eine Tochter über ihren Vater aussagt. Valérie wird wegen vorsätzlicher Brandstiftung zu zwei Jahren Haft verurteilt, der Vater freigesprochen. Frank hatte den Prozess von Anfang an schockiert beobachtet, besuchte Valérie im Knast und meinte dazu, die Männer hätten sich gegenseitig gedeckt. Er stoppte seine Anwaltskarriere und wird Kommunikationsmanager, krempelt sein bisheriges Leben, seine bisherigen Ansichten um. Er will den Fall nochmals aufrollen. Aber die junge Frau traut ihm nicht, lässt ihn ins Leere laufen. Sie hört nichts mehr von ihm, bis Luisa von ihrem Liebhaber erzählt und Valérie bei der Beschreibung hellhörig wird.
Noch einmal trifft sich Luisa mit Frank, richtet den Revolver auf ihn: Aus den zufälligen Begegnungen konstruiert sie eifersüchtig und unsicher ein abgekartetes Spiel. Frau Sunder, der sie alles erzählt, denkt da allerdings praktischer. Sie weiß, dass viele eine Waffe haben, um sich gegen Einbrecher zu verteidigen. „Sie denken sich in eine Sackgasse“, sagt sie zu ihr, und Luisa flüstert Frau Sunder etwas ins Ohr, was aber ein Geheimnis bleibt.

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