Rezension: Nádas, Péter – „Die Bibel“

Erzählung
Aus dem Ungarischen von Ruth Futaky
Verlag Berlin Verlag, 2009 ; ISBN:978-3-8270-0712-4
Originaltitel: A Biblia, (1962), 1967
Bezug: Buchhandel Preis: Euro 18,00

1962 hatte Nádas diese Erzählung als 20jähriger geschrieben. 1965 erschien die Novelle als sein Erstlingswerk und erregte gleich gehörig Aufmerksamkeit. Der Erzähler ist der Junge Gyuri zu Beginn seiner Pubertät. Die Geschichte spielt in den 50er Jahren in Budapest. Noch ist Rákosi Parteisekretär und die „Neue Klasse“ der Kommunisten versucht sich in den zurückgelassenen Villen und Lebensgewohnheiten der einstmals bürgerlichen Schicht einzurichten. Wie Nádas in einem Interview sagt, wollte er diese „Neue Klasse“ durch die Beobachtungen eines Kindes zeigen, genauso wenig unschuldig und genauso grausam:
Gyuri lebt mit seinen Großeltern und Eltern, hohen kommunistischen Funktionären, in einer Villa auf dem „Hügel“, einer sehr privilegierten Gegend in Budapest. Der fast blinde Großvater war Uhrmacher gewesen, die Großmutter Zimmermädchen. Ihre Tochter hat es in dieser neuen Zeit „zu etwas“ gebracht. Ein Chauffeur steht zur Verfügung, doch das Haus verrottet ohne die nötige Pflege. Der Junge ist hauptsächlich sich selbst überlassen und langweilt sich. Der Vater begrüßt ihn täglich nur mit „Was gibt’s, alter Junge? Wie war’s in der Schule?“ Mehr interessiert ihn nicht, er wartet nicht einmal eine Antwort ab. Eine Vater-Sohn-Beziehung kennt der Junge nicht. Die Mutter schwankt zwischen Ungeduld mit dem Heranwachsenden in der knappen Zeit, die sie bei ihren hohen Aufgaben erübrigen kann, und manchmal übertriebener Zärtlichkeit, die aber noch dem Kind gilt. Der Junge ist hin- und hergerissen zwischen Sehnsucht nach Zuwendung, Verstocktheit und trotziger Zerstörungswut, deren Folgen er nicht abschätzen kann. Gleich zu Beginn erzählt er nämlich, wie er den Tod seines Hundes verschuldet, als der ihn bei einer wilden Rauferei ein wenig in die Wade beißt und Gyuri in daraufhin so schlägt, dass der Hund wenige Tage darauf stirbt. Der Junge ist schuldbewusst, schweigt aber.
Eines Tages beschließen die Eltern, sich „ein Dienstmädchen zu nehmen“. Die Großmutter will ihre Position im Haushalt nicht verlieren und protestiert, der Junge ist aufgeregt: Ein Mädchen vom Lande! Das kennt er nur aus seinen Büchern.
Inzwischen sucht er Kontakt mit dem selbstbewussten Nachbarmädchen Eva. Dabei prahlt er mit dem, was sich seine Eltern leisten können, doch Eva kann ihn bei allem übertrumpfen.
Als das Dienstmädchen Szidike ankommt, versucht Großmutter Eindruck zu schinden, die „Gnädige“ zu spielen. Gyurka soll Szidike den Garten zeigen; er ärgert sich aber, dass sie in ihm noch den kleinen Jungen sieht. Das neue Mädchen muss mit der Familie am Tisch essen und hochmütig schweigend nimmt diese ihre Essmanieren zur Kenntnis. Dass sich die Eltern nun gar nicht mehr bei Tisch unterhalten – und er somit noch mehr aus ihrem Leben ausgeschlossen ist – bringt den Jungen gegen das Dienstmädchen auf. Sich selbst überlassen – mit den Eltern hat er den ganzen Tag noch kein Wort gewechselt – versucht er Szidike abends im Bad zu beobachten. Im Garten kämpft er dabei zwischen Angst vor der Dunkelheit und seiner Neugier auf das Mädchen. Als er am nächsten Tag mit dem Nachbarsmädchen Ball spielt, versuchen beide, sich mit dem zu übertrumpfen, was die Eltern können, und verzanken sich. Von der Mutter wieder einmal im Stich gelassen, sucht er ein Gespräch mit Szidike, spricht sie auf das Kreuz an, welches diese um den Hals trägt und prahlt damit ein ungläubiger Kommunist zu sein. Der Junge weiß nicht wohin mit sich. Unruhig sucht er nach Menschen, denen er seine Probleme anvertrauen könnte und landet schließlich beim Bücherregal nach etwas Lesbarem. Dabei fällt ihm Mutters Bibel in die Hände, welche diese, als sie 1944 noch im Untergrund arbeitete, als Tarnung auf Flugblätter gelegt hatte; die Eltern fühlen sich ganz als Helden des Kommunismus. Gyuri blättert er in dem Buch, stößt auf die Gebote, und wird noch gereizter. Schließlich provoziert und beschuldigt er die bügelnde Szidike mit scheinbaren Widersprüchen; Angst und Wut brechen aus ihm heraus und er fängt an das heilige Buch zu zerfetzen. Szidike kann es ihm entwinden, vergisst dabei aber das Bügeleisen. Der Junge bemerkt, dass das darunter liegende Nachthemd versengt, doch rachsüchtig und schadenfroh macht er sie erst darauf aufmerksam, als es zu spät ist. Da bemerkt er, wie unglücklich das Mädchen ist und auf einmal tut sie ihm leid.
Am nächsten Morgen überfallen ihn schon beim Aufwachen Angst und Scham. Alles ballt sich über ihm zusammen wie eine einzige graue Wolke. Die Mutter ist noch ganz erfüllt vom Empfang beim Genossen Rákosi – Gyuri fallen bereits Ungereimtheiten auf – gleichzeitig beginnt er sich zu schämen über die Art und Weise, wie die Familie das Dienstmädchen so herablassend behandelt. Doch wieder einmal schweigt er, als Großmutter mit dem versengten Nachthemd kommt und Szidike herunterputzt.
Als am Sonntag Besuch kommt, wird das ganze politische Klima der damaligen Zeit sichtbar: Einerseits will man sich herrschaftlich aufführen: Die Nachbarn, obwohl sie Garten an Garten wohnen, werden mit einem Auto gebracht, andererseits herrscht bereits diffuse Furcht: Gyurka fürchtet sich von dem schwarzen Auto abgeholt zu werden, weil er gegen Evas Mutter solch ein loses Mundwerk gehabt hatte. Vor Angst und Scham weiß er gar nicht, was er tun soll; doch nichts geschieht. Im allgemeinen Trubel wird das Dienstmädchen beschuldigt, ein Tischtuch gestohlen zu haben. Als Gyuri sie verteidigt, bekommt er eine Ohrfeige. Da ist die Angst in ihm wie weggeblasen; denn ihm geht der Unterschied auf zwischen schönen Worten und Taten der Erwachsenen. Szidike, dem Dienstmädchen hätte er sich sicher mit der Zeit anvertrauen können, doch der gekränkte Stolz der Großmutter, die niemanden im Haushalt neben sich dulden will, treibt das Mädchen wieder fort. Gyuri weiß, dass sie deswegen nicht mehr kommt, weil sie verdächtigt wird und sagt das auch seiner Mutter. Die Eltern beschließen schließlich, nach dem Mädchen zu sehen, Gyurka darf mitfahren. Die Mutter erstaunt sich über die armseligen Gehöfte. Offenbar kennen die kommunistischen Funktionäre die harte Realität nicht, wissen nicht, wie die einfache Bevölkerung leben muss. Sie treffen Szidike, ihre kranke Mutter und den kleinen Bruder, der rohe Kartoffelschalen isst, in der Küche ihres Bauernhofes an: Dort steht auf einer weißen Decke ein Heiligenbild, daneben liegt die Bibel. Szidike beteuert, sie nicht gestohlen zu haben. Da bringt Gyurka endlich den Mut auf sie zu verteidigen und sagt, dass er ihr die Bibel gegeben habe. Die Mutter will die Bibel unbedingt wieder mitnehmen, bedeutet diese doch für sie eine sentimentale Erinnerung. Im Hinausgehen sieht der Junge, dass das Buch immer noch auf dem Tisch liegt, macht die Mutter jedoch nicht darauf aufmerksam – und so bleibt das heilige Buch da, wo sie hingehört, bei Szidike, die es gerettet hat.
Das Buch ist ein hochpolitisches Buch, denn es schildert den Gegensatz zwischen eben jener neuen Klasse, die eigentlich die Arbeiterklasse repräsentieren sollte, aber genau in die Fußstapfen der hinausgeworfenen Bürger tritt – und sich in der neuen Situation überhaupt nicht benehmen kann. Es sind Emporkömmlinge, die vergessen wollen, aus welcher Schicht sie eigentlich stammen. Dass Nádas darauf zeigt, ohne die Missstände einmal tatsächlich mit Worten zu benennen, hat man schon dem jungen Autor übel genommen. Als er sich „uneinsichtig“ zeigte, wurde er für acht Jahre mit Publikationsverbot belegt.

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