Rezension: Doma, Ákos – “Der Müßiggänger”

Roman
Rotbuch, 2001
ISBN: 3-434-53075-4

Einige Sprichworte könnte man als Motto über diesen Roman setzen:
„Wer schläft, sündigt nicht“ / „Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf“/
„Gelegenheit macht Diebe“ und „Leben und leben lassen“.

Der komplexe Roman handelt von einem jungen Mann, 23 oder 24 Jahre alt, der seinen Lebenszweck darin sieht, hauptsächlich zu schlafen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Mit Erfolg kann er sich den allgemeinen Modetrends, dem Konsumrausch, der modernen Technik entziehen. Zum Arbeiten hat er keine Lust, aber: „Es ist im Übrigen nicht wahr, dass ich keiner Arbeit nachgehe. Richtig heißt es: Ich gehe keiner geregelten Arbeit nach. […]. Während die Arbeit früher der unmittelbaren Lebenserhaltung diente, dient sie heute dazu, Geld zu verdienen…“. Er muss viel nachdenken – und dazu braucht er Zeit – und ehe er sich’s versieht, ist der Tag schon wieder zu Ende. Trotzdem: Auch er hat irgendwelche Dinge nötig. Das hat für seine Mitmenschen und den Leser, nicht nur angenehme Seiten; denn sein, wie er selbst sagt, ungenügend ausgebildetes Gewissen, kann er immer mit Vernunftgründen beschwichtigen. Seine Moral ist zwiespältig und sehr anpassungsfähig. Er nimmt sich, was er braucht: „…meine Verstöße sind Bagatellen, belanglose, kaum nachprüfbare Zuwiderhandlungen, die ebenso gut nicht passiert sind, wie sie passiert sind. Ich lebe unscheinbar und schade niemandem, niemand schöpft Verdacht gegen mich, weswegen auch? …“ Nach verschiedenen Diebereien und einem Raub fällt er einfach in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf – und wenn er aufwacht, kann er sich nicht mehr erinnern. War alles nur ein Traum? – „[…] Und vielleicht ist wirklich nichts geschehen, denn etwas wegzunehmen, heißt nicht, es nie wieder zurückzubringen, wohingegen man unmöglich etwas zurückgeben kann, was man nicht zuvor an sich genommen hat“. Er verschafft sich Vorteile, wenn Andere unachtsam sind, füllt amtliche Fragbögen nicht ganz wahrheitsgemäß aus, wiegt im Supermarkt nicht ehrlich ab, fährt ohne Fahrschein, nimmt vergessene Münzen vom Telefonautomaten, liegen gelassene Shampooflaschen aus dem Freibad, Möbelstücke vom Sperrmüll, also alles, was andere vergessen, wegwerfen – oder wo sie nicht genau hinschauen.
Dieser junge Mann hat seit seinen Schülertagen einen besten Freund, Zoltán, der mit seinen Eltern aus Ungarn gekommen war. Er hat es schwer, sich zu integrieren, da er die Sprache anfangs nicht beherrscht. Also schweigt er. Die beiden finden sich und verstehen sich wortlos; denn unser namenloser Erzähler hat einfach keine Lust zu reden. Überraschend lädt Zoltán seinen Freund in den Sommerferien nach Ungarn ein. Sie erleben schöne Tage am Balaton – vor der Rückfahrt hört der Freund das unterdrückte Schluchzen Zoltáns, der sein Heimweh nicht niederkämpfen kann. Er wird sich bis zum Ende nicht richtig zugehörig fühlen, hadert damit, dass man ihn, den Ostler, nicht verstehe, dass er nicht angekommen sei – dass er kein Glück habe, obwohl er es gebraucht habe, anders als sein Freund, der dieses Glück gar nicht nötig habe, da ihm sowieso alles egal sei.
Das Buch ist aber auch eine Liebesgeschichte. Zoltán und unser namenloser Held verlieben sich in ihre gemeinsame Schulkameradin Freya, Zoltán obsessiv, sein Freund zurückhaltend. Er lässt einfach alles geschehen – und wenn er doch einmal die Initiative ergreift, geht das sicher schief.
Diese seine Passivität zieht aber ganz offensichtlich die Frauen an, denn noch zwei weitere Frauen, Adela, eine angehende Schauspielerin und Katharina, Abiturientin, Brucknerspezialistin und spätere Medizinstudentin, verlieben sich in ihn – und er glaubt, sich in sie zu verlieben. Aber es ist wohl eher so, dass er sich in Gegenwart von Frauen wohlfühlt, ihren Duft und ihre Ausstrahlung genießt – und in die Liebe verliebt ist.
Wir treffen unseren Mann auf einer Rückreise, einer Reise, nach deren Ende er für immer als verschollen gelten will. Er will sich den Menschen, ja dem Leben entziehen, sich abkapseln und von einem Haufen Geld leben, von dem er „nicht weiß, wie er dazu gekommen ist“. (Vielleicht in einem tiefen Schlaf?).
Außerdem leidet er unter Verfolgungswahn, schon seit seinen Studententagen in München. Darum hat er vor, sich im berühmten Marienbad in Sicherheit zu bringen.
Auch hier, im Turm eines Hotels schläft er viel, träumt, wartet auf eine Zeitungsnachricht, die von einem Unfall in der Wüste handeln soll. Immer wieder nimmt sich vor, endlich an seinem großen Roman zu arbeiten, doch in Wirklichkeit hat er nicht einmal damit angefangen, hat, außer dass er von einem armen Schriftsteller handeln soll, noch überhaupt keine Idee dazu. Er sinniert und träumt vor sich in, informiert dabei den Leser über sein bisheriges Leben:
Vor seiner Flucht hatte er in München studiert, bis er sich eines Tages von einem Mann, der in voll Hass anschaute, verfolgt fühlt. Hals über Kopf flieht er in die kleine Universitätsstadt Bruchtal. Dort wohnt er, ordnungsgemäß angemeldet, in einem seit Jahren leerstehenden Haus, am Rande der Altstadt, mittellos, mit einer kleinen staatlichen Zuwendung, der Ausbildungsförderung. Nach vier Monaten in Bruchtal lernt er Katharina kennen und sein ganzes Denken heißt fortan nur noch Ka-tha-ri-na. Die junge Frau hat gerade ihr Abitur mit Bestnote bestanden, würde gern Musik studieren, doch ihre Eltern haben eine Medizinerlaufbahn für sie vorgesehen. Der Müßiggänger macht sie neugierig, zieht sie an, bis sie sich einbildet, auch in ihn verliebt zu sein. Am liebsten würde sie mit ihm irgendwohin verschwinden. Dann gewinnen praktische Überlegungen, dass man heutzutage doch für sich vorsorgen müsse, die Oberhand.
Inzwischen fühlt sich unser Erzähler aber schon wieder beobachtet und verfolgt. Es könnte allerdings sein, dass sich ab und zu sein Gewissen meldet, wenn er sich nur mit Scheintätigkeiten umgibt und philosophisch klingende Sprechblasen über seine Einstellung zum Leben abgibt.
Angela taucht auf, in die er auch schon einmal verliebt war. Sie ist inzwischen eine bekannte Schauspielerin geworden und kann sich ein luxuriöses Leben leisten. Angeblich fühlt sie sich bei ihm, ihrem einzigen echten Freund,– auch sie würde sich gern bis ans Ende der Welt mit ihm zurückziehen. Doch auch sie erschrickt über seine Verwahrlosung, über sein Desinteresse und seine Antriebslosigkeit.- Angela hatte er kennen gelernt, als er Zoltán zum Flughafen nach Amerika bringen wollte. Das war vor eineinhalb Jahren. Seitdem hatte er nichts mehr von Zoltán gehört – und doch, kürzlich hatte er geglaubt, seine Stimme gehört zu haben, als er Angela angerufen hatte.
Ein halbes Jahr hatte er sich sicher gefühlt in Bruchtal, bis dann im Frühjahr ein Nachbar mit ins leer stehende Haus zieht, und sich alles ändert. Sein Verfolger? Sein Verfolger! Dieser scheint ein unangenehmer Mensch zu sein, angeblich unschuldig im Gefängnis saß und nun ständig an seiner Rechenmaschine sitzt. Er stellt sich als „Wolf“ vor, Katharina lernt ihn später unter dem Namen „Moritz“ kennen.
Beim nochmaligen Lesen des Buches kommt mir der Verdacht, dass der „Verfolger“, Moritz oder Wolf, auch der Schriftsteller sein könnte, der seine Figuren hin- und herschiebt, die Möglichkeiten seiner Romanfiguren erprobt, sich verschiedene Leben für sie ausdenkt, aber mittendrin manchmal umzukehren muss. Hin und wieder entgleiten ihm seine Figuren und führen ein Eigenleben; der Roman entwickelt eine Eigendynamik. Sie verlieben sich, wie es eigentlich gar nicht vorgesehen war. Bis sich seine Figuren endlich von ihm, der alles zu sehen und zu bemerken scheint, befreien können.
Zoltán allein wirkt real, lebendig mit seinem Heimweh, seiner Trauer über die verlorene Heimat, seinem Hadern mit seinem Schicksal. Für ihn war die Flucht der Bruch in seinem Leben, der wohl nicht mehr zu kitten ist.
Zoltán taucht wieder auf – unser Erzähler bietet sich an, bei einem Klassentreffen zu vermitteln zwischen Freya und ihm, Missverständnisse und Kränkungen aus der Jugendzeit auszuräumen, doch es kommt ganz anders: Er wird den wartenden Freund vergessen, mit Freya ein Liebesstündchen im Getreide haben, von Katharina überrascht werden und mit Freya in deren Wagen zurückfahren.
Zoltán war also wieder zurückgekehrt aus Amerika, wo er unermüdlich in Schwarzarbeit geschuftet und sich ein kleines Vermögen verdient hatte. Nach dem vergeblichen Warten beim Klassentreffen ist er dann Adela wieder begegnet. Die beiden wollen heiraten.
Unser Mann fühlt sich derweil so bedrängt und bedroht von seinem Nachbarn (weiß der etwas vom Einbruch und Geldraub bei der alten Frau von gegenüber?) – dass er sich entschließt, endgültig zu verschwinden. Mit Zoltán verabredet er einen Wüstentripp, bei dem ein „Unfall“ passieren – und Zoltán allein zurückkehren soll.
Nun erwacht er in Marienbad und hat das Gefühl, dass etwas Furchtbares auf ihn zukommt. Er schleicht aus dem Haus und kauft eine Zeitung: Die ersehnte Nachricht: Unfall von zwei Fahrern nahe der Grenze zwischen Algerien und Niger. Die Leiche von Z. D. sei entdeckt, vom Beifahrer fehle jede Spur. So war das nicht ausgemacht gewesen. Zoltán hatte zurückkehren sollen!
Heiß fällt ihm ein, dass er seine Fluchtaufzeichnungen in Bruchtal hatte liegen lassen. Überstürzt fährt er zurück. Moritz/Wolf hat sie inzwischen zwar gefunden, aber angeblich nicht gelesen. In dieser Nacht verunglückt der Nachbar – Und der Schläfer erinnert sich an nichts mehr: „[…] Der Schlaf ist Herr der Erinnerung, er allein kann sie löschen und Vergessen bescheren. Wie fern alles gerückt ist. Und doch ist, als sei etwas geschehen. Ja, in der Nachbarschaft ist ein Unfall geschehen, ein Mensch ums Leben gekommen […]“ Er eilt zum Bahnhof, fährt los – und findet seine große Liebe wieder.
Im Schlussbild sehen wir ihn, wie er sich um sein Kind kümmert, glücklich, dass er sonst nichts zu arbeiten hat – und als er plötzlich wieder seinen alten Bekannten, den Verfolger trifft, der ihm den Weg verstellen will, streift er ihn so, dass der zu Boden stürzt.
Ja, und zehn Jahre später lesen wir wieder von diesem jungen Mann, diesmal stellt er sich auch vor: Ferdinand, „Fern“ für seine Freunde. Zu Hause hat er es nicht ausgehalten, hat seine Frau Freya und die Tochter zurück gelassen und lebt nun zusammen mit drei weiteren Arbeitslosen in einer Bude am Waldrand. Die Geschichte heißt: „Die allgemeine Tauglichkeit“.
© Gudrun Brzoska, Juli 2012

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