Rezension: Závada, Pál – „Das Vermächtnis des Fotografen“

Aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner
Verlag: Luchterhand, 2010
ISBN: 978-3-630-87238-4
Originaltitel. A fényképész utókora
Bezug: Preis: Euro 22,95

Gleich mehrere Schicksale erzählt uns der Autor in diesem Gesellschaftsroman vor dem düsteren Hintergrund ungarischer Geschichte in den Jahren 1942 bis 1992: Der zweite Weltkrieg mit den Judenverfolgungen, der Ausweisung deutscher Siedler, das Erstarken und die Schreckensherrschaft des Kommunismus, seine allmähliche Aufweichung.
Závada nennt keine Namen; nur anhand der Jahreszahlen kann man sich als Leser in der Geschichte zurechtfinden. Die Schicksale sind austauschbar; so erging es vielen, so haben sich auch viele mit der neuen Macht arrangiert: Selbst nach dem Krieg gehen Pogrome an den Juden weiter, unliebsame Mitbürger werden in Arbeitslager oder ins Gefängnis gesperrt, Minister, in die Enge getrieben, begehen angeblich Selbstmord.
Die Protagonisten agieren auf drei Zeitebenen, ihre Lebenswege, die ihrer Eltern und Großeltern treffen immer wieder aufeinander, laufen parallel nebeneinander her, kreuzen sich und gehen wieder auseinander. Begleitet werden die Geschichten von einem allgegenwärtigen „Chor“, der mal sarkastisch, mal ironisch, humorvoll, neugierig oder erklärend alles kommentiert. 1942 zeigt die Großväter-Generation: eine Gruppe Dorfforscher mit ihrem Leiter, Prof. László Dohányos, trifft in einem Dorf auf mehrheitlich aus der Slowakei angesiedelte Ungarn. Sie wollen angeblich das armselige Leben der Bevölkerung erforschen um Abhilfe zu schaffen, doch eigentlich bespitzeln und diffamieren sie die Minderheiten, Slowaken und Juden. Zu der Forschergruppe gehört auch der Jude Jenő Adler, Dohányos’ Assistent. Er wird von den anderen misstrauisch beäugt, doch das nimmt er in Kauf, will einfach dazu gehören, einer der ihren sein. Der ansässige jüdische Fotograf macht ein Gruppenbild, das erst gegen Ende des Buches auftaucht. Es zeigt die Menschen, deren Lebensgeschichten mit denen ihrer Nachkommen hier erzählt werden. Erst nach und nach schälen sich die Einzelschicksale heraus, stets beobachtet und kommentiert von dem namen- und gesichtslosen Chor, der sich „Wir“ nennt. „Wir“, das können die zufällig Umstehenden sein, Kommilitonen, Schulkameraden, Geheimdienstler und Spione, oder einfach Leute, welche tieferen Einblick in die Geschichte haben. Fast immer wirkt dieser Chor bedrohlich, denn die handelnden Personen sind praktisch nie allein. Immer lauert ein „Wir“, das beobachtet und Stellung nimmt. Schon 1942 ist die Zeit in Ungarn so, dass ein Jude besser nicht auffallen sollte. Dohányos ist nicht frei von Antisemitismus und Nationalismus, für ihn sind Slowaken, Juden und später die ansässigen Schwaben, Fremde, die das reine Ungarntum verderben.
Mit dieser Auffassung ist er nicht allein, wie die Entwicklung bis 1992 zeigt. Dohányos, der Liebhaber vieler Frauen, hat eine Geliebte, die Jüdin Mária Gerle. Für sie sorgt er mit falschen Papieren, als es im Krieg ernst wird für die jüdische Bevölkerung. Weder für ihre Eltern, noch für seinen Assistenten Adler rührt er einen Finger. Er hat einen Riecher dafür, sich in den richtigen Kreisen zu bewegen. Schon zu Zeiten des ungarischen Faschismus liebäugelte er heimlich mit den Kommunisten, obwohl er noch eine bürgerliche Partei mitbegründet. Als es besser ist, so zu tun, als hätte es Judenverfolgung in Ungarn nie gegeben, hat er nichts gesehen und gehört, später sind es dann Andere, die angeblich nichts bemerkt haben. 1956 schließt er sich unauffällig der Opposition an und hofft kurzzeitig darauf, dass das System umgekrempelt wird. Doch rechtzeitig kann er wieder umschwenken, macht alle Auf- und Abstiege der Partei mit. Bis zu seinem Tod ist er ein ewiger Minister, beliebig einsetzbar, da er nie in die Partei eingetreten war. Die weiteren Dorfbewohner treffen es grausam oder gut: Die Juden des Dorfes, wie der Fotograf Buchbinder mit seiner Familie wird im KZ ermordet, der Dorfarzt, der allseits beliebte Dr. Kaiser kehrt als Einziger seiner Angehörigen zurück, mit ihm der Radiotechniker Láng, der ebenfalls seine Familie verloren hat.
Anders die Ungarn: Aus dem Revolutionsführer János Dusza wird ein begeisterter Rákosi-Anhänger, der nach ’56 zwar aus der Partei ausgeschlossen wird, aber im weiteren Verlauf des sich abzeichnenden „Gulaschkommunismus“ wieder festen Boden unter die Füße bekommt und weithin geachtet ist. Seine Freunde, slowakische Ungarn kommen nicht so gut weg, landen zeitweise im Arbeitslager, werden der Sabotage bezichtigt, Familien werden zerstört. Dohányos Assistent Adler kann sich während der Verfolgungen der Pfeilkreuzler zwar verstecken und retten, kommt später aber in ein stalinistisches Lager und 1957 wieder ins Gefängnis wegen aufrührerischer Flugschriften, die ihm Dohányos diktiert hat. Doch in seiner Position kann dieser es sich nicht leisten, dem „lieben Jenci“ zu helfen. Wenigstens unterstützen er und Mária Gerle Adlers Frau und Tochter. Adler hält unverbrüchlich zu seinem Meister Dohányos, lässt nichts auf ihn kommen, entschuldigt alle seine Taten oder Versäumnisse. Er will nicht außerhalb stehen, will zu einem Freundeskreis gehören und geachtet werden.
Ein Streiflicht im Jahre 1968 zeigt uns die Kinder der damaligen Dorfbewohner und die Stellung ihrer Eltern. Dreizehnjährige, pubertierende Schulkinder, die miteinander rivalisieren, sich zum ersten Mal, meist glücklos, verlieben. Der wirkliche Unglücksrabe ist dabei Ádám Koren, der zur slowakischen Minderheit gehört. Er hat sich in Évi, die Tochter seiner Lehrerin verliebt, geht ihretwegen in einen Singkreis, an dem ihm eigentlich nichts liegt, verhält sich ansonsten ziemlich wortkarg und passiv. Évi macht sich trotz aller seiner Anstrengungen nichts aus ihm.
Die dritte Zeitachse beginnt 1977, sie schildert die Nachkriegsgeneration, die keine Ahnung hat, nichts fragt – und der man auch nichts darüber erzählt, was in Ungarn geschehen war. Ádám studiert in Szeged, später in Budapest Jura, ohne besonderen Fleiß. Mit zweiundzwanzig Jahren, 1977, macht er eine Interrail-Reise mit einem Freund. Unterwegs lernt Ádám eine Gruppe junger Ungarn kennen, die schon West-Erfahrung hat – und verliebt sich bis über beide Ohren in die Frau des Filmschaffenden András Enying, in Viola Adler. Er umschwärmt die junge Frau, sucht ihre Nähe, wagt es aber nicht, sich zu erklären – es geschieht nichts. Ádám ist und bleibt ein Traumtänzer, den Kopf in den Wolken. Nur mit großer Mühe und Verspätung macht er seine Examina. Wenn es allerdings um Viola geht, kommt Leben in ihn; alles, was mit ihr zusammenhängt kann er sich bis ins Kleinste merken. Eigenartig, wie uninteressiert er am Leben um ihn herum, und an der Geschichte seines Landes ist, wie wenig er darüber weiß oder wissen will. Erst als er über Jenő Adler liest, mit ihm ein Interview macht und auch Artikel von Adler liest, gerät sein Weltbild etwas ins Wanken.
Einmal fällt ihm durch Zufall das Gruppenfoto von 1942 in die Hände. Doch Ádám Koren steckt es unbeachtet in sein Lieblingsbuch, einen Roman von Flaubert „Éducation sentimentale“, die Parallelgeschichte zu seinem Lebensroman. Er hätte darauf seinen eigenen Vater, Violas Vater und viele andere erkennen können. Závada erzählt uns diese Geschichte nicht chronologisch, sondern in den drei Zeitebenen, mit vielen Rück- und auch Vorgriffen in die Geschichte. Jede Zeit hat ihre eigene Sprache: 1942, als schon die ersten Dörfler gefallen sind oder abtransportiert wurden, der Antisemitismus schon überall spürbar ist, 1968, als er die Kinder der damaligen Dörfler vorstellt, 1977 und folgende Jahre bis 1992, im sogenannten „Gulaschkommunismus“, als sich die ältere und die jüngere Generation immer wieder auf ihren Lebenswegen begegnet. Jahrelang haben sich Ádám und Viola nicht mehr gesehen. Viola hat von ihrem untreuen Ehemann eine Tochter bekommen, Koren immer wieder Frauenbekanntschaften für kurze Zeit, auch einmal Évi, seine Jugendliebe. Da sieht es gegen Schluss des Romans fast so aus, als könnte sich Ádáms Sehnsucht doch noch erfüllen. Viola besucht ihn. Doch es ist zu spät. Unbemerkt fällt das Foto aus dem Buch – beide haben es nicht bemerkt. Sie sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt; „sonst ist nichts geschehen“. Ein Buch, das sich zu lesen lohnt, inhaltlich hochinteressant, stilistisch ein Vergnügen!

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