Rezension: Orosz, Susanne – „Spur der Angst“

Jugendroman / Thriller
Verlag Erika Klopp, Hamburg, 2010, Reihe: Mittendrin
ISBN: 978-3-7817-1502-8
Bezug: Preis: Euro 9.95

Die 16jährige Lynn braucht ein Filmprojekt für die Aufnahme an die Kunsthochschule. Mit ihrer Freundin Isabel hat sie sich dazu bei einer Modedesignerin verabredet. Doch Isabel erscheint nicht. Als Lynn allein zum Interview gehen will, scheinen sich ihr überall Warnungen in den Weg zu stellen, die ihr sagen wollen, geh nicht weiter. Gesichter erinnern sie an ihren toten Bruder Bert. Damit sie überhaupt noch rechtzeitig einen Film zustande bringt, rät ihr der Kunstlehrer, sich mit Bogdan zusammenzutun, der auch noch einen Teampartner sucht.
Dieser Bogdan entpuppt sich zunächst als abgehobener Macho, der viele Sprüche auf Lager hat, gute Ideen, aber kein Konzept. Er weiß ganz genau, dass er keinen Modefilm machen will, sondern einen über die Demonstration in Gorleben. Widerstrebend stimmt Lynn zu. Das Ganze hat für sie nur deshalb einen Reiz, da dort die geliebte Tante Vanessa wohnt. Ihre überängstliche Mutter, eine Stewardess, kann sie nicht überzeugen, – und so fährt sie heimlich mit Bogdan los.
Erzählt werden hier zwei Geschichten, die sich immer wieder kreuzen und ineinander verflechten: Die eine ist die Geschichte von Lynn und ihren Eltern, die über den Unfalltod des kleinen Bruders Bert vor vier Jahren, nicht hinweg kommen. Die Mutter hat seitdem Depressionen, klammert sich an Lynn, der Vater ist kurz danach als Starfotograf nach Berlin verschwunden – Lynn scheint überall, nicht nur im Traum, ihren toten Bruder zu sehen. Mit dem geschiedenen Vater hat sie keinen Kontakt mehr; denn die Mutter sieht in ihm den Mörder ihres kleinen Sohnes.
Die andere Geschichte ist die der vielen Demonstranten in und um Gorleben, die versuchen, die Castortransporte aufzuhalten so lange es geht – und die der Polizisten, welche die Menschenmassen zurückzudrängen suchen.
– Bogdan ist überzeugt von der Wichtigkeit des Films und versucht auch Lynn davon zu überzeugen, wie gefährlich es ist, Atommüll in nicht sorgfältig untersuchten Stollen zu lagern. Sie filmen abwechselnd, Lynn nach ihrem Konzept, Bogdan „aus dem Bauch heraus“, so wie ihm die Szenen vors Objektiv kommen. Es gelingen ihnen gute Sequenzen von Demonstranten, die, trotz Kälte und durchwachter Nacht noch zu feiern verstehen, bevor es richtig losgeht. Aber als es ernst wird, stehen sie ihren Mann, auch wenn sie sich vor den aufgebrachten, zum Teil noch sehr jungen, Polizisten in Acht nehmen müssen. Natürlich gerät Bogdan in solch ein Handgemenge.
Dahinein verwirrt sich Lynns Geschichte: Schon die Ankunft bei Tante Vanessa ist seltsam kühl und distanziert, die Tante beschwört sie geradezu, wieder zurück zu fahren. Doch Lynn beschwichtigt sie. In der Nacht hört das Mädchen Geräusche, ängstigt sich und träumt wieder von ihrem Bruder, der in eine Baugrube gefallen und dort im Schlamm erstickt ist. Der Vater hatte ihn nicht mehr retten können. Sie sieht immer wieder ihre Mutter vor sich, die dem Vater auf die Brust trommelt und „Mörder, Mörder“ schreit. Am nächsten Morgen hängen in den Bäumen Tierskelette und überall dazwischen Fotos ihres toten Bruders. Das kann doch kein Zufall sein! Sie wird darüber fast hysterisch und erzählt endlich Bogdan, der, wenn es darauf ankommt, auch ganz gut zuhören kann, was damals los war. Sie ist unruhig und wie vom Donner gerührt, als sie einem Jungen begegnet, der aussieht wie Bert. Ist der Bruder denn gar nicht tot? Lynn spürt, dass die Tante ihr etwas verheimlicht und als sie im Nachbarhaus zufällig ihrem Vater begegnet, heruntergekommen, aufgeschwemmt von Alkohol, weiß sie, dass sie den „Spinner“ vor sich hat, von dem sie schon im Gasthaus hatte reden hören. Sie flieht vor ihm, stolpert, – und als sie wieder zu sich kommt im Haus des Vaters, ist sie sich sicher, dass er sie gestoßen hatte. Hat er es auch auf sie abgesehen? Am Abend erfährt sie dann, dass der kleine Lennart verschwunden ist. Von ihm hatte der Vater die ganzen Fotos gemacht, die überall hängen. Die Nachbarschaft ist aufgebracht und „weiß“ schon, wer dahinter steckt. Auch Lynn zweifelt am Vater. Als das Kind in einer Grube gefunden wird, ist sie fast überzeugt, dass ihr Vater damit zu tun hat. Inzwischen hat ihr Vanessa die Geschichte erzählt, wie der Vater den Tod des Sohnes nicht hatte verkraften können, in immer tiefere Depressionen gestürzt war und schließlich seinen Beruf aufgeben musste. Er konnte wenigstens in die Nachbarschaft seiner Schwester Vanessa ziehen. Mit den Fotos, die er von dem kleinen Lennart knipste, hofft er über den Tod von Bert hinwegzukommen, doch umsonst. Lynn sollte von alledem nichts erfahren.
Wieder in Hamburg, geht sie zum Gegenangriff über. Sie wirft ihrer Mutter vor, dass sie genauso Schuld an Berts Tod hat wie der Vater; denn auch sie hätte nach dem Jungen sehen können. Immer habe sie einen Schuldigen gebraucht – und da war es für sie klar, dass nur ihr Mann derjenige sein konnte. Sie, Lynn, habe ihren Bruder verloren, aber um sie hätten sich die Eltern nicht gekümmert, nur um ihre eigenen Psychosen. Das Mädchen sucht den Beamten auf, der damals die Untersuchung geleitet hatte. Dieser erzählt ihr einiges aus dem Protokoll: Der sechsjährige Bert hatte damals mit seinem Freund Max und dessen neuem Bagger am Rand der Baugrube gespielt, als die Wände plötzlich einbrachen und den abrutschenden Bert zudeckten. Als der Vater geholt wurde, war es schon zu spät. Er konnte ihn nicht mehr reanimieren. Lynn fällt ein, dass die Eltern an diesem Tag gepackt hatten für eine Reise und sehr nervös waren. Sie selbst war aus der Nachhilfestunde zurückgekommen; denn in fast allen Fächern war sie schlecht gewesen. Sie hatte sich einfach nicht richtig konzentrieren können, überall hörte sie die lautstarken Streitereien ihrer Eltern.
– Derweil hat Bogdan schon angefangen das Filmmaterial zu schneiden, Lynn soll die Texte dazu schreiben. Ganz aufgeregt zeigt er Lynn eine Szene. Da sieht man den kleinen Lennart, der offensichtlich jemanden sucht. Zu einem Zeitpunkt, als er auf Grund der Selbstbezichtigung von Lynns Vater und auch auf Grund seiner eigenen Aussagen, schon längst vom Vater aus dem Garten weggelockt und in die Baugrube gestoßen worden sei. Lynn fährt mit dem Film ins Polizeipräsidium. Es ist klar, dass ihr Vater nichts mit Lennarts Sturz zu tun hatte, dass das Kind nur die Eltern schützen wollte, die zur fraglichen Zeit nicht zu Hause, sondern auf der Demonstration waren. – Damit hat Lynn auch ihre eigenen Geister besiegt.
Am Tag der Preisverteilung sind andere, buntere und kuscheligere Filme die Gewinner, doch zwei Journalisten werden auf ihre Dokumentation aufmerksam. Sie möchten ein Feature fürs Fernsehn machen über Jugendliche, die sich für Klimaschutz engagieren. Lynn und Bogdan sollen ein Praktikum bei ihnen absolvieren und bei der Recherche helfen. Außerdem ist Lynn mit ihrem Film die Aufnahmeprüfung in die Kunsthochschule so gut wie sicher.
Bogdan lädt sie ein, mit der Familie den Geburtstag seiner kleinen Schwester zu feiern, die 10 Jahre alt wird. Genau so alt, wie Bert jetzt wäre.
Susanne Orosz gelingt ein sehr spannendes, rasant erzähltes Buch, das einerseits die Problematik aufzeigt, wenn sich jemand in eine schier ausweglose Angst verrennt und überall nur noch Bedrohung zu lauern scheint. Andererseits macht sie ernst und gleichzeitig humorvoll auf die Gefahren des Atommülls aufmerksam und damit auf den Idealismus derer, die jahrzehntelang dagegen Sturm laufen.
Man „hört“ den Dialogen zu, sieht die Szenen einer Autorin vor sich, die schon einige Drehbücher für Kinder- und Jugendsendungen geschrieben hat.

Print Friendly, PDF & Email
Dieser Beitrag wurde unter Orosz, Susanne - "Spur der Angst" veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.