Rezension: Végel, László – „Exterritorium. Szenen vom Ende des Jahrtausends“

Aus dem Ungarischen von Akos Doma
Verlag Matthes & Seitz, 2007
ISBN: 978-3-88221-111-5
Originaltitel: Exterritórium, 2003
Bezug: Buchhandel, Preis: Euro 18,80

10. Juni 1999. Der Friedensvertrag zwischen Serbien und der NATO ist unterzeichnet. Der Sender „Freies Europa“ berichtet von der Kapitulation der Serben, doch die Bevölkerung feiert mit wilden Schießereien ausgelassen den „Sieg über Amerika“ und fühlt sich als „Retter Europas“, wie einst gegen die Türken. Végel scheint es unmöglich, dass die feiernden Massen tatsächlich an den Sieg glauben – und doch ist es so. Sie lassen die kommunistischen Führer hochleben, die unwahrscheinlichsten Geschichten füllen Straßen, Gassen und Fernsehen.
Doch allmählich setzt auch Ernüchterung ein, ohne neue Grenzen, ohne das erhoffte „Großserbien“ ist das Leben nichts wert.
Der ungarische Autor lebt in Temerin, nahe Újvidék (Novi Sad). Von dort sieht er die Luftangriffe während des Kosovo-Krieges. Bomber ziehen immer wieder über den Himmel. Schon seit einer Woche hofft er auf die Friedensverhandlung und verfolgt die widersprüchlichen Meldungen im Radio. Er erinnert sich an die Anfänge des Krieges, der in den nie beendeten Auseinandersetzungen Jahrzehnte und Jahrhunderte vorher seinen Anfang genommen hatte. Von diesen „Anfängen“ schreibt sich Végel chronologisch wieder vorwärts, bis zum Tag des Siegestaumels. Er dokumentiert die „Unabwendbarkeit“ eines Krieges, vor den Augen Europas.
Regierung und Volk waren sich einig: „Wir geben nicht auf“. Monatelang hatte Végel sich mit seiner Frau in fremden Häusern verstecken müssen, in Schutzräumen. So lernten sie die Welt des Krieges besser kennen als durch die Medien. Auch jetzt, während der „Siegesfeiern“ bleiben die Häuser der ungarischen Minderheit dunkel; bisher hatten sie es verstanden, sich „unsichtbar“ zu machen. Immer wieder fragt der Autor sich, wie es so weit hatte kommen können, versucht, die Ereignisse zu verstehen und kommt zu dem Schluss, dass die Geschichte, deren Teil er selbst ist, nicht nur von diesem Krieg handelt, sondern schon von den Zeiten der Eltern und Großeltern. Ganze Generationen hatten verheimlicht, dass sie nicht die Kraft gehabt hatten, auch nur einen einzigen Krieg zu beenden. Immer gab es nur Sieger und Verlierer, doch die Kriege wurden nicht wirklich beendet. Die Sieger wurden immer selbstherrlicher, die Verlierer hatten immer mehr zu büßen.
Végel erinnert sich, wie man seiner Mutter schon vor dem Krieg hinterher gerufen hatte, doch in ihre Heimat nach Ungarn zurückzugehen. Die Mutter war verdutzt, schlich nach Hause und verriegelte die Tür. Sie hatte keinen Pass, war fast 80. Bisher war sie nur ein einziges Mal in Ungarn gewesen, als er, ihr Sohn, sie zu der Reise überredet hatte. Sie wollte nicht, dass die Nachbarn von dieser Reise erführen, was er als junger Mann gar nicht verstehen konnte. Eine alte Angst war in ihr aufgebrochen, die Angst von 1945, als die Serben die Sieger, die Ungarn die Verlierer waren. Erst viel später erzählte sie von den Massengräbern der deutschen Bevölkerung, den Pogromen, die nach dem Krieg gegen sie und die Ungarn veranstaltet worden waren.
Végels Tagebuch umfasst nicht nur die knapp dreimonatige Kriegszeit; es erzählt auch die Geschichte von Region und Stadt. „Exterritorium“ ist die Klage um ein Novi Sad, das zwar nicht von Nato-Bombern zerstört wurde, sondern vom sich immer weiter ausbreitenden Nationalismus, gegen die multinationale Kultur.
Végel hatte das Land nicht verlassen, er war geblieben, wollte Zeuge der Geschichte sein. Er hatte geglaubt, seine Nachbarn zu kennen, mit denen er als Kind Fußball gespielt, sich als Erwachsener unterhalten hatte. Nur wenige serbische Freunde waren ihm geblieben. Noch will er sein Fremdsein nicht akzeptieren, obwohl es doch so offensichtlich ist und ihm wird bewusst, dass er ein Minderheitenschriftsteller geworden ist, einer der keine Wirklichkeit hat, nur ein Schatten ist. Andere, die die Treue zur Heimat immer im Munde führten, über sie schrieben, hatten sich aus dem Staub gemacht. Er aber bleibt in seinem Geburtsland, obwohl er es nicht mag, „wie ein Fremder, der sich dahin verirrt hat“. Er hatte ein Hüter der Vielfalt sein wollen, nun ist er einsam, nur noch einer der letzten Zeugen, ein „heimatloser Lokalpatriot“, wie er sich selbst nennt.
Eindringlich schildert Végel den ganzen Wahnsinn eines übersteigerten Nationalismus. 2003 wurde „Exterritorium“ in Ungarn zum besten Buch des Jahres gekürt.

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