Rezension: Dalos, György – „Der Fall des Ökonomen“

Roman
Aus dem Ungarischen von György Dalos & Elsbeth Zylla
Verlag Rotbuch, 2012
ISBN: 978-3-86789-153-0
Bezug: Buchhandel; Preis: Euro 18.95

Mit diesem Buch ist der Historiker und Romancier zur erzählenden Literatur zurückgekehrt. Seine letzten Bücher hatten sich hauptsächlich mit der Historie in und um Ungarn befasst: Mit dem Volksaufstand 1956, mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, mit Gorbatschow und der durch ihn eingeleiteten Wende.
Hier begleitet der Autor mit leiser Ironie seinen Helden Gábor Kolozs vom Studium in Moskau, zum Aufstieg nach dem Systemwechsel als Mitarbeiter der ersten frei gewählten Regierung, bis zum Absturz eines Menschen, für den man in der „neuen Welt“ keine Verwendung hat– und der aus der Notwendigkeit zu überleben, zum Betrüger wird.
Schon bald fallen dem Leser mehrere Dinge auf:
Der Autor wahrt zu seinem nicht unsympathischen Helden bis zum Schluss Distanz. Nie nennt er ihn vertraulich „Gábor“, sondern immer nur „Kolozs“. Kolozs scheint das Alter Ego einer ganzen Generation im Ungarn der Wendezeit zu sein. Gut ausgebildet, doch mit Null Aussicht auf einen Posten. Wer brauchte noch jemanden, der perfekt Russisch spricht! Wer wollte einen Ökonomen einstellen, der in der Planwirtschaft des Sozialismus ausgebildet worden war! Da nützte es auch nicht, dass er in den Jahren vor der Wende zur Opposition gezählt wurde, dass er die „Charta 77“ unterschrieben und aus seinem Beruf gedrängt wurde. Kolozs verkörpert kein individuelles Einzelschicksal, sondern das seiner Generation von Habenichtsen. Er steht für viele Menschen, die in der Zeit des Systemwechsels durch alle Netze fielen, anders als die „Wendehälse“, die im sozialistischen Regime in der Partei, oder gar als Spitzel dienten. Sie verstanden es, auch nach der Wende ihre Posten zu sichern.
In diesem Roman geht es vor allem um Wohnungsnot, Geld und Arbeitslosigkeit. – Vor allem die Arbeitslosigkeit war für die Ungarn bislang ein unbekanntes Phänomen gewesen. Im Sozialismus hatte man immer irgendwelchen bezahlten Tätigkeiten nachgehen können. Allerdings, Wohnungsnot und knappes Geld, das hatte es auch in dieser Zeit gegeben. Die Wohnungen waren zu wenige und zu klein. Selbst Jungverheiratete mussten bei ihren Eltern wohnen bleiben. Der raschere Zuschlag zur eigenen Wohnung konnte durch besondere „Dienste“ aufgebessert werden, indem man sich der Partei zur Verfügung stellte, in eine linientreue Familie mit größerem Wohnraum einheiratete, oder viele Kinder bekam; denn mit jeder Geburt wurde der Wohnungskredit billiger.
Im Oktober des Jahres 2001 sehen wir Gábor Kolozs, der seinen 95jährigen Vater in Košice beigesetzt hatte, völlig mittellos zurückbleiben. Dr. Dávid Kolozs war strenggläubiger Jude gewesen, Holocaust-Überlebender – aus Mauthausen als gebrochener Mensch zurückgekommen. Seinen Beruf als Arzt hatte er nach der Lagerhaft nie ausüben können. Beide Eltern stammten aus Košice, welches sie verlassen hatten, um in Budapest so weit wie möglich von Hitler weg zu kommen, was ihnen letztlich nicht gelungen war. Aber sie hatten sich damals bereits ein Familiengrab in der jüdischen Gemeinde von Košice gekauft.
Wie der Sohn es schaffte zwischen moralischen Skrupeln und der Notwendigkeit zu überleben, mit dem erschlichenen Geld seines verstorbenen Vaters aus einem Schweizer Wiedergutmachungsfond, fast bis zu seiner eigenen Verrentung durchzuhalten, ist die traurig-lächerliche Geschichte dieses Buches. Dem Leser bleibt dabei aber oft genug das Lachen im Halse stecken. In Rückblenden lässt György Dalos das Lebensdrama seines Helden an uns vorbeiziehen.
Die eigentliche Geschichte beginnt 1962, als Kolozs beginnt in Moskau zu studieren. Dabei stellt Dalos seinen Roman in die Zeit zwischen Kubakrise, Gagarins Weltraumflug, Generalamnestie der 1956 Verurteilten und dem 50. Jahrestag des Volksaufstandes, bei dem zunächst friedliche Demonstranten von der Polizei der sozialistischen Regierung niedergeknüppelt wurden.
Der 23. Oktober 2006 leitet auch den persönlichen Fall des Ökonomen ein und kommt am 4. November vorläufig zu Ende.
Als Jugendlicher hatte Gábor Kolozs sich in der Kommunistischen Jugend engagiert, später war er zur Opposition gelangt, wurde Unterzeichner der Charta 77.
Bis auf die Zeit seines Studiums in Moskau, einigen Jahren als regelmäßiger Gast in der leer stehenden Wohnung eines Freundes im Auslandsdienst, und wenigen Monaten nach der Wende in einer eigenen Wohnung, hatte er immer mit seinen Eltern zusammen gelebt. Seine Jugend war so armselig gewesen, wie die Wohnung in der er hausen und in die er nach dem Scheitern seiner Lebensplanungen, nach Scheidung und Arbeitslosigkeit immer wieder zurückkehren musste. Die Mutter, ständig schlecht gelaunt und verbittert, starb schnell und unerwartet, der Vater lebensuntüchtig durch die Zeit der Zwangsarbeit, überlebte sie um Jahre.
Nun, nach dem Tod des Vaters wird Kolozs erstmals bewusst: „Ich habe jetzt ein eigenes Zuhause. Zum ersten Mal in meinem Leben wohne ich in einer eigenen Wohnung, in der ich keinen Quadratmillimeter mit jemandem teilen muss“ .
Spöttisch-melancholisch macht sich Dalos über seinen Helden lustig: Wäre der nämlich tatkräftiger gewesen, hätte er an einem Bauprojekt der kommunistischen Jugend teilgenommen, hätte er ein zweites Mal geheiratet, hätte er ein Kind, oder gar Kinder gehabt, wäre ihm ein erklecklicher Teil eines Wohnungskredits erlassen worden. Doch Kolozs wollte nicht heiraten, wollte nicht ewig Kreditschulden vor sich herschieben. Lieber lebte er armselig und allein.
Zurückschauend musste Kolozs junior feststellen, dass es der „entscheidende Fehlschuss in seinem Leben“ war, als er unterschrieben hatte, in Moskau Ökonomie zu studieren. Viel lieber hätte er russische Literatur studiert, sein Lieblingsdichter war Puschkin – doch diese Ehre hatte er nicht ausschlagen können. In Moskau, so träumte er, würde er seinem Leben Inhalt und Sinn geben. Er war überzeugt, dass sich ihm eine glänzende Zukunft eröffnen, und er die Eltern aus dem elenden Loch, in dem sie hausten, herausholen würde. Das Studium in Moskau war auch eine Flucht von zu Hause.
Im Gespräch mit seinen Kommilitonen erahnte er erstmals den Unterschied zwischen sowjetischer Propaganda und der bitteren Realität. Doch noch wollte er an den Sieg des Sozialismus glauben. Richtig glücklich war er allerdings trotz der günstigen äußeren Umstände nicht – immer wieder zweifelte er an seiner Berufswahl. – In den Semesterferien in Ungarn fiel ihm auf, dass er sich hier in einer Konsumwelt bewegte, das tägliche Leben wurde nicht so sehr mit sozialistischen Lehrsätzen überfrachtet. – Gleichwohl, auch in Ungarn war die Partei immer zur Stelle. Zu Beginn des letzten Studienjahres, 1966, gab man ihm zu verstehen, dass es für eine künftige Anstellung von Vorteil wäre, würde er der Partei beitreten – und Kolozs füllte das Antragsformular aus. Nach seinem Diplom wurde er aber nur als Fachkraft in einer Dokumentationsstelle der Uni angestellt. Da war ihm schon klar, dass mit der Ökonomie einiges im Argen lag.
Endlich war er auch auf die Erwartungen seiner Freundin eingegangen und hatte Márta Tarnai geheiratet. Ihr Vater war ein bekannter Architekt und Kolozs hoffte, auf diese Weise aus der Wohnungsmisere herauszukommen. Die Familie bewohnte „normal“ eine viereinhalb Zimmer-Wohnung. Doch ein Umzug nach der Ehe in ein geräumigeres Zimmer erwies sich als Traum – mit einer der Gründe, warum die Ehe nur von kurzer Dauer war. – Am Tag ihrer Hochzeitsreise marschierten die Alliierten in die Tschechoslowakei ein (1968). Die Bahnhöfe wurden geschlossen, die Reise fiel aus. Sein Freund und Kommilitone Laci hatte mehr Glück. Er arbeitete als Parteimitglied bei der UNESCO in Paris. Kolozs war nicht neidisch – er durfte in dessen Abwesenheit die Wohnung nutzen. Eigene Reiseanträge, die er hätte zu einer Flucht nutzen können, waren immer abschlägig beschieden worden. –
1977 feierte er in der Wohnung des Freundes mit Angehörigen der kritischen Intelligenz Silvester und fühlte sich glücklich zugehörig. Im Januar hatte er bereits die Charta 77 zum Schutz der tschechoslowakischen Oppositionsgruppe unterzeichnet und im Herbst war seine Studie „Was geschah mit der Wirtschaftsreform?“ vom Sender Freies Europa gebracht worden. – Die Abrechnung folgte prompt: Gleich im Januar 1978 wurde er von der Geheimpolizei verhört, mit seinem Samizdat-Text konfrontiert und ebenso mit der Auswahl der etwa 80 Besucher seiner Silvester-Fete. Natürlich waren Spitzel darunter gewesen. Schon am Abend erhielt er die Kündigung. – Er verdiente in der Folgezeit nicht schlecht als freiberuflicher Dolmetscher und Übersetzer, doch als Freund Laci 1982 aus Paris abberufen und auf einen Versorgungsposten abgestellt wurde, musste Kolozs wieder zu seinen Eltern zurückkehren.
Auch nach der Wende konnte ihm vorübergehend ein ehemaliger Moskauer Kommilitone helfen. Fred, inzwischen ein bekannter Fernsehjournalist, wurde in die erste frei gewählte Regierung berufen und nahm Kolozs mit: „Die bewegten Zeiten Anfang der Neunziger – das waren die ökonomisch am besten abgesicherten und außerdem inhaltsreichsten Jahre in Kolozs’ Leben.“ – Ihm war aber bewusst, dass diese angenehme Zeit nicht von langer Dauer sein würde. Die Inflation fegte die bescheidenen Ersparnisse der kleinen Leute hinweg – auch er würde die hohe Miete nur so lange zahlen können, wie er zur Nationalversammlung gehörte. – Die Partei wurde schon bald abgewählt; ihre Sparanstrengungen kamen nicht gut an bei den Wählern – und Gábor musste wieder im elterlichen Loch unterkriechen. Einzig seinen Computer hatte er behalten können. Seitdem hatte er über 400 Bewerbungen erfolglos losgeschickt. Nicht einmal als Übersetzter bekam er Aufträge. In der Zeit nach der Wende waren seine ausgezeichneten Russischkenntnisse nicht mehr gefragt, aber auch für einfachste Hilfsarbeiten stellte ihn niemand ein.
Es war ihm nichts anderes übrig geblieben, als mit dem Vater von dessen Geld zu leben, welches er als Ökonom klug einzuteilen verstand. Und nun war der Vater zu früh gestorben, bevor Kolozs im Jahr 2007 selbst in den Genuss einer sehr bescheidenen Rente gekommen wäre.
Kolozs war moralisch erzogen worden, doch die schiere Not siegte über Moral und Gesetzestreue und so lebte er mit der gefälschten Unterschrift des Vaters, die er nur ein Mal im Jahr abgeben musste, weiter von dessen Wiedergutmachungsgeld. Kurz vor Vaters 100. Geburtstag kam es jedoch zur Katastrophe: Er hatte zu lange gezögert, den alten Mann rechzeitig „sterben“ zu lassen, unglückliche Umstände kamen hinzu – und so nahm das Schicksal seinen Lauf, als am 4. November 2006 ein Schweizer Fernsehteam Kurs auf seine Wohnung nahm, um den Jubilar zu feiern.
Nur noch drei Monate hätte Kolozs durchhalten müssen!
Da war es den ehemaligen Freunden und späteren Wendehälsen viel besser ergangen. Sie hatten zwar in und für die Partei gearbeitet, auch andere denunziert – und doch konnten sie sich nach dem Wechsel in wohldotierte Stellungen hinüber retten.
Irgendwie war alles schief gelaufen in Kolozs’ Leben, angefangen mit dem Studium eines ungeliebten Berufes in Moskau, mit dem er hatte aus Armut und Enge fliehen wollen, bis zur Unterschriftenfälschung und Geld, das ihm nicht zustand. Bedingt durch seine Armut, hatte er sich nie durchgesetzt, sondern neidlos zu seinen Freunden aufgeblickt. Obwohl er sich bewusst war, gegen Moral und Gesetz zu handeln, hatte er doch alles weiterlaufen lassen, sich nicht aufraffen können, um z. B. im westlichen Ausland ein Auskommen zu finden.
Interessant, wie der Historiker Dalos den politischen Hintergrund dieser Zeit mit einbezieht, ohne Namen zu nennen – und doch weiß der Leser gleich, worum es geht: „Ein Skandal löste den nächsten ab“ ….. „Unlängst war eine Geheimrede des Regierungschefs publik geworden, in der dieser eingestanden hatte, während des Wahlkampfs die Wahrheit über die wirtschaftliche Situation des Landes bewusst verschwiegen zu haben“. …“Die Parteien wollten sich nicht bekämpfen, sondern gegenseitig ausradieren, das öffentliche Leben war von einem völlig ungesteuerten Hass gelenkt, während die kleinen Leute zitternd die neueste Rechnung, den Steuerbescheid oder die Ablehnung der Sozialhilfe erwarteten.“ Mit solchen eingestreuten Informationen zeichnet der Autor die düstere Lage Ungarns. Es war die Hoffnungslosigkeit, welche die Menschen verband.
Hoffnungslosigkeit und Angst um den Arbeitsplatz, halten auch heute, nach einer kurzen Zeit enttäuschter Erwartung die Menschen wieder fest im Griff. – Eine Sorge, die nicht allein Ungarn betrifft, wie man in den täglichen Nachrichten liest und hört.
© Gudrun Brzoska, Mai 2012

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