Rezension: Török, Imre – „Das Buch Luzius“

 Märchen und andere Wahrheiten
Verlag Pop, 2012
ISBN: 978-3-86356-026-3
Bezug: Buchhandel; Preis: 14 Euro

Imre Török, Dichter, Märchenerzähler, Sprachspieler, so schwärmen viele, die seine Bücher gelesen, oder seine zauberhaften Lesungen erleben durften.
Schon beim Lesen umschwirren mich Licht, Farben, Düfte. Die Lichtgestalt, der Führer in Leben und Unendlichkeit ist der „sagenumwobene, allerorten bekannte Leuchtkäfer Luzius aus Illuministan“. Dabei unterstützt, ermuntert und befreit ihn aus vielerlei Gefahren „die bezaubernde Marienkäferschönheit Coccinella“. Die Klassefrau, erfindungsreich in der Verwandlung, klug und hilfsbereit, behält immer einen spöttisch-klaren Kopf, wenn Luzius liebestaumelnd und verwirrt, den Boden unter den Füßen zu verlieren, oder sich in einem Abenteuer zu verheddern droht. Er, der unverbesserliche Optimist und Menschenfreund, rappelt sich jedoch immer wieder tapfer, auch nach den gefährlichsten, fast tödlichen Abenteuern hoch. Und wenn sein Leben nur noch an einem seidenen Faden hängt, dann greift Coccinilla rettend ein – oder sie weist ihn auf ganz bestimmte Wahrheiten hin.- Beide wissen, dass auch die süßeste Umarmung nicht ewig dauern kann. Sie haben eine Aufgabe im Leben: Luzius ist ständig auf der Suche nach Licht, Erleuchtung und Weisheit, die er mit Hilfe seines Ghostwriters und Nomaden, Traminer, an die Menschheit weiter gibt, und Coccinella muss Sonnenschein in die Herzen zaubern mit ihren Märchen. Sie ist überzeugt, dass „wir den Geschmack wahren Glücks nur erfahren, indem wir andere glücklich machen“.
Parallel dazu geht die Geschichte des Liebespaares vom Nomaden aus Eulenland. Er hat für einen Traum, den Traum von der vollkommenen Frau, vom umfassenden Glück, alles, was ihm vorher lieb und teuer gewesen war, verlassen, um die Prinzessin aus dem seltsam duftenden Gewürzland zu treffen. Sie fühlen, dass sie füreinander bestimmt sind, doch im menschlichen Leben bleibt die Sehnsucht meist unerfüllt – zum Glück gehört Leiden – während Luzius und Coccinilla sich immer wieder liebend treffen dürfen.
Traminer, „der Sonnenreiter aus dem Abendland“ folgt seiner Bestimmung und erlebt mit der Prinzessin Tage ungetrübten Glücks. Doch selbst eine Prinzessin im Märchenland hat Neider und ewig Unzufriedene. Sie verunglimpfen Eulenland als ein „Land verrückter Vordenker – dabei aber ein verfluchtes Reich von ewig-gestrigen Barbaren“. Der Prinzessin, die so neugierig ist auf das Fremde, Andere, Wunderbare, Nicht-Alltägliche, erzählt er nachts Geschichten wie in „1001 Nacht“. Er erzählt ihr vom „Später-Buch“, in dem bereits alle Schicksale eingeschrieben sind, auch das ihrige, er erzählt vom Leben in Eulenland und seiner Bekanntschaft mit dem Leuchtkäfer Luzius, dessen Ghostwriter er geworden ist.
Diese Geschichten sind so federleicht, so reizend wie tiefgründig, wenn Luzius, der Lichtspender in die Fänge einer mörderischgrausamen Welt gerät. Mit Mut und Ideereichtum leuchtet er durch die Parallelwelten – und manches Mal leuchtet er auch seinem Ghostwriter heim.
Hier einige der Luzius-Abenteuer: Von Sehnsucht getrieben nach seinem Kinderland, verfliegt er sich. Dort war die Welt noch in Ordnung gewesen, dort hatte er die Leuchtschrift und vielerlei Weisheiten gelernt, dort war er erzogen worden, um zu leuchten und Vorbild zu sein. Nun war er nach Eulenland geraten war (Eulenland, das sagenhafte Árpádenreich Ungarn?). Hier trifft er die weise Eule. Sie erzählt Luzius vom Leben der Nomaden. Eulen und Nomaden sind Freunde, sie verständigen sich mit den Augen, jenseits des Denkens. Die Augen des Anderen sind der Spiegel des eigenen Ich. –
Luzius möchte tatsächlich viel erfahren; vor allem über sich selbst. Und, wissbegierig, wüsste er gern die Antwort auf die Frage: Was weiß ich noch alles nicht? – Die Eule: „Schau mir in die Augen, Kleines“. –
Ein weiser Rabe in der Goldenen Stadt warnt ihn, nicht in Behausungen zu gehen, doch im Eifer, Neues kennen zu lernen, findet sich Luzius immer wieder mitten drin. Dem Glühwürmchen fällt es schwer, die Sphäre der Poesie, der Einbildung, der Träume und die Sphäre des wirklichen Lebens auseinander zu halten. Unschuldig und naiv stellt er sich als Fremden vor – und kann, verunsichert im Fremdland, den Vorurteilen und Nachstellungen der „Eingeborenen“ dann kaum noch entkommen:
Einmal gerät er zu den Küchenschaben. Für sie existiert nichts außerhalb ihres Denkens, sie wollen die ganze Welt zu Kakerlakien machen, sind schmierige Philosophen, denen man leicht auf den Leim gehen und an denen man leicht hängen bleiben kann. Ihn selbst verhöhnen sie als Lügner und Aufschneider, als er ihnen vom wunderbaren Draußen und von seinen Leuchtorganen erzählt. –
Er kommt ins Bremsland: Die Devise der Bremsen: Blut oder Leben, ist ihr einziger Lebenszweck. – Er muss sich ausweisen – ohne Ausweis ist nichts möglich in diesem Land – und ohne diesen wird nichts anerkannt.
Die Spinnen wollen ihn gnadenlos in ihr Netzwerk einspinnen, um ihn dann zu vertilgen. Auch sie wollen sich die ganze Welt untertan machen, überall Netze spinnen, um dann über ihre ahnungslosen Opfer her zu fallen. –
Er trifft auf die Borkenkäfer, die sich im Generationenstreit befinden: Wer darf fressen – die Jungen, die jetzt endlich auch mal dran sind – oder die Alten, die lange genug für die Jungen geschuftet haben? Dabei merken sie nicht, dass sie sich selbst ihre Lebensgrundlage entziehen, und, vor lauter Streiten die viel größere Gefahr von außen, den Specht, nicht rechtzeitig sehen. –
Manchmal wird Luzius auch übermütig und fordert geradezu das Weltall heraus – um kurz darauf in Melancholie zu verfallen: Kann er überhaupt selbstlos leuchten, oder tut er das nur, um einen Zweck zu erfüllen, selbst gut rauszukommen, den Gegnern ein Schnippchen zu schlagen, oder vor seiner Angebeteten zu glänzen? – Coccinella bestärkt Luzius im Glauben an erfüllende Phantasien, an den Tagtraum vom Besseren – und gibt ihm eine weise Antwort: „Nicht das eigene kleinliche Leuchten zählt. Nur das Licht lebt, das einmal in anderen Wesen weiter und weiter leuchten wird. …Du Luzius … kannst das Licht zum Leben erwecken, indem du es weitergibst. – Du musst aber ständig neu entscheiden“.
Luzius trifft auf seinen Wanderflügen aber nicht nur den Abschaum der Krabbelwesen, sondern auch Wesen voll Weisheit und Mitgefühl, die ihm bei seinen Lebensfragen weiterhelfen. Er trifft den heiligen Skarabäus, der aus Mist und Staub Kugeln dreht, damit auf seiner Arbeit etwas Schönes, z.B. die Pyramiden aufgebaut werden können. – Er trifft den Käfer Tiefblau, der ihm mit Hilfe der Physik Bedeutung und Sinn des Lichts und die Unendlichkeit erklärt – und immer wieder die maskierte und heitere Coccinella, die aus mancherlei Gestalten herausleuchtet.
Bei jeder Begegnung lernt der kleine Leuchtkäfer etwas Wichtiges für sein Leben: Wenn er Gefahren nicht aus dem Weg gehen kann, dann muss er eben sein Hirn anstrengen und diejenigen, die ihn zur Strecke bringen wollen, überlisten.
Wichtig ist, so sagt ihm eines abends sein Ghostwriter, nachdem er ihm wieder viele leuchtende Fragen in den Abendhimmel geschrieben hat, „wichtig ist, ein Kind zu bleiben, ein neugieriges staunendes Kind, das von seinem Glück und seiner Freude an andere abgeben will. – Wenn auch schon alles vorherbestimmt ist (und im „Später-Buch“ aufgeschrieben), so bleibt doch die Entscheidung zu leuchten – immer wieder aufs Neue“.
Ein poetisches, zauberisches Buch, dessen hintergründige Weisheiten noch lange im Leser nachwirken. Dazu kommt der Lesespaß, wenn man schmunzelnd manch kleinere und größere Zitate aus Film und Literatur registriert.

© Gudrun Brzoska, Mai 2012

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