Rezension: Schein, Gábor – „Lazarus“

Roman
Akademie Schloss Solitude
Aus dem Ungarischen von Wilhelm Droste
Verlag; Merz & Solitude.2004, Reihe Literatur; ISBN:3-929085-95-X
Bezug: Buchhandel Preis: Euro 15.00

Der Roman erzählt vordergründig die Beziehungsgeschichte eines gestorbenen Va­ters und seines erwachsenen Sohnes. Gleichzeitig beschreibt er ein Stück neuere ungarische Geschichte: Die Familiengeschichte der jüdischen Verwandtschaft, die zur Hälfte im Holocaust ausgerottet wurde und das Leben im Ungarn der Nachkriegszeit.
Um besser und objektiver erzählen zu können, nennt sich der Erzähler Péter und seinen Vater M. Péter erzählt seinem toten Vater Geschichten, Legenden, „Tatsachen“, die er herausgefunden hat, der objektive „allwissende“ Erzähler spricht über Péter, über den Vater und die Familie. Das schafft eine große dramatische Spannung.
In „Lazarus“ versucht der Erzähler seinen Vater, zu dem er während dessen Lebenszeit nicht vordringen konnte, wieder auferstehen zu lassen, sein Leben aufzurollen. Er erzählt ihm die Familiengeschichte, von der vorher nie gesprochen worden war.
Er erzählt die Geschichte einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie, die den Holocaust überlebt hat, im Gegensatz zu anderen Verwandten, die nicht so glücklich waren. Der Holocaust jedoch wird verschwiegen, der Vater kann und will sich nicht erinnern, nur in die Zukunft leben. „Die genaueren Todesumstände der Verschleppten blieben vor der Familie geheim“. Die Geschichte der in Kolomea zusammengetriebenen Juden, bei der die Hälfte seiner Familie getötet wurde, kannte M. nicht. Die Alten haben auch das wenige, von dem sie wussten, in sich vergraben. Diese Geschichte und alles, was damit deutlich spürbar begonnen hat, obwohl niemand richtig weiß, wie weit sie zurückreicht, hat wie eine versteinerte Ablagerung eine Überzeugung, die im Vorfeld schon jede Hoffnung auf Veränderung vergällte, in der Familie hinterlassen, und diese Überzeugung hat M. auf Péter übertragen“. So erklärt der Erzähler.
M. redet sich Scham, Verzweiflung und Selbsthass nicht von der Seele, womit er sein Trauma noch verstärkt. Da so vieles verschwiegen wird, leben die Mitglieder der Familie nebeneinander her; eine gemeinsame Erinnerung kann sie nicht zusammenschweißen. Der Vater verbietet vor seinem Tod sogar dem Sohn die Erinnerung, was in diesem aber einen „Schreibzwang“ auslöst, wie er selbst sagt. …. „Ich erzähle dir die Geschichte eines Vaters und seines Sohnes und viele andere Geschichten in ihrer Geschichte, die nicht ich, sondern du erzählen müsstest, gereinigt von Betrug und Verrat, denn ich fühle, ich verrate dich, uns beide verrät die Geschichte….- Ich schreibe, weil ich das Schreiben nötig habe, nötig, um danach schweigen zu können und dein Verbot einzuhalten.“… „Du hast aber keine Worte mehr. Ich kann nichts anderes machen, als mich an deinen und an ihren (Familie) Platz zu stellen, ich muss mein eigenes Gesicht statt ihres hierher zeichnen, obwohl ich weiß, dass Gesichter nicht zu kopieren sind.
Eine wichtige Figur des Romans ist der Großvater, der, als er arbeitslos wird, sich mit Malversuchen zurückzieht, dann aber den Chor der Druckerei wieder belebt, der schon vor dem Krieg bestanden hatte, – in dem sogar Attila József persönlich aufgetaucht war. Doch die Umstände sind ganz andere geworden: Als er nun den Chor neu bildete, da war die Druckerei verstaatlicht. Der Vater von M. war Fotograf und Drucker gewesen, hatte ein Lehrbuch für Fotografie und Druck geschrieben. Dieses Buch liest Enkel Péter wie eine zwischen den Zeilen versteckte Botschaft, versucht, daraus für sich einen hintergründigen Sinn zu erschließen, versucht, der Familiengeschichte auf die Spur zu kommen und damit hinter seines Vaters Gleichgültigkeit und Wortkargheit zu blicken. „Und wie schon früher, zwingt mich deine Stummheit, dieses gereizte beleidigte Zurückweisen des Gesprächs, das mich, der ich immer Erklärungen wollte, Geschichten, welche die undurchdringbare Bitterkeit zumindest verständlich werden ließen … auch jetzt wieder zu reden, nunmehr ohne jede Hoffnung auf Antwort, während ich deine Stummheit dennoch als Stummheit bewahren möchte. Nur das Reden kann deinen Tod verstummen lassen.
Lazarus ist das Buch eines Versuchs, den Vater wiederzuerwecken, mit seines Großvaters Symbolen, die ihn weiterführen sollen. Péter möchte die Wirklichkeit nicht retouchieren. Nun, nachdem seines Vaters Geschichte im Wesentlichen aufgedeckt ist, darf er verstummen und in Frieden gehen.
Das Buch nimmt den aufmerksamen Leser stark gefangen, gibt viele Hinweise auf Ungarns Geschichte.
© Gudrun Brzoska

 

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