Rezension: Sándor, Iván – „Spurensuche“

Eine Nachforschung
Roman
Aus dem Ungarischen von Katalin Fischer
Verlag dtv premium, 2009; ISBN:978-3-423-24722-1
Originaltitel: Követés. Egy Nyomozás Krónikája, 2006
Bezug: Buchhandel Preis: Euro 14,90

Herbst / Winter 1944 in Budapest. Der mit Hitler verbündete Reichsverweser Horthy muss abdanken, da er einen Waffenstillstand mit Russland angestrebt hatte. Sein Nachfolger Szálasi organisiert die Judenverfolgung mit Hilfe des Terrorregimes der Pfeilkreuzler in großem Stil. In kürzester Zeit werden über 400 000 Menschen in Arbeitslager oder nach Auschwitz deportiert, die Lage verschlimmert sich zusehends. Wen die Pfeilkreuzler erwischen können, der wird kurzerhand ins Ghetto getrieben, oder an die Donau, wo die Menschen nackt hineingeschossen werden. Der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg und der Schweizer Vizekonsul Carl Lutz stellen sich dem entgegen, versuchen mit Schutzhäusern und Schutzpässen möglichst viele Menschen zu retten. Das Internationale Rote Kreuz begleitet die Todeskolonnen und versucht den Schwächsten zu helfen.
Im Herbst 2002 erscheint die Biografie von Theo Tschuy über Carl Lutz auf Ungarisch. Anhand der Fotos erkennt der 71jährige Autor, wem er als 14jähriger begegnet war. Wenige Tage später macht er einen Spaziergang durch Budapest, wird fast von einem jugendlichen Radfahrer umgefahren. Da blitzt in ihm ein „Déjà-vue“ auf, 58 Jahre früher, als an dieser Stelle ein junger Radfahrer vorbeifuhr, mit der Armbinde der Pfeilkreuzler. Sándor erinnert sich, wie er damals in einer Marschkolonne geht, Richtung Ziegelei in Óbuda, zwischen seinen Eltern. In der gleichen Kolonne geht seine 12jährige Freundin Vera mit ihrer Mutter.
Iván Sándor läuft nun in den Fußspuren des 14jährigen: “Ich bin der 14jährige Junge und sehe das Gesicht des alten Mannes, der mich beobachtet.“ Der Autor weiß inzwischen Bescheid, dass ihn nicht nur der Zufall gerettet hat, sondern auch das Engagement von Carl Lutz. Er geht in Häuser, befragt Anwohner, überlebende Freunde und Familienmitglieder, vergleicht Vergangenheit und Gegenwart; Zeit und Raum verschmelzen zu einer einzigen Erfahrung. In raschem Wechsel erzählt er von den fürchterlichen Wochen des 14jährigen Iván, der von alledem keine Ahnung hat, sich im Wirrwarr von Verhaftungen und Deportation sieht, im Untertauchen vor den allgegenwärtigen und mörderischen Pfeilkreuzlern, in der Flucht vor dem Bombardement im eingeschlossenen Budapest.
Der Roman ist auch Dokumentation; denn der Autor schiebt seine obsessive Forschungsarbeit in Form historischer Dokumente: Gesetzestexten, Erlassen, Zeitungsausschnitten, Tagebucheintragungen, Briefen und entschlüsselten Fotos mit ein, verknüpft die parallelen Schicksalsgeschichten der einstigen Täter, Opfer und Retter. Er versetzt sich nicht nur in die Gedanken- und Gefühlswelt des 14jährigen Jungen und seiner Freundin Vera zurück, schildert nicht nur Angst und Verzweiflung, Kälte und Not, sondern auch die aufkommenden erotischen Gefühle der pubertierenden Kinder, die sich nicht mal in dieser mörderischen Situation unterdrücken lassen. Gleichzeitig spürt er den Überlegungen und Grübeleien von Carl Lutz, der große Scham für diese Verbrechen empfindet, und seiner Ehefrau Gertrud nach, anhand von dessen Tagebucheintragungen. Er berichtet von den Gefahren, in die sich der Schweizer Diplomat begibt, besonders, da er im Sinne seiner Regierung seine Kompetenzen nicht nur überschreitet, sondern sich geradezu gegen ausdrückliche Befehle stellt, die ihm verbieten, sich weiter um die Rettung der verfolgten Juden zu kümmern. – Lutz richtet dramatische Appelle in die Schweiz, fährt selbst hin, um die Lage zu schildern, unterbreitet Lagebeschreibungen der SS, doch nichts fruchtet. – Tapfer stellt er weiter Schutzbriefe aus, die heimlich in Budapest gedruckt werden, und kann damit mehrere 10 000 Juden retten.
Eine weitere Hauptfigur ist Iváns Tante Gizi, die, blond gefärbt, als Rotkreuzschwester getarnt, auf der Suche nach ihrer Schwester Bözsi ist. Da sie fast überallhin Zutritt hat, die Freundschaft von Gertrud Lutz gewinnt, versucht sie immer wieder in Verzweiflungsaktionen zu retten, was möglich ist. Die größte Anzahl der in Budapest lebenden Juden wird dennoch deportiert, in die Donau geschossen oder sofort bei der Verhaftung umgebracht. Die ungarischen Soldaten überfallen das Ghetto, die Schutzhäuser, zerreißen Schutzbriefe gegen internationales Recht. Zufällige Passanten schauen dem Treiben gleichgültig zu.
Iván, seine Eltern, Vera und ihre Mutter sind unter den Verhafteten. Sie finden sich im Gelände der Ziegelei von Óbuda wieder, der Sammelstelle für die Todesmärsche in die Arbeitslager oder KZs. Auf dem Marsch nach Hegyeshalom können Iváns Eltern gerettet werden, Vera sieht ihr Mutter nie mehr – die beiden Jugendlichen entkommen schon vorher, als sie auf Intervention von Carl Lutz, aus der Kolonne heraus treten können. Zweimal müssen sie aus Rotkreuz-und Schutz-Heimen fliehen, da sie dort nicht mehr sicher sind, selbst im Krankenhaus, in dem die Eltern Unterschlupf gefunden haben, werden sie verfolgt. Ständig sind sie auf der Flucht, frierend und hungrig.
Der Junge Iván macht sich immer wieder Gedanken über das Diplomatenauto, einen schwarzen Packard, der überall auftaucht, sieht auch Carl Lutz und seine Frau, ohne dass er weiß, was dies zu bedeuten hat.
Als der Schriftsteller Iván Sándor vom Schweizerischen Fernsehn nach Locarno eingeladen wird, mit anderen „Überlebenden“ ihre Begegnungen mit Carl Lutz zu schildern, muss er erfahren, wie ihre Vergangenheit zur „Ware“ verkommt, ihre ureigenste Geschichte zur Filmvorlage. Er fühlt Scham über die ihm zugeteilte Rolle, als er auf das Podium komplimentiert wird; denn er sieht sich als „Zeugen“. Überlebende sind sie alle, Täter wie Opfer. Der Zeuge aber ist derjenige, der bewahrt.
In Locarno lernt er die Stieftochter von Carl Lutz, Agnes Hirschi kennen. Mit ihrer Hilfe kann er das Puzzle seiner eigenen Geschichte zusammenfügen, aber auch der Tochter helfen, ihren Stiefvater als den Retter zu sehen, der aus Überzeugung gegen seine eigene Regierung arbeiten musste.
Der Roman endet, als der Kampf Haus um Haus in Budapest seinen Höhepunkt erreicht. Den Fortgang der Geschichte kennt der Leser aus eingestreuten Erzählfragmenten: Nach dem Krieg arbeitet die Familie hart, um wieder etwas aufzubauen. Über die Erlebnisse von Flucht und Rettung wird wenig gesprochen. Dazu ist gar keine Zeit. Überlebende Familienmitglieder sind zum Teil in andere Länder ausgewandert, Gizi arbeitet in einem Restaurant als Geschäftsführerin und stirbt früh. Mit der Mutter versucht der alternde Autor dann die Tage von Verfolgung und Rettung zu rekonstruieren.
Nie verliert der Autor den Blick auf das Drama, das sich damals abspielte, auch nicht bei seinen Überlegungen als Nachforschender. Alles hängt mit allem zusammen: Nicht nur die Geschichte Ungarns, auch sein ganzes weiteres Leben, sein Wiedertreffen mit Vera, 18 Jahre später, seine Fragen, die Antworten die er bekommt und sich selbst geben muss.
Iván Sándor zieht den Leser gerade deswegen so in den Strudel der dramatischen Ereignisse um Leben und Tod mit hinein, weil er selbst große sprachliche Distanz dazu hält. Als Leser muss man sich die Frage stellen: Wenn ein solches Dokument die Leserschaft, und im Weiteren die Gesellschaft, nicht dazu aufrütteln und ermutigen kann, die Vergangenheit aufzuarbeiten, was dann?

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