Rezension: Petőcz, András – „Fremde. Dreißig Minuten vor dem Krieg“

Roman
Aus dem Ungarischen von Miklós Pataky
Verlag Gabriele Schäfer Verlag, 2010
ISBN: 978-3-933337-72-6
Originaltitel: Idegenek, 2007
Bezug: Buchhandel; Preis: Euro 19.80

Es lohnt sich, den Prolog noch einmal zu lesen, wenn man an das Ende des Romans gekommen ist. Er klärt das vorläufige Ende der Geschichte.
Ort der Handlung kann jede beliebige Militärdiktatur auf der Welt sein. Beim Lesen des Romans fühle ich mich an Nachrichten erinnert, die ich schon gelesen oder gehört habe: an Militärputsche in Südamerika, Afrika oder Asien, an den Balkankrieg, an Kämpfe tschetschenischer Terroristen, an die Übergriffe von Immigranten in den Banlieus der französischen Metropole oder irgendwo in den USA. Die Geschichte könnte überall da spielen, wo Fremde aus anderen Kulturen, die „Barbaren“, als Flüchtlinge ankommen, wo Heimatlose und politisch Verfolgte zusammenkommen. Die Kleinstadt, in der sich alles abspielt, ist der Mikrokosmos einer Welt voll Unterdrückung von oben und Angst und Misstrauen gegeneinander. Die Einheimischen haben Angst vor den Fremden und umgekehrt.
Die Heldin und Icherzählerin der Geschichte ist eine junge Frau, die sich erinnert, was sie als kleines Mädchen zwischen dem achten und zehnten Lebensjahr durchgemacht hat: Damals ist sie schon jahrelang mit ihrer Mutter auf der Flucht. Zum Überlebenstraining gehört, sich vor Hunden in Acht zu nehmen, niemals die Wahrheit zu sagen, und die Landessprache so perfekt zu beherrschen, dass niemand ihre Herkunft erkennen und sie besser in der Masse untertauchen können.
Die Geschichte entfaltet sich aus der Sicht des kleinen Mädchens, das Zusammenhänge erst nach und nach begreift, was manchmal komische, manchmal tragische Formen annimmt. Die Kleine erzählt nüchtern und schnörkellos vom viel zu frühen Erwachsenwerden eines Flüchtlingskindes.
Ohne einen Vater, den sie nie gekannt hat, findet die Mutter mit ihr endlich in einer Kleinstadt Unterschlupf beim Pfarrer. Da ist sie acht Jahre alt. Die Stadt ist voll von fremden Soldaten. Zu deren Kaserne macht sich die Mutter gleich auf, bleibt lange dort, während das Kind auf sie wartet. Angeblich sorgt man dort für ihre Papiere. Im Gegensatz zu dem wartenden Kind ist dem Leser schnell klar, dass sich die Mutter prostituiert. Das Kind kommt erst nach und nach dahinter.
Die Mutter fühlt sich nur sicher im Schutz der fremden Soldaten, deren Chef ihr Liebhaber wird, sie nicht nur beschützt, sondern auch mit Geschenken versorgt. Sie sind sehr arm, selbst im Winter geht das Kind meistens barfuß, eine Jacke hat ihr der Soldat besorgt. Bekommt Mutter Besuch von ihm, geht das Kind zum Nachbarmädchen Amelie spielen, mit dem es sich nach und nach befreundet. Amelie lebt allein mit ihrer Großmutter in einem Haus, dessen Keller in ein unterirdisches Tunnelsystem führt. Diesen erkunden die beiden Mädchen im Laufe der Zeit. Man munkelt, dieser Tunnel führe über die Grenze in ein Land ohne Soldaten, wo alle reich und glücklich seien. Mit den „richtigen“ Papieren erhalten Mutter und Tochter auch eine neue Identität; das Mädchen heißt jetzt „Ana“.
Die Schule liegt neben der Kaserne. Darauf weist Petőcz immer wieder hin. Die Kinder begegnen der alltäglichen Gegenwart der Soldaten schon auf ihrem Schulweg. Amelies Großmutter hat immer mehr Angst vor „Barbaren“, die angeblich das Land überschwemmen und ihnen alles wegnehmen würden.
Trotz ihrer eigenen Armut behält sich Ana einen aufmerksamen Blick für andere. Sie entdeckt im Haus gegenüber ein sehr mageres Mädchen, das hungrig ist und sich wohl versteckt halten muss. Niemand will ihr glauben bis drei Leichen hinausgetragen werden.
Ana wird vom Liebhaber der Mutter vergewaltigt. Zur Entschuldigung schenkt er ihr eine Kette, die Mutter in ein Versteck zu ihren Schätzen legt. Eines Tages wollen sie damit in der freien Welt, jenseits der nahen Grenze ein neues Leben anfangen.
Ana und Amelie erkunden immer wieder den Keller, wagen sich, trotz der Ratten, mit Petroleumlampe und Schaufel immer weiter vor, machen die Entdeckung, dass von Mal zu Mal der Steinhaufen, der anfangs ein Weitergehen verhinderte, kleiner wird, zum Schluss ganz verschwindet. Die Stadt füllt sich mit immer mehr Fremden: Zuerst kommen fahrende Leute, Zigeuner, die auf dem Hauptplatz Musik machen und tanzen. Dann kommt ein ganzer Zug Fremdlinge. Es seien Flüchtlinge, denen man helfen müsse, weil sie in ihrem Land noch ärmer seien als die Menschen hier. Ana begegnet auf einmal vielen schwarz gekleideten Menschen, die Frauen in langen Gewändern und Gesichtsschleiern. Die Soldaten, die bislang die Stadt besetzt gehalten haben, ziehen plötzlich ab, andere, wieder fremde Soldaten, aus wieder einem anderen Land nehmen ihre Stelle ein. Doch diese sind unsicher und nervös, haben offensichtlich Angst. Neue Kinder kommen in die Klassen, Unsicherheit und Misstrauen breiten sich aus. Junge Immigranten setzen ein Geschäft in Brand, Ana wird von Albträumen und Vorahnungen geplagt. Die Mutter beschließt endlich, die Flucht in ein anderes, in ein „freies“ Land fortzusetzen. Auf dem Weg zur Botschaft dieses Landes gerät der Bus in einen Hinterhalt, der Fahrer wird erschossen, Mutter und Tochter gehen den weiten Weg zurück. Bis zum Pfarrhaus, wo sich Ana „zu Hause“ fühlt. Die Situation wird bedrohlicher; immer mehr Fremde kommen, die Bevölkerung schwankt zwischen Ablehnung und Hoffnung, dass bald alle wieder weggehen mögen. Die Mutter ermahnt ihre Tochter, nett zu den Fremden zu sein. Sie selbst versucht sich mit ihnen anzufreunden. Ana und ihre Mutter gelten schon nicht mehr als „Fremde“. Man munkelt, es könnte Krieg geben, immer mehr fremde Soldaten treffen ein, verbarrikadieren sich mit Sandsäcken und Maschinengewehren in der Kaserne, gleich neben der Schule. Selbst die Schultaschen der Kinder kontrollieren sie. Gleichzeitig entdecken die Mädchen mehr und mehr Holzkisten mit Waffen im Keller, eines Tages sogar eine Leiche. Sie erzählen niemandem davon.
Der Militärbefehlshaber der Stadt erlaubt inzwischen – die Lage scheint sich etwas entspannt zu haben – ein Mal pro Woche eine Filmvorführung. Amelie mit ihrer Großmutter und Ana mit ihrer Mutter stehen in einer unendlichen Schlange vor dem Kulturhaus, als eine Explosion hochgeht. Ana findet sich im Krankenhaus wieder, ihre Beine sind gelähmt. Die Mutter und viele Menschen, vor allem Kinder sind tot. Eine Operation glückt, und Ana kann nach einiger Zeit wieder gehen. Sie versucht Mutters Stelle einzunehmen und dem Pfarrer den Haushalt zu führen. Von der Schule ist sie ein Jahr lang beurlaubt. Das Attentat wird den Barbaren in die Schuhe geschoben, obwohl auch viele von ihnen ums Leben kamen. Die Lage in der Stadt hat sich noch mehr verschlechtert. Die zerstörten Gebäude sind immer noch nicht in Stand gesetzt, Militärhubschrauber kreisen, Ana sieht Gefangene auf Militärlastwagen. Bei den Kontrollen werden immer mehr „Verdächtige“ abgeführt, die auf Nimmerwiedersehn verschwinden, auch Kinder sind bei den Vermissten. Amelie erzählt ihr, dass Soldaten den Keller ausgeräumt und die Leiche abtransportiert hätten, während sie im Krankenhaus war. Es geht das Gerücht um, der Tunnel solle gesprengt werden. Ana und Amelie gehen noch einmal mit ihrer Petroleumlampe in den Keller. Diesmal gehen sie noch weiter voran und entdecken ein Schild, auf dem in zwei Sprachen steht: „Bis zur Grenze sind es noch 12 Kilometer. Der Tunnel ist bis zum Ende begehbar.“
Am 1. September geht Ana allein zur feierlichen Schuljahrseröffnung. Inzwischen ist sie ungefähr 10 Jahre alt. Amelie wird neben vielen fremden Kindern mit ihr in eine Klasse gehen, zu ihrem alten Lehrer, dem mit der Krücke. Während der neue Direktor sich noch um sein Mikrophon bemüht, betritt eine Frau das Podium. Ana sieht im Schulhof viele bewaffnete Kapuzenmänner, die Frau erschießt den Direktor, Männer stürmen die Turnhalle. Wenige können fliehen, die anderen werden zusammengetrieben. Panik, Schüsse, Tote und Verletzte bleiben liegen, die Halle wird vermint. Drei Tage müssen alle ohne Essen und Trinken ausharren, bewacht von einem nervösen „Chef“ und seinen Leuten. Dieser erklärt schließlich, dass sie ohne Ergebnis verhandelt hätten. Um seine Forderungen durchzusetzen, erschießt er Amelie und neun weitere Kinder. In diesem Moment wird die Turnhalle von außen gestürmt. Ana rennt hinaus, Schüsse fallen, wieder bleiben Menschen neben ihr liegen. Fremde ziehen sie hoch und rennen weiter mit ihr. Wieder landet sie im Krankenhaus. Wie durch ein Wunder hat sie überlebt. Doch sie nennt es Zufall: „Jemand muss ja überleben“. Sie erfährt, dass alle Kinder aus ihrer Klasse tot sind, außer dem einbeinigen Lehrer. (Der Autor verarbeitet hier offensichtlich den Terroranschlag auf eine Schule in Beslan, 2004.) Wieder geht Ana ins Pfarrhaus. Der Pfarrer redet ihr indirekt zu, über die Grenze zu gehen. Jenseits gäbe es starke Kriegsvorbereitungen. Die Zeitungen drüben schrieben über einen Weltkrieg. Ab morgen früh würde Kriegszustand herrschen, wenn sich die Terroristen nicht bis 8.00 Uhr ergeben hätten. Auch internationale Streitkräfte würden zu Hilfe kommen.
Morgens um 5.20 Uhr holt Ana eine Digitaluhr, Mutters „Geschenke“, und den Revolver, den sie aus einer Waffenkiste hat, aus dem Versteck. Aus Amelies Haus nimmt sie eine Petroleumlampe mit und macht sich auf den Weg durch den Keller. Als sie schon weit gegangen ist, sehr müde wird und ihr Bein wieder schmerzt, als sie nur noch wenig Petroleum hat, die Luft aber besser und frischer wird, sieht sie eine Ratte in der Ecke eines „Saales“ verschwinden. Sie kratzt und bohrt, bis ihre Hand in einen Hohlraum stößt; vielleicht schon jenseits der Grenze? Die Uhr zeigt 7.30 Uhr. „Dreißig Minuten vor dem Krieg“.
Ob Krieg ausgebrochen ist, oder ob die Terroristen sich ergeben haben, erfahren wir nicht mehr. Aber: Im Prolog beginnt die Icherzählerin damit, dass sie einem Mann mit Krücke hilft, Unkraut auf einem großen Friedhof zu jäten. Der Mann spricht mit den Toten, sorgt in seiner Weise für sie, wie damals vor 15 Jahren, als er noch ihr Lehrer war. Ob er sie noch erkennt? Sie läuft wortlos davon. Übrigens, manchmal zieht sie eine Burka über, wie die Fremden damals. Hinter dem schwarzen Stoff fühlt sie sich sicher.

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