Rezension: Méhes, Károly – „Insgeheim“

Erzählung
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó
Verlag Wieser, 2007; ISBN: 978-3-85129-684-6
Originaltitel: Lassan minden titok, 2002
Bezug: Buchhandel Preis: Euro 21.00

Ein ungefähr 40jähriger Bibliothekar lässt sein Leben von der Kindheit in den 60ern bis „heute“, in den 90ern, vorüberziehen. Immer wieder beschäftigt ihn, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte sich der eine oder andere „Zufall“ nicht ereignet. Er spricht zunächst als Kind, das die Situationen noch nicht richtig begreifen und einschätzen kann, kommentiert (in Klammern) vom jetzt Erwachsenen.
Das macht dieses im Grunde so ruhige Buch so schillernd, setzt immer wieder Fragezeichen, die nicht aufgelöst werden, weder für den Erzähler, der unablässig Fragen stellt, noch für den Leser. Dieses Thema wird von allen Seiten umkreist, ernsthaft oder ironisch, aus der Sicht des Kindes oder des Erwachsenen. Die sog. Zufälle sind es, die ein Leben bestimmen und ihm Richtung geben.
Die Erzählung dreht sich um nur wenige wichtige Personen im Leben des Erzählers János. Ihnen gemeinsam ist, dass sie alle irgendwie verschwinden, entweder durch Tod, oder dadurch, dass sie sich der Gegenwart des Kindes oder Mannes entziehen.
Er beginnt damit, dass Gaby, von der wir erst sehr spät erfahren, dass sie seine geschiedene Frau ist, ihm vorgeworfen hat, er könne niemanden lieben und sich nur mit sich selbst beschäftigen.
Das ganze Buch über versucht er, sich selbst und dem Leser Rechenschaft darüber zu geben, dass er sehr wohl zur Liebe fähig sei – und was denn das Leben, sein Leben ausmache.
Als er neun Jahre alt ist, verschwindet der geliebte Vater, Apuka – Vati, wie er ihn zärtlich immer noch nennt, von einem Tag auf den anderen. Er wird von einem Dienstwagen abgeholt und kommt nicht wieder. Aus verschiedenen Bemerkungen und Begegnungen erfährt der Sohn, dass der Vater Geheimpolizist war –niemand in der Familie wusste, was er in seiner Dienstzeit tat. Bis zum Schluss bleibt offen, ob der Vater „abgeholt“ wurde, oder sich „abgesetzt“ hat.
In immer neuen Facetten nähert sich János der Erzähler seiner Familiengeschichte, bei der nur wenige Personen eine Rolle spielen: Den Großvater kennt er kaum, der verschwindet als er stirbt. Alles was der Junge von ihm weiß, kennt er aus Erzählungen seiner Mutter. Übrig geblieben sind von ihm nur eine Uhr und ein Vergrößerungsglas. Den Vater wünscht sich auch der erwachsene Sohn immer wieder zurück; so als sei nichts gewesen, wie nach einer langen Dienstfahrt. Für den Sohn bleibt er immer der Gleiche, auch wenn er sich überlegt, wie sich der Vater verändert haben muss, wenn er noch am Leben ist. Aus seinem Leben ist wenig bekannt: Er sieht sich sehr gerne Fußballspiele an, liest Zeitung und kann nicht verstehen, dass sein Junge das Bücherlesen vorzieht. Einmal ohrfeigt er ihn sogar deshalb, eine Tat, die den erwachsenen Mann immer wieder beschäftigt. Der Vater sorgt sich aber auch darum, dass sein Sohn auch ja Freunde habe; denn die seien wichtig im Leben. János muss immer mal wieder einen erfinden und Ausreden ausdenken, warum er seine Schulkameraden nicht einlädt. Apuka ist aber auch ein Frauenheld, selbst die angeschwärmte Grundschullehrerin Kati war eine seiner Geliebten. Anyuka war und ist die Sonne im Leben ihres Sohnes. Wenigstens möchte er das so sehen, sie nicht betrüben – und darum muss er auch vor ihr Geheimnisse haben. Sie ist immer gegenwärtig, überbesorgt mit einer alles überwuchernden Liebe zu ihrem Einzigen. Sie ist es auch, die bereits dem Kind suggeriert, dass er einzigartig sei, dass keiner von „da draußen“ ihm das Wasser reichen könne und sie, die Familie, sowieso besser für sich blieben.
Anyuka lässt, vor allem in den ersten Jahren nach dem Verschwinden ihres Mannes, als sie aus der Dienstwohnung ausziehen müssen und sie kaum etwas mitnehmen dürfen, als sie eine schwere und schlechte Arbeit in einer Fleischfabrik annehmen muss, kein gutes Haar an dem „Verbrecher“, doch der kleine Sohn beschäftigt sich nach wie vor mit ihm.
Als das raue Leben in der Schule beginnt und er bei seinen Schulkameraden Argwohn und Unwillen erregt, weil er immer nur liest – die Bücher sind seine wahren Freunde – kann er sich mit der Zeit doch Respekt verschaffen, eben weil ihn, den Zurückgezogenen, immer lesenden, etwas Geheimnisvolles, Interessantes umgibt. In Wahrheit ist der junge János aber sehr einsam, was sich auch im Erwachsenenalter nicht ändert.
Eines Tages taucht Vera auf, eine Schulfreundin Anyukas. Sie versucht dem Kind János, dem Pubertierenden und später dem jungen Mann ein wenig vom wahren Leben da draußen, von der Lebenswirklichkeit zu zeigen. Mit der lauten, ungestümen Vera bricht die Realität in die weltabgewandte Mutter-Sohn-Welt ein. Doch auch Vera verschwindet durch einen tödlichen Unfall.
János bringt die Schule glänzend hinter sich, studiert Englisch und Ungarisch, möchte Lehrer werden, kommt aber wegen der Voreingenommenheit eines Prüfers nicht zum Zug. Vera kann ihm eine Stelle als Übersetzer in einer Keksfabrik besorgen. Doch sein Bürochef kann ihn nicht leiden und eines Tages kommt es zum Eklat, als er János beschimpft, dass er der Sohn eines von denen sei, die ihn ins Gefängnis gebracht und gefoltert hätten.
Dieser Zwischenfall jedoch, wendet János’ Leben zum Besseren: Er wird Bibliothekar und kann sich ganz seinen Freunden, den Büchern widmen.
Schließlich taucht Gaby auf, über die man nur erfährt, dass sie die Lebensgewohnheiten der Familie ständig umkrempeln möchte, dass sie unablässig arbeitet und spart, wobei János sich nicht einmal vorstellen kann. Durch „Zufall“ „begegnet“ er eines Tages einer schöne Uhr. Er wird zum Uhrensammler. Bewusst schafft er dieses Geheimnis und sieht in den Uhren seine Zeit laufen, weiterlaufen, ablaufen.
Als Gaby eines Tages entdeckt, dass er das gemeinsame Konto geplündert hat, sie aber nicht weiß, wofür, ist es endgültig aus. Sie verschwindet.
János möchte in die Fußstapfen seines Vaters treten und einfach verschwinden.
Man merkt, dass er selbst gespannt darauf ist, wie das geschehen könnte. Deshalb würde der wörtlich übersetzte Titel: „Bald ist alles ein Geheimnis“ der umfangreichen Erzählung auch sicher gerechter, als „Insgeheim“.
Das Buch ist zugleich die Auseinandersetzung eines Sohnes und Ehemannes zwischen zwei Frauen, Mutter und Ehefrau. In welchem Verhältnis stehen sie zueinander – was versteht ein jeder unter der Liebe und wie geht er damit um.
Alle hier auftretenden Personen werden „insgeheim“ befragt, wie sie es mit der Liebe halten, was sie unter diesem Begriff verstehen. Die Antworten fallen teils ernsthaft, teils spielerisch-ironisch aus.
Fast am Rande bekommt der Leser einen Eindruck vom Leben im Ungarn der 60er bis 90er Jahre, denn selbst ein weltfremder Bücherleser wird doch hin und wieder mit der realen Welt konfrontiert.

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