Rezension: Noémi Kiss: Dürre Engel

Roman
Aus dem Ungarischen von Eva Zador
Verlag Europa Verlag München, 2018, 296 S.
ISBN: 978-3-95890-156-8
Originaltitel: Sovány angyalok, 2015
Bezug: Buchhandel, Preis: 22,90 Euro

von Gudrun Brzoska

Noémi Kiss nimmt sich in ihrem ersten Roman vier große Themen vor, die nicht nur in Ungarn ein Schlaglicht auf die bürgerliche Gesellschaft werfen – aber hier ganz besonders. Es geht um Tabu-Bereiche wie ungewollte Kinderlosigkeit und häusliche Gewalt. Es geht auch um die Anforderungen im Leistungssport und um die miserable finanzielle Lage der Lehrer nach der Wende. In den meisten Sujets kennt sich die Autorin bestens aus: Sie selbst war jahrelang ungewollt kinderlos, bis sie ihre Zwillinge bekam; sie war aktive Sportlerin im Wasserball, ihre Großmutter und Mutter waren Lehrerinnen – und über häusliche Gewalt hat sie sich, wie sie in einigen Interviews berichtete, eingehend vor Ort informiert.
Von großem Leid ist in diesem Buch die Rede. Umso größer und schmerzhafter, als darüber nicht gesprochen wird: Die junge Frau Lívia leidet unter ihrer ungewollten Kinderlosigkeit. Ihr ganzes Leben hatte sie darauf aufgebaut – und so wurde es auch von ihr erwartet: Heiraten, Kinder bekommen, sie erziehen, den Haushalt führen – und schweigen. Dass die Ehe schwierig würde, damit hatte sie gerechnet, denn das hatten ihr schon die Eltern vorgelebt: „Das Beispiel meiner Mutter hatte mich gelehrt, dass die Ehe etwas Niederträchtiges war. Hitziges Fieber, dann kommen der Reihe nach die Fragezeichen. Blutig, verletzend und am nächsten Tag große Umarmungen. Ich war also auf die Demütigungen vorbereitet, wartete auf die dumpfe Wortlosigkeit, mich überraschte es nicht, als es so weit war. Ich wusste, das gäbe es, und es würde eintreten, auch ich bekäme meinen Teil ab. Ihr Mann Öcsi überlässt es ihr allein, damit fertig zu werden. Er hält sich nur am Rand des Geschehens auf.
In einer Kleinstadt im Ungarn der Kádár-Zeit war die Erwartungshaltung, welche an eine Frau gestellt wurde, ganz eindeutig; auch die Erwartung an den ungarischen Mann war klar definiert. Er hatte in seinem Beruf Karriere zu machen, und genügte er den Anforderungen in Ehe und Beruf nicht, wurde es auch für ihn schwer. Scheidung war ein Stigma in einem kleineren Ort. Sport wurde und wird immer noch ganz hoch angesiedelt in Ungarn. Ein erfolgreicher Sportler gilt etwas. Die Messlatte war entsprechend hoch. Man lebte dem Sport – daneben gab es kaum noch Raum für ein Privatleben.
Wir lernen Lívia, die 40jährige Lehrerin kennen, als sie mit einem Herzinfarkt in einer Klinik liegt. Das Krankenhaus ist – auch nach der Wende – ein unansehnlicher sechsstöckiger Plattenbau, aus der Lüftung dringen Gerüche von Schweiß und altem, brutzelndem Öl aus der Langosch-Bude. Trotzdem ist es ihr Rückzugsort, in dem sie sich nicht unwohl fühlt. Hier ist sie in Sicherheit, egal, was die Ärzte mit ihr anstellen. Während ihrer Rekonvaleszenz wartet sie nämlich auf einen Gerichtstermin: Sie hat ihren Mann im Affekt getötet – und kann sich gar nicht recht daran erinnern. Nur dass sie es getan hat – und dass es gut war. Der Anlass kommt bis zum Schluss nicht zur Sprache – es wird eine Nichtigkeit gewesen sein, welche das Fass jahrelanger Demütigungen und Bedrohungen zum Überlaufen gebracht hatte.
Ihr Pflichtanwalt beschwört sie immer wieder sich zu erinnern. Lívia hat sich schließlich ein Heft gekauft, in welches sie die Puzzles ihres Lebens zusammenträgt. Nach jahrelangem Schweigen sprudeln die Worte nach anfänglichem Zögern unaufhaltsam hervor. Immer wieder kehrt sie zu den Kernfragen, bis in ihre Kindheit zurück. Vor allem aber: Wann hatte das Scheitern ihrer Ehe begonnen, wann war ihr Leben endgültig zusammengebrochen? In ihren Erinnerungen versucht sie, sich selbst auf die Spur zu kommen, um ihre Persönlichkeit zu retten.
Alles hatte so vielversprechend begonnen: Sie hatte den Mann, den Traum ihres Lebens geheiratet, einen erfolgreichen Leistungssportler. Nun fehlten nur noch die Kinder. Und die kamen nicht. Nicht mal eines, obwohl ihr Embryonen eingesetzt wurden, obwohl sie unzählige Hormonkuren über sich ergehen ließ, viele Schmerzen aushalten musste. Einmal hatte sie sogar einen Abgang. Kein Kind wollte bei ihr bleiben. So sehr klammerte sie sich daran, eigene Kinder zu haben, dass sie darauf vergaß, ihr eigenes Leben zu leben. Alles sah sie nur im Hinblick auf die Kinder, oder wenigstens das Kind, das sie unbedingt haben wollte. Dass ihr Mann inzwischen längst des Kinderwunsches überdrüssig geworden war, kam ihr nicht in den Sinn. Er vernachlässigte sie, misshandelte sie, wollte nichts mehr von ihr wissen. Zunächst begann er mit herabsetzenden Kommentaren, dann wurde daraus körperliche Gewalt.
Aber auch Öcsi hatte zu kämpfen: Er war Athlet, Sportler, der für Großes ausersehen war. Für nichts anderes lebte und träumte er. Der Erfolg im Sport sollte ihm helfen, ins Ausland zu entkommen. Als sich der erhoffte Erfolg nicht einstellte, wurde er depressiv, gegenüber seiner Frau ruppig, misstrauisch, später gleichgültig und dann brutal. Sie meint sich zu erinnern, dass, wenn sie ihn nicht getötet hätte, so hätte er es getan: Zwei Menschen, die einmal glaubten sich zu lieben und sich dann bis aufs Messer bekämpften.
„Ich habe einen Mord und eine Ehe hinter mir“. Die Sätze der Ich-Erzählerin sind lakonisch knapp und direkt. Sie redet nicht drumherum. Ihre Gedanken sind wie Glassplitter, die sie zerkratzen. Und doch gibt sie sich ihnen gern hin, denn auf diese Weise kann sie Klarheit über sich und ihr Tun gewinnen. Sie leidet unter dem Alleinsein, vermisst ihren Mann. Ihre ersten Gedanken gelten ihm, den sie geliebt hat – auch später noch – trotz allem: „Die Wörter schleichen sich fast von selbst in mein Heft. Sie springen hinein. Es fällt mir im Traum nicht ein, noch einmal zu erzählen, was ich schon gestanden habe. […] Mich interessiert die Verhandlung nicht und auch nicht, wie das Urteil ausfällt. Ich erinnere mich an nichts.“ Lívia ist überzeugt: Immer, wenn fast etwas gut gegangen wäre in ihrem Leben, sei etwas dazwischen gekommen „Wenn es einmal so bliebe und andauerte und ich mich nicht auf den schlimmsten Fall vorbereiten müsste. Damit werde ich mein Heft beginnen, mit dem, was fehlt. Mit deinem Fehlen. Denn du fehlst mir sehr wohl. Komm zurück, ich bin verdammt allein. Du hast mich verlassen, Öcsi, du Zigeuner!“
Lívia kommt aus einer bürgerlichen Familie, sie ist Lehrerin. Gewalt und Hass sind also nicht nur auf Armut beschränkt. Sie hat ein Haus, einen Garten, den sie pflegte. Sie liebt die Natur und wird geradezu lyrisch, wenn sie über Blumen spricht.
In ihrem Spiralheft kann sie endlich das jahrelange Schweigen brechen. Jetzt ist sie an der Reihe, niemand verbietet ihr das Wort. Sie erinnert sich ihrer Verliebtheit – und wie dann die Liebe nachließ. Wie ihr Mann nur noch seine Runden lief, nichts anderes mehr im Sinn hatte; der Reihe nach Wettkämpfe gewann, während sie im Gras hockte oder in der letzten Reihe saß: „So erscheinen mir immer die ersten Jahre, wenn ich an dich zurückdenke. Zitternd beobachte ich deine Bewegungen, ich war so verrückt nach dir, dass ich regelrecht Angst hatte.“ […] „Du lebtest für die Giganten, wolltest so groß werden wie die Bewohner des Olymps. Du wolltest den Wettkampf gewinnen. Wer sich dir in den Weg stellte, den hast du überrollt, niedergetrampelt. […] Wie gut wäre es gewesen, wärst du für mich gelaufen, hättest du für mich gewonnen, das wünschte ich mir.“ Einige Jahre schien die Ehe zu tragen, trotz ihres Kummers, kein Kind zu haben. Sie wurde Lehrerin, er Trainer; beide hatten viel mit Kindern zu tun. Doch dann wurde ihr bewusst, in welchem Traum sie gelebt hatte. Lívia erfuhr, dass Öcsi eine Geliebte hatte und mit ihr ein Kind. Sie also war der „schuldige“ Teil. An ihr lag es, dass sie keine Kinder hatten. „[…] Wir versanken im Schlamm, im eitrigen Schlamm. Die Kleinstadt, unser Haus, die Nachbarn, Kollegen, unsere verschwundenen Freunde, unser finanzieller Missstand, unser totes Kind – alles schwamm davon.“ [┤] „Ich bin erleichtert, du bist tot. Ich bekomme wieder Luft, innerhalb von ein paar Tagen bin ich ins Leben zurückgekrochen, damit hatte ich gar nicht gerechnet. [┤] Auf einmal war eine zornige Kraft in ihr gewesen, eine Wut. Die haben ihn umgebracht – nicht sie.
Was immer Lívia tut, woran sie denkt, auch in selbstvergessenen, fast glücklichen Momenten – auch hier, im Krankenhaus – immer fällt ihr das Kind ein, das sie nicht hat und nicht haben wird. Das macht sie zutiefst unglücklich.
Im Frühjahr 1989 hatten sie ihr Lehrerdiplom bekommen. Im Herbst erfuhr sie aus dem Radio, dass die Touristen aus der DDR die Grenze Richtung Westen passieren durften. Sie hatte zwar nichts mit dem Kommunismus am Hut gehabt, aber dass sie sich deswegen hätte zurechtweisen lassen, das nicht – wofür denn? Politik war ihr egal. Sie war es gewohnt so zu leben, wollte eigentlich nichts Anderes. „Die Menschen holten tief Luft, ließen ihren ganzen Hausstand zurück und gingen zu Fuß los, Voller Hoffnung, geduckt. … Ein solcher Augenblick würde nie mehr wiederkommen. In ihren Gesichtern die Angst, sie schlichen sich davon. Wer in einer Diktatur aufwächst, ist immer misstrauisch, und dieses Misstrauen steckt auch in ihnen. Dass die Grenze gleich geschlossen würde, dass der Grenzbeamte sie unter Beschuss nähme.“ In diesem Jahr begann sie zu unterrichten. Was sie gelernt hatte, galt aber nicht mehr – ihr Wissen war falsch.
Lívia erinnert sich ihrer Zeit als junge naive Lehrerin, die zwar schon als Studentin erkannt hatte, wie hohl und verlogen der Lehrstoff war, den sie sich einverleiben musste, die aber mit den besten Absichten ihren Beruf beginnen wollte. Der Direktor nützte ihre Abhängigkeit aus – ein Jahr machte er ihr den Hof, bedrängte sie bis sie schließlich nachgab. Ihre Ehe ging zu diesem Zeitpunkt bereits schlecht. So war es für sie noch besser mit dem Direktor ein Verhältnis zu haben, als vergeblich auf Öcsis Liebe zu warten. Doch auch von ihm wurde sie nicht schwanger. Es kamen andere Liebhaber – Öcsi ermunterte sie geradezu, von irgendeinem Mann ein Kind zu bekommen. Schließlich nahm eine Studentin, Sári, Öcsis Platz als Geliebte ein; denn Lívia wollte nicht nur ein Kind – sie wollte auch lieben und geliebt werden. Aber auch mit Sári wollte kein glückliches Leben gelingen: Es durfte nicht offenbar werden – und Sári floh schließlich in die USA.
Eines Tages, als sie ganz am Ende ihrer Kraft ist, geht Lívia in eine Kirche. Der schwarzen Muttergottes erzählt sie alles, wirft ihr den ganzen „Plunder“ vor die Füße. Sie erzählt Jesus, dass einmal ein Embryo aus ihr herausgefallen war, ein blutiger Klumpen, winzig. Sie beschwört ihn, ihr doch ein Kind zuzugestehen. „So war es also, gestehe ich. Gott widerruft das Leben. Jahrelang habe ich ihn gebeten, und er hat nicht gegeben. Ich gebe auf. Gehe weg, versuch im Ausland ein neues Leben, flüstere ich der Bank zu, dem Kissen, der Lehne und der winzigen Lederbibel. Na, deswegen bin ich heute hergekommen, nur auf einen Sprung, habe mich hingekniet, um das zu erzählen. Und ohne Wut zu gehen.“
Sie versuchte es in Deutschland. Nach der Wende wurde die Lage der Lehrer in Ungarn so katastrophal, dass viele Frauen versuchten, im Ausland ihr Auskommen zu finden, meistens als Putzfrau oder gar als Prostituierte. Lívia musste in einer Firma als Reinigungskraft hart arbeiten. Als sie schließlich wieder zurück kam, blieb ihr nichts anderes übrig, als Öcsis bis dahin aufgelaufene Schulden zu bezahlen. Scheiden lassen wollte er sich nicht; denn er war überzeugt, dass Lívia ohne ihn gar nichts wäre, ein Niemand, der nicht allein zurecht käme.
Hier muss nun von Öcsi die Rede sein. Er bleibt ziemlich blutleer im Roman, doch Lívia versucht, ihm doch Gerechtigkeit zukommen zu lassen: […] „Er war ein Landesmeister, der es nie zu einer normalen Olympiade geschafft hatte. Warum hätte es da ein größerer Schmerz sein sollen, dass wir kein Kind bekommen konnten? Das andere war die tiefere Wunde. – Ihm passe das, wenn wir keins bekämen, dann wären wir eben zu zweit, nur sollte ich ihm nicht auf die Nerven gehen, ihm nicht die Luft zum Atmen nehmen.“ Mit der Zeit verfiel Öcsi, wurde psychisch krank, lethargisch, sprach nicht mit ihr, wurde grob, schlug sie, trat nach ihr, riss ihr die Haare aus.
Lívia wird vom Gericht frei gesprochen. Irgendwie steht man auf ihrer Seite, obwohl sie die Täterin ist. Doch ihre Persönlichkeit ist so deformiert, dass es schwer vorstellbar ist, dass sie wirklich frei sein wird: Sie will erst mal Urlaub machen: „Ich hänge an tausend Fäden, die müsste ich zerschneiden, um endlich frei zu sein.“
Also, es wird sich nichts ändern – nur, dass Öcsi nicht mehr da ist.
Wir sehen zwei Menschen, die nicht erwachsen geworden sind, sondern an ihren Jugendträumen festhalten: Lívia möchte unbedingt ein Kind, das erwartet sie vom Leben, das wird von ihr erwartet. Öcsi möchte als Leistungssportler in die obere Riege aufsteigen, an einer Olympiade teilnehmen. Beiden erfüllt sich ihr Traum nicht.
Lívia wird immer panischer und verbohrter, Öcsi ist frustriert, nicht nur vom Jammern seiner Frau, sondern auch, dass sein Traum nicht erfüllt wird. Aus Liebe und Leidenschaft wird Nachlässigkeit, Lieblosigkeit und sogar Brutalität. Beide haben nicht verstanden, ihr Leben anders zu ordnen, es unter den gegebenen Umständen neu zu gestalten, miteinander etwas zu unternehmen. Öcsi sagt zwar einmal, er brauche keine Kinder, sie könnten doch etwas anderes machen, reisen z.B., aber Lívia hält eisern an ihrem Wunsch, der zur Besessenheit wird, fest. Wir erleben die ungebremste Abwärtsspirale eines unerfüllten Ehelebens, bis zum unausweichlichen Ende, dem gewaltsamen Tod eines Partners. Es hätte auch Lívia sein können, denn sie weiß, dass ihr Mann sie abgrundtief hasste.
Noémi Kiss lässt ihre Protagonistin mit Sprachgewalt erzählen, unterbrochen von lakonischer Selbstreflexion und lyrischen Ausbrüchen. Ich möchte hier ganz besonders die einfühlsame Übersetzung Éva Zádors herausheben, die den Text auch im Deutschen lebendig und farbig gestaltet hat. Das Lesen ist ein Genuss und tiefes Erlebnis. Der Inhalt verstörend und deprimierend, wenn ich bedenke, dass sich auch heute, im Jahre 2018 so viel nicht geändert hat. Ich kann mir aber denken, dass der Roman vielen Menschen in ähnlicher Lage sehr wohl helfen kann.

 

 

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