Rezension: Zsuzsa Selyem: Regen in Moskau. Die Geschichte einer Aussiedlung

Aus dem Ungarischen von Eva Zador
Verlag: Nischen, Wien, 2018
ISBN: 978-3-9503906-6-7
Originaltitel: Moszkvában esik, 2016
Bezug: Preis: 19 Euro

von Gudrun Brzoska

Im Jahr 1947 beginnt das Drama für die Familie Beczásy. Zsuzsa Selyem, die Enkelin des „Haupthelden“ breitet es in seinen lächerlichen, komischen und tragischen Facetten vor uns aus.
Bis zu diesem Jahr scheint noch alles gut zu gehen für István Beczásy. Das Jagdgebiet gehört ihm – noch! Es haben sich nämlich bereits Minister der neuen kommunistischen Regierung selbst zur Jagd eingeladen: László (Vasile) Luka und Szenkovics. Am Abend findet ein großes Bankett statt, man plaudert, Beczásys Frau Zina brilliert mit ihrer Bildung gegenüber den beiden Emporkömmlingen, die kleine Tochter Tánya kommt ganz zutraulich zur Tischrunde. Einzig die neunjährige Liliann bleibt in der Tür stehen und beobachtet die Szene visionär mit Entsetzen: „Sie sah die zertrümmerten Reste des Abendessens, die Tierknochen … ihren Vater ….ihre Mutter …ihre arglose kleine Schwester im Schoß des Mannes, sah den anderen fremden Mann, der jeden, aber in erster Linie sich selbst verriet und so durch die Diktatur lavierte, …sah den Diktator bei den Futterkrippen auf Bären schießen, sah ihre Mutter bis zum Schenkel im Wasser Reis schneiden, sah ihren Vater erschlagen bei der Securitate, sah ihn mit einundachtzig Jahren im Dezember 1989 auf offener Straße ganz aufrecht in die Revolution schreiten, sah mit eigenen Augen, dass der Diktator wie ein gehetztes Tier floh, dann aber wie ein Hund erschossen wurde, und sah, alles war voller Freude, voller Schmerz….“ Dieses erste Kapitel ist so etwas wie der Prolog. Er weist auf das Kommende hin – es wird sich alles bewahrheiten, was Liliann vorausgesehen hatte. Der Besitz hatte Begehrlichkeiten geweckt…
Selyem hat die neuere rumänische Geschichte hinter Türen und Fenstern versteckt,
lässt meist Tiere ironisch, sarkastisch oder empathisch erzählen, von deren Warte aus, mit tierischem Unverständnis gegenüber den Handlungen der Menschen. Die Tiere berichten die Wahrheit, sie sind unvoreingenommen und ehrlich. Fiktion ist lediglich, dass sie in fassbarer Sprache denken und sich äußern können. Mit diesem literarischen Kunstgriff schafft die Autorin den nötigen Abstand zu manchmal schrecklichen Szenen.
Z. B. zwitschert eine Amsel im 2. Kapitel über die Vorfahren der Familie: Krieg – Vertreibung – Flucht, damit musste diese auch in früheren Jahrhunderten kämpfen. Als Armenier flohen sie im 17. Jahrhundert mit vielen anderen vor den Osmanen und ließen sich in Beregszász (damals Ungarn, heute Ukraine) nieder. Emánuel Beczásy zog im 18. Jahrhundert weiter bis Háromszék in Siebenbürgen und wurde dort mit seiner Pferdezucht so berühmt, dass er Land kaufen, ein einmaliges Arboretum und ein mustergültiges Gut schaffen konnte. Der spätere Nachfahr István Beczásy studierte in Hohenheim bei Stuttgart Landwirtschaft. Weitere Beiträge bringen in den nächsten Kapiteln ein Schleiereulenpaar und eine Grille. Das sind die heiteren Seiten des Romans, wie István als junger Mann vor seinem Studium seinen Onkel in Budapest besucht und dort zum Mann initiiert wird, oder, mit einem Seitenblick auf die (tatsächliche) Historie, als in Ungarn mit Billigung der Regierung falsche Francs in Umlauf gebracht werden sollten, um Frankreich, als vermeintlich alleinigen Urheber des Trianon-Friedensvertrags (1918) zu schädigen, und auch, um selbst an dringend nötiges Geld zu kommen. Vor allem in diesen Kapiteln zeigt sich die lebhafte Fabulierkunst der Autorin, die uns mitnimmt auch auf die Seitenwege der Geschichte.
In diesem Kapitel nimmt sie als Autorin kurz den Faden auf und erzählt, wie sich ab der Wende, ab 1989 die Menschen für das Schicksal der Deportierten aus Háromszék zu interessieren begannen. Es wurden endlich Fragen gestellt, Tánya gab ein Interview, Liliann schwieg, und die Mutter wollte vergessen. Der Großvater hatte die Geschichte der Aussiedlung lediglich unter dem Gesichtspunkt der Landwirtschaft als Buch geschrieben mit dem Titel: „Eingezäuntes Leben“. Später spricht er das, was ihn interessiert, der Enkelin auf ein Diktafon. Auf weitere Fragen gibt er keine Antwort.
Rumänien gehörte am Ende auch zu den Siegern des Zweiten Weltkrieges. Und da es im Einflussgebiet der Sowjets lag, konnten auch hier, wie im gesamten europäischen Osten, die Kommunisten die Herrschaft übernehmen. Stalin war der Herr! Mitte der 40er bis Anfang der 50er Jahre, als in Deutschland schon das „Wirtschaftswunder“ zu blühen begann, setzte die rumänische kommunistische Regierung zu einem Rundumschlag an: Gutsbesitzer wurden enteignet, ausgesiedelt und zur Zwangsarbeit deportiert. In Siebenbürgen waren es ungarischstämmige Menschen aus Háromszék, die in die Dobrudscha deportiert wurden, im Banat hauptsächlich die deutschstämmigen, angeblich „politisch unzuverlässige Elemente“, welche in die Bǎrǎgan-Steppe verschleppt wurden. Für beide Gruppen der sog. „Klassenfeinde“ galt das gleiche Ziel: hauptsächlich die nichtrumänische Bevölkerung sollte dezimiert und zu Zwangsarbeit herangezogen werden. Sie sollte bisher unfruchtbares Land urbar machen – und / oder im schwereren Fall Zwangsarbeit am Donau-Schwarzmeerkanal leisten.
Um diese Jahre kreist der Roman „Regen in Moskau“. Erfrischend, dass sich die Autorin nicht als „Lehrmeisterin unserer Zeit“ aufspielt und mit erhobenem Zeigefinger auf Parallelen zum Heute hinweist, sondern eventuelle Schlussfolgerungen dem Leser überlässt. Tiere sind ihre Beobachtungsposten, sie berichten und philosophieren über die Menschheit: das jetzige Zeitalter wird so enden, „dass die Menschen die Fähigkeit, sich selbst zu vernichten, entwickelt hatten und so weit gegangen waren, dass sie zur Verhinderung ihres eigenen Aussterbens nichts weiter erfinden konnten als die Vernichtung des gesamten Planeten“.
Bereits 1945, weiß eine Schmeißfliege, waren Genossen ins Dorf gekommen, hetzten die Bevölkerung auf und peitschten ihnen ein, wie die sog. „Volksschinder“ zu verurteilen seien, um sie dann mitzunehmen. Sarkastisch macht sich die Fliege ihre Gedanken über das schwarze Auto, das „all jene mitnähme, die sich nicht am Aufbau der schönen neuen Welt beteiligten, sondern zu Hause herumlungerten und alles sabotierten.“ Mit Erfolg stemmen sich allerdings die Kriegerwitwen des Dorfes dagegen, dass auch Beczásy mitgenommen wird. Er hatte ihnen umsonst gepflügt und gesät. Noch ein paar wenige Jahre Aufschub für die Familie!
1949, an einem Faschingsdienstag, ist es dann soweit, berichtet der treue Hund Lux. Obwohl er mit seinen beiden Kameraden versucht hatte die Familie zu verteidigen, wurde diese mitten in der Nacht auf einem offenen Lastwagen weg gefahren, zur Securitate gebracht und verhört. Ab sofort wird ihnen ein Zwangsaufenthaltsort zugewiesen, den sie nicht verlassen dürfen. Noch einmal werden sie deportiert, diesmal in die Dobrudscha, an die Donau. Dort müssen sie mit den anderen Verschleppten in einer Reisplantage arbeiten. Allein Beczásy schickt sich in die Lage: Er überlegt sofort, wie er den guten Boden bewässern und bearbeiten, was er säen und ernten kann.
Aber auch hier kann er nicht bleiben. 1952 wird er verhaftet und in eine Gefängniszelle gebracht. Während seine Zellgenossen sich aufreiben mit Fragen, warum sie hier sind und was aus ihnen und ihren Familien werden soll, bewahrt sich Beczásy humorvoll seine innere Freiheit, lässt sich auf nichts ein, unterschreibt auch kein Geständnis, obwohl er sowohl psychisch, als auch physisch gefoltert wird. Fast erschlagen, wie eine Wanze bedauernd bemerkt, weil sie mit ihm ihre „Nahrung“ verliert, wird er wieder in die Dobrudscha entlassen.
Von Kapitel zu Kapitel wird die ganze Geschichte weiter präzisiert, um weitere Puzzleteilchen ergänzt, so dass sich vor dem Leser immer mehr das ganze Bild entfaltet.
An der Donau, gibt uns eine Katze, die schon mehrere Leben hinter sich hat, Einblicke in das schwere Leben der Menschen, die hier schuften und die nur eines gemeinsam haben: Sie kommen aus Háromszék, sind Ungarn und hatten, bevor sie enteignet wurden, ein recht großes Stück Land.
Die philosophierende Katze erzählt auch, was diese Menschen alles nicht mitbekommen haben: dass Ende des Zweiten Weltkrieges in Budapest Menschen (Juden) in die Donau geschossen wurden, und dass inzwischen zwei Atombomben auf Japan gefallen sind. Sie weiß auch, dass die Außenministerin Ana Pauker inzwischen in Ungnade gefallen ist, ebenso jener Luka, der sich anfangs bei Beczásy zur Jagd eingeladen hatte – und weswegen dieser so grausam verhört worden war, um ihm ein Geständnis abzupressen, damit Luka verurteilt werden konnte. Ein Machtkampf unter den Kommunisten, den Präsident Gheorghiu Dej gewinnt und damit auch seinen einstigen Kameraden das Grauen einprügelt.
Jetzt erfährt der Leser auch das Zitat, das zum Buchtitel geführt hat, ein Witz, eine Anfrage an Radio Eriwan: „Können Sie mir sagen, warum Ana Pauker mit dem Regenschirm durch die Bukarester Straßen läuft, wo doch die Sonne scheint? – Aber sicher: Weil es in Moskau regnet.“ Alles was in Moskau geschieht, wirkt sich auf die übrigen kommunistischen Vasallenstaaten aus. Was Moskau will, wird in die Tat umgesetzt.
Zina, Beczásys Ehefrau, ist eine der wenigen Menschen, die selbst erzählen dürfen. Sie ist Slowakin, hat aus Liebe zu Pista (István Beczásy) ihre Heimat und ihre glänzende Zukunft zurückgelassen. Inzwischen hat sie die Muttersprache fast vergessen, das Ungarische nie richtig gelernt. Sie will nicht mehr an die schreckliche Vergangenheit denken – sie kennt die Geschichte von Tschernobyl – sie will das Leben noch genießen. Einzig Pista hat sie geliebt, wenn sie auch weiß, dass er eigentlich nur die Natur und die Landwirtschaft von Herzen liebte.
Als letzte Tiergruppe tauchen die Eichhörnchen auf: Sie fassen die ganze Geschichte noch einmal zusammen, lassen Beczásy als Woyzeck sein Leben riskieren mit seinen komischen und tragischen Ereignissen – und setzen alles noch einmal auf Anfang, bis zu Istváns Kleinkindertagen mit seiner Mutter Zsuzsi:
„Süß war das Leben.“
Ich möchte diesen Roman jedem interessierten Leser empfehlen. In der kongenialen Übersetzung von Eva Zador zeigt er so viele Facetten der Geschichte und menschlicher Handlungsweisen auf, mögen sie mutig, feige oder verwerflich sein; jedem Leser empfehlen, der Freude hat an Fabulierkunst, jedem, der ein bisschen eindringen möchte in einen Abschnitt rumänischer Geschichte und seiner ungarischen Minderheit. Wer Fragen hat, dem sei die Recherche im Internet empfohlen. Dort wird er in (Computer-) Übersetzung nicht nur das Interview von Tánya, sondern auch einen Hinweis auf István Beczásys Buch finden – und vieles mehr.
Als Europäer sollte man unbedingt ein wenig über die Historie der anderen europäischen Völker Bescheid wissen.

 

 

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