Rezension: György Mandics / Zsuzsanna M. Veress: Aus den Aufzeichnungen von János Bolyai

Lyrik
Aus dem Ungarischen von Julia Schiff. Überarbeitet von Peter Gehrisch
Verlag Pop Ludwigsburg 2018
ISBN: 978-3-86356-148-2
Originaltitel: Bolyai János jegyzeteiből, 1979
Bezug: Preis: Buchhandel, 16,50 Euro

von Gudrun Brzoska


György Mandics und seine Frau Zsuzsanna M. Veress († 1991), beide in Rumänien geboren, legten bereits 1979 einen Lyrikband vor, welcher den großen ungarischen Mathematiker János Bolyai in vielen Details beleuchtet.. Bolyai sei sein großes Vor-bild, sagt Mandics, und der größte ungarische Wissenschaftler, weil er als erster das euklidische Paradigma gebrochen habe. Seitdem haben sich Hunderte von Mathematikern damit beschäftigt, aber der bahnbrechende sei Bolyai gewesen. Viele der fragmentarischen Aufzeichnungen fanden großes Interesse in der Nach-Ceauşescu-Ära, denn nach der Revolution von 1989 bezogen sich viele auf diese Gedichte und sahen sich, ihr Leben und ihre Gesellschaft dadurch bestätigt – wie wir aus dem Umschlagtext erfahren.
János Bolyai, von dem es kein einziges authentisches Bild gibt, hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, welches, zu großen Teilen kaum leserlich, in Kisten gefunden wurde. Bisher konnte es nur bruchstückhaft restauriert werden.
Mit diesen Notizen, den lückenhaften und beschädigten Manuskripten beschäftigt sich der vorliegende Band. Die beiden Autoren gießen die aufgefundenen Fragmente mit all ihren Auslassungen in Lyrik, versehen mit ausführlichen Fußnoten, die über Zeit und Umstände der jeweiligen Originaltexte und Zusammenhänge Auskunft geben. Man muss es dem Pop Verlag als großes Verdienst anrechnen, dass er diese Texte in Übersetzung der Schriftstellerin und Lyrikerin Julia Schiff, überarbeitet von Peter Gehrisch, herausgibt.
Einziges Manko: Das Vorwort macht uns zwar kurz mit Ungarns Freiheitskampf von 1848/49 bekannt, aber: welch jüngerer Leser im deutschsprachigen Raum weiß heute darüber Bescheid? Ebenso die Erwähnung, dass das Buch in der Nach-Ceauşescu-Ära zum Kultbuch wurde. Umfragen haben ergeben, dass nicht einmal in Deutschland die jüngere (und z. Tl. auch die ältere) Generation Bescheid weiß um den Umsturz hierzulande, geschweige denn in Rumänien. Das ist schade und hätte dem Leser sicher geholfen, einige Parallelen zu den verschiedenen Freiheits-kämpfen zu ziehen. Aber auch wir Leser des 21. Jahrhunderts finden bemerkens-werte Aussagen Bolyais, die bis heute gültig sind. Ich werde weiter unten einige der Fragmente als Beispiele vorstellen.
Die Mitte des 19. Jahrhunderts ist eine unruhige Zeit in Europa. Auch in Ungarn brechen Aufstände um die Freiheit von Habsburg aus, die schließlich blutig nieder-geschlagen werden. In dieser Zeit lebt János Bolyai (1802-1860), der sich mit mathematischen Studien befasst. 1831, mit 29 Jahren gibt er zu einem mathematischen Werk seines Vaters, Farkas Bolyai, einen Anhang, den Appendix, heraus, worin er sich mit einer „nichteuklidischen Geometrie“ befasst, die ihn neben anderen großen Mathematikern seiner Zeit, Carl Friedrich Gauß und Nikolai Lobatschewsi, als Entdeckter der nichteuklidischen Raumlehre ausweist. Zu seinen Lebzeiten wird er aus verschiedenen Gründen nicht genügend gewürdigt, doch bereits bald nach seinem Tod beginnt die wissenschaftliche Gesellschaft seine Entdeckungen und Lehren zu respektieren. Die Literatur beschäftigt sich mit ihm, Biografien wer-den verfasst, die Klausenburger Universität ist nach ihm benannt, ebenso ein Asteroid und seit 1970 ein Mondkrater. Bis heute gibt es in seinem Heimatland mathematische Wettbewerbe, die seinen Namen tragen.
Wie bereits erwähnt, war auch János Vater Mathematiker, Professor am reformierten Kolleg in Marosvásárhely (Neumarkt). In seinen jungen Jahren hatte er in Klausenburg, Jena und Göttingen studiert und sich dort eng mit Carl Friedrich Gauß befreundet. Sohn János zeigt schon sehr früh geniale Eigenschaften: Er spielt hervor-ragend Violine und brilliert mit einer herausragenden mathematischen Begabung. Da die Familie bei dem knappen Einkommen des Vaters es sich nicht leisten kann, den begabten Sohn im Ausland studieren zu lassen, fragt Farkas bei seinem Studi-enfreund Gauß in Göppingen an, ob der Sohn für drei Jahre bei ihm wohnen und lernen könne. Der Brief wird aus unbekannten Gründen nie beantwortet und so bleibt dem jungen Genie nichts anderes übrig, als auf die Militärakademie nach Wien zu wechseln, wo er als Ingenieuroffizier seine mathematischen Studien fort-zusetzen kann.
1831 schickt Vater Bolyai u.a. den Appendix an Gauß – was diesen sehr überrascht, denn er habe diese Entdeckung schon vor Jahren gemacht, aber sie nicht weiter veröffentlicht. János fühlt sich tief betroffen, nicht anerkannt und zieht sich fortan in die Isolation zurück. Er befasst sich mit weiteren mathematischen Studien und mit Philosophie. Sehr zu schaffen macht ihm sein ungezügeltes Temperament, seine Wutausbrüche und das Zerwürfnis mit seinem Vater. Die Beiden begegnen sich fast nur noch im Austausch ihrer mathematischen Erkenntnisse.
Der erste Teil der „Aufzeichnungen von János Bolyai“ hat von „a – z“ János Leben zum Inhalt: Seine Enttäuschung darüber, dass er nicht in Göttingen studieren kann und stattdessen als „Genieoffizier“ (= Ingenieur) die ungeliebte Militärakademie in Wien besuchen muss. Im Herbst des Jahres 1823 – 21 Jahre alt – erkennt er den Zusammenhang, der zwischen dem Winkel der Parallelität und der Entfernung der Parallelität existiert. Er schreibt davon am 3. November an seinen Vater, u.a. den viel zitierten Satz: „Aus dem Nichts schuf ich eine neue, andere Welt“.
Er hat keine Freude am Kriegshandwerk und seine Vorgesetzten sehen das auch bald ein, zumal er häufig kränkelt und sich nach Gauß‘ Zurückweisung (1832) völlig in die Hypochondrie zurückzieht. Sein Selbstvertrauen ist dahin. Es fehlt ihm natürlich auch ein Gegenüber, mit dem er sich auf Augenhöhe über seine Erkennt-nisse und philosophischen Überlegungen austauschen könnte. Das kann er einzig mit seinem Vater, der aber ganz und gar nicht mit dem vergnügungssüchtigen Le-ben seines Sohnes einverstanden ist, worüber es zum Zerwürfnis zwischen beiden kommt. Der Sohn hat zeitlebens das Gefühl die mathematische Größe seines Vaters nicht erreichen zu können, ihm nicht zu genügen, ihm nicht ebenbürtig zu werden. „Mein Horizont: Der endlose Kreis“ (Wien 1820).
Im Herbst 1837 schreibt die Leipziger Jablonowsky-Gesellschaft einen mathematischen Wettbewerb aus. Sowohl Farkas, als auch János wollen sich daran beteiligen. Beide geben ihre Bewerbungen getrennt auf – keiner von Beiden gewinnt. Die Jablonowsky-Gesellschaft hält János‘ Beitrag für uninteressant, doch heute weiß man, dass er auch Beobachtungen enthält, die die geniale Vorschau auf grundlegende Probleme der Gegenwartsphysik formulieren.
Nach der Revolution bedauert er, dass er (aus Feigheit) nicht an den aufständischen Kämpfen teilnehmen konnte. Es wäre auch nicht möglich gewesen, stand er doch im Dienst des Kaisers. Er wird dennoch verhört. Man versucht, ihn als Spitzel zu gewinnen, was er rundweg ablehnt.
Wenige Jahre vor seinem Tod denkt er philosophisch über eine Heillehre nach. Fragmente aus dieser Philosophie bilden den 2. Teil des Bandes, welchen die Auto-ren in die Fragmente der Lehren untergliedern. Die einzelnen Fragmente sind nummeriert.
Bolyai betrachtet Die Lehre als sein Lebenshauptwerk. Seine Schriften Appendix, Responsio und andere Teile sind Bruchstücke eines gewaltigen Œuvre, welches nur Torso geblieben ist. Dieses Werk ist in drei Teile gegliedert: I. Heillehre, II. Nebenlehre (Naturwissenschaften), III. Vergangenheitslehre.
Einige Aphorismen aus den Fragmenten als Beispiele sein hier genannt:
Aus der Wahrheitslehre: (1) „Was Wahrheit ihr nennt, es ist keine Wahrheit. Nur meine, deine und seine Wahrheit. Auf die Menschheit bezieht sie sich nicht, auf den Einzelnen nur.“ –
(22) „Ich habe ins dunkle Rohr paralleler Linien geblickt. Ich fürchtete mich.“ –
(30) „Nicht gegen die Wahrheit erhebe ich mich! Nur gegen ihren einzigen Weg!“
In der Lehre des Schönen bzw. der Ästhetik versucht Bolyai eine mathematische Annäherung an das abstrakt Schöne. Für ihn wird der Begriff des Schönen durch die Leidenschaft entwürdigt, die Kunst sei außerstande Erlösung zu bringen. „…durch die Dichtung wird das allgemeine und individuelle Heil nicht erreicht, mehr noch, nichts bewegt sich spürbar nach vorne“
(9) „Drum sag ich: Fürchte der Fragen Unruhe nicht, sondern die trostreiche Antwort! Und fürchte nicht die trostreichen Fragen, sondern die einfache Antwort.“
Im Fragment zur Menschenkunde hat Bolyai vor allem zur Abstammungsdoktrin, zu familiensoziologischen Fragen, zur Heil- und Erziehungspsychologie Denkwürdi-ges geleistet:
(30) „… Und ohne Klagen ertrug ich, dass die Törichten über mich lachten und mich jene bespuckten, die meinen Namen mit Schmähung versahen. …. nur an meinem Glauben rührt nicht, den ich mühsam erwarb.“ –
(31) „Siehe, im Vergleich zu der Wahrheit gibt’s einen größeren Despoten: Euklid“.
Bedenkenswert für heute ist, was er im Fragment Zur Lehre der Technologie, welcher er sehr konservativ gegenüberstand, sagt:
(8) „Im Schwindel des Mehr-noch-und mehr rast das Menschengeschlecht mit immer schnelleren Schritten seiner äußersten Notlage zu!“ –
(10) „Anstelle von Notwendigkeiten, des Menschen Wünsche zufriedenzustellen – ist ein gefährliches Ziel.“
Und im Fragment zur Vergangenheitslehre – die Kräfte des Aufruhrs:
(11) „Manche wähnen sich frei, doch ein Sklave ist freier, wenn er der Grenzen gewahr wird, die ihm gesetzt sind, und sich ihnen nicht naht.“ –
(13) „Ach, Revolution, ich, der alte Ketzer, ich lieb‘ dich viel mehr als mancher, der glaubt.“
(15) „Konsequente Vergeltung ist Massenvernichtung – bis hin zu Adam und Eva.“ – (22) „Wer die Freiheit erreicht, von andren erkämpft, in Wahrheit ist er nicht frei. Mit weichen Knien vor Dank vom Sich-Erheben spricht er vergebens.“
Nach der Lektüre dieses Buches wurde ich neugierig auf weitere Details aus János Bolyais Leben und stieß dabei im Internet auf eine umfangreiche Biografie und Würdigung von Vater und Sohn Bolyai aus dem Jahre 1913. Geschrieben hat das Buch Paul Stäckel, publiziert wurde es im Teubner Verlag.
Heutzutage scheint sich kein weiterer Rezensent für diese, zu Lebzeiten kaum gewürdigte Biografie zu interessieren, denn ich fand nirgends in den großen Blättern eine Buchbesprechung. Schade!

 

 

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