Rezension: Nadj Abonji, Melinda – „Schildkrötensoldat“

Roman
Verlag  Suhrkamp Berlin 2017
ISBN: 978-3-518-42759-0
Bezug: Buchhandel, Preis: 20,00 Euro

von Gudrun Brzoska

Sieben Jahre nach ihrem zweiten Roman bildet die Heimat der Autorin wieder die Folie für das neue Buch: 1992, der Jugoslawienkrieg ist noch in vollem Gange, das Massaker in Vukovar hat bereits stattgefunden, als Anna, die Lieblingscousine des „Schildkrötensoldaten“ Zoltán, genannt Zoli, zurück in ihre serbische Heimat fährt. Er war wegen dieses Krieges gestorben, aber nicht „auf dem Feld der Ehre“, als Held, wie es seine Mutter gern gesehen hätte, sondern ganz prosaisch, zu Hause, bei einem epileptischen Anfall, an einem Stück Brot erstickt, kaum 22 Jahre alt.

Vier Monate nach seinem Tod ist Anna nichts anderes mehr wichtig, nicht ihr Freund Serge, dem sie davon nichts erzählen kann, nicht ihre Lehrtätigkeit in Zürich. Sie will und muss nach Jugoslawien, muss sich selbst ein Bild machen vom Sterben ihres Cousins. Viele Städte sind inzwischen „ethnisch gesäubert“ und Vukovar fast völlig zerstört. Die Landschaft ist noch immer „unerträglich schön“ und jagt ihr den Puls in die Höhe „weil das Blau blau bleibt, obwohl die Sonne untergeht.  – und nur ein paar Kilometer weiter entfernt wird geschossen, gemordet, Befehle werden ausgeführt, und nichts und niemand und keine Schönheit hat offenbar die Kraft, auch nur einen Schuss zu verhindern.  Jugoslawien, das Land, in dem du geboren und aufgewachsen bist, existiert nicht mehr.“

Während der Fahrt erinnert sie sich an Zolis Kindheit und Jugend, sieht ihren Cousin als kleinen Jungen dastehen, schmutzig, verträumt, aber mit aufmerksamen blauen Augen. Sie überlegt, wie das mit seinen Augen war: „ wie alles in Zolis Augen hineinfloss, ungehindert, ungefiltert. Er nahm alles auf, was da war, und dazu gehörte auch das Verborgene, das, was im Verborgenen bleiben sollte. Sein Blick wusste etwas, was wir anderen nicht wussten.“ Zoli fühlte sich im Garten am wohlsten, vor allem liebte er seinen Hund Tango.

Vor Jahren hatte sie ihn zum letzten Mal gesehen – oder vielleicht erst gestern, im Traum? Obwohl sie älter war als er, war er ihr immer etwas unheimlich gewesen; gleichzeitig war sie fasziniert von ihm, seinem geheimnisvolles Wesen, seiner überbordende Fantasie. Zoli war das Kind ihrer Tante Zorka. Es ist schmutzig bei ihnen, sie und ihr Mann Lajos, ein „Halbzigeuner“, sind arm, sie streiten, fluchen, trinken. Der kleine Junge nannte seine Cousine Hanna und setzte voraus, dass sie ihn verstand: „das »H« ist die feinste Möglichkeit, sich hinzusetzen, sich auszuruhen.“

Zoli ist also unser Held – eigentlich ein Anti-Held. Um ihn, um sein Leben und Sterben dreht es sich in diesem Requiem. Er selbst erzählt sein Leben in einem Monolog, ohne Punkt, immer wieder unterbrochen von Worten in Großbuchstaben. Er erzählt nicht atemlos, sondern mit Pausen, mit Zwischenräumen, leiser Selbstironie ohne Beleidigtsein. Es ist das Leben eines Kindes und jungen Mannes, der anders ist, ein wenig zurückgeblieben, dem die Schule Schwierigkeiten macht, der aber Wörter liebt und herauszufinden versucht, was hinter ihnen steckt. Er nimmt sie auseinander, versteckt sich in ihren Zwischenräumen, setzt sie wieder fantasievoll zusammen. Und er hat Hefte voller Kreuzworträtsel, fühlt sich als „König aller Kreuzworträtsel“.

Sein Vater meinte, damals habe alles angefangen, der Anfang vom Ende, als er „wie ein Mehlsack“ vom Motorrad gefallen sei, ohne dass sein Vater es gemerkt habe. Der Junge war bei einem Bäcker in die Lehre gegangen, der hatte ihn auf den Kopf geschlagen, bis er ohnmächtig wurde. Weder Zoli, noch der Bäcker ließen etwas davon verlauten. Doch von da an konnte ihn der Bäcker „leider“ nur noch als Hilfsarbeiter im Lager beschäftigen. Der Junge war ein sanftmütiger Mensch, doch immer, wenn er sich total missverstanden fühlte, wenn er mit Gewalt aus seiner Welt herausgerissen wurde, rastete er aus und schrie wütend alles aus sich heraus, was die Menschen um ihn herum nicht verstehen wollten. Sein Vater sagte, dass er von diesem Tag an „blöd geworden“ sei „wie eine Kanone“. Da fällt es zum ersten Mal, das „Kriegswort“, Kanone. Und dass eine Kanone blöd sei. Warum? Weil sie auf Menschen schießt? Aber blöd war Zoli überhaupt nicht. Er machte sich über Vieles Gedanken – und wahrscheinlich auch über Wichtigeres und Elementareres, als seine Mitmenschen. Dabei war er meist fröhlich, ja, mit kleinen Dingen glücklich und zufrieden. Das aber konnte seine Umgebung, konnten seine Eltern nicht verstehen, dass er nicht höher hinaus wollte, dass er es am schönsten fand, in seinem geliebten Garten zu sitzen, Pflanzen, Tieren, Himmel und Wolken zuzuschauen und darüber nachzudenken. Er weinte, wenn er unglücklich war, Angst hatte – oder wenn man ihn nicht verstand. „Kertész“ – ein sprechender Name – zu Deutsch: Gärtner.

Der Vater jammerte darüber, wie der Sohn ihn hätte „retten“ können, retten mit einem anständigen Beruf. „mein Vater hätte sein Zigeunerblut an meinem weißen Beruf abgewaschen, jeden Tag, wir wären nicht mehr  Dreck, das Vieh, Eingeweide und Hühnerfüße, gestohlenes Brennholz, Kaffeesatz und Klimbim gewesen“. Seine Mutter, die es mit der ehelichen Treue nicht so genau nimmt – und die nach dem Wunsch ihres Vaters ein Junge hätte sein sollen – wünschte sich ihrem Sohn als richtigen Kerl, als Helden, zu dem alle aufschauten. Aber diese Wünsche konnte Zoli seinen Eltern nicht erfüllen. Er konnte sie nicht retten, wie er später einsah. Seit seinem Sturz überfiel ihn immer wieder ein Flattern, ein Schläfenzittern, eine Schreckhaftigkeit, die doch für einen jungen Kerl „nicht normal“ sein konnte. „wenn es geschieht, meine Gedanken drücken sich an die Wände meines Kopfes, und ich bin ich ohne Zoli“.

Er erzählt weiter von seinem Soldatenleben in Zrenjanin (eine Stadt, ganz in der Nähe von Nadj Abonjis Heimatort Becsej, in der Vojvodina). „sie haben mich geholt, sie haben mich mit Stiefelfüßen geholt, nachts, ich habe die Nacht aufgeweckt mit meinem Schreien, mit meiner Katzenmusik, dem Gejammer eines unreifen Mannes “ Und er hatte sich geduckt, in seinen Schildkrötenpanzer zurück gezogen, aber es hatte ihm nichts genutzt, auch nicht sein Protest, es sei doch Krieg! Der Vater meinte, du kommst in die Kaserne, sie trainieren dich da, und die Mutter flötete, einen richtigen Mann machen sie aus dir, einen Helden, wie ihn die Lieder besingen.

Die ersten Tage waren schrecklich, er konnte keine Gedanken fassen, das Schnarchen seiner Zimmergenossen störte ihn, ein Probealarm, den er nicht als solchen verstand, wie er vieles nicht verstand, weil es eigentlich gegen den gesunden Menschenverstand ging und nur militärischer Drill, Gehorsam und ein Brechen des Willens gefordert war. Sie wurden „geschliffen“. Beim Küchendienst lernte er einen Kameraden kennen, Jenő. Auch er ein Außenseiter, „Fettsack“, wurde er gehänselt. Er war dick – aber gescheit. Und er verstand Zoli – meistens -. Er half ihm, er beruhigte ihn: „oh ja, wenn nicht dieser eine namens Jenő gewesen wäre, für jeden Menschen muss es doch wenigstens einen Jenő geben!“

„Nach den Schießübungen, nach den schlaflosen Nächten waren meine Zähne Stricknadeln, aber nicht die Stricknadeln meiner Großmutter, ich habe geklappert und nichts gestrickt, ich habe geklappert und gejammert.“ Jenő erklärte ihm die Situation: „in unserer Zeit brauchen sie uns für ihr Naturgesetz, den Krieg! und weil sie dich dafür brauchen, mein Freund, sollst du ein Blödmann werden, ein Hasser – du sollst ein Frustrierter werden, der es nicht merkt, einer der tagelang marschiert, sich im Schlamm wälzt und dann mit heißem Gesicht salutiert.  Zeig deine Furcht nicht, Zoli, aber behalt sie immer in dir, das muss unser Naturgesetz sein, unser einziges, kapiert?“ Der Freund brachte damit die ganze Unsinnigkeit des militärischen Drills auf den Punkt. Dabei wurde ihnen täglich vorgelogen, dass sie sich auf den Frieden vorbereiteten. Dazu brauchten sie aber zuerst den Krieg. „in der Armee, gibt es Sätze, die fangen irgendwo an und hören woanders auf, und zwischen den Wörtern gibt es keine einzige Verschnaufpause.“ erkannte Zoli.

Die anderen Kameraden identifizierten sich inzwischen ganz und gar mit dem Machtwillen des Militärs: „Kertész, wir bauen an einem neuen Staat, und jeder von uns ist wichtig,  mit einem großen Schritt machen wir Vukovar platt, in Reih und Glied marschieren wir, wirbeln Staub auf, weil sie nämlich noch existiert, die Jugoslawische Volksarmee!  wir haben unsere eigene Zeit und die heißt siegen!“

Auch Zoli und Jenő hatten sich bereits von diesem „Befehl ist Befehl“ anstecken lassen und erschlugen eines Nachts während ihres Wachdienstes einen Hund, denn sie waren angewiesen, niemanden durchzulassen. Beide wussten, das ist der Anfang vom Ende und schämten sich. Jenő erklärte, dass dieser Krieg die Fortsetzung des Ersten Weltkrieges sei – und dass die Mütter ihren Kindern zwischen den Kinderliedern Kriegslieder ins Hirn säten. Darum würde es nie ein Ende geben. Er wusste, dass es bald gegen Vukovar gehen würde, wo seine Verwandten und Freunde lebten, dass es kein Ausweichen geben und dass sie sich gegenseitig abschlachten würden.

Eine weitere Schikane: Zoli sollte für die ganze Kompanie in einer Nacht 756 Pfannkuchen backen. In seiner Müdigkeit und Angst sah er aus allen vorbereiteten Pfannkuchenkugeln echte Kugeln werden – Pfannkuchen-Kugel-Geschoße! Er sah die ganze Kompanie vor sich – 756 Namen, die verschwanden – alle gleich und doch voneinander getrennt – ausgelöscht von Kugeln –. Wenn Jenő ihm nicht heimlich geholfen hätte!

Die Situation spitzte sich immer mehr zu. Mit 24 weiteren Rekruten mussten sie einen Marsch antreten, sollten dabei einen neuen Rekord aufstellen. Bald schon konnte Jenő nicht mehr und wurde an Zolis Rucksack festgebunden, der ihn hinter sich herzog. Mehrmals baten sie, Jenő ausruhen zu lassen, doch der Leutnant befahl den Weitermarsch. Bis Jenő buchstäblich umfiel und kurz darauf starb: Frigyes Jenő – 22 Jahre alt -. Der Kommandant hatte Zoli noch eingeschärft, er habe die Verantwortung für seinen Kameraden. Wie kann man Verantwortung haben, wenn es keinen Ausweg außer dem Befehl des Marschierens gibt? Zoli wird sich später Vorwürfe machen, dass er nicht einfach stehen geblieben war. Er fühlte sich schuldig am Tod des Freundes. Zunächst aber rastete er aus, schlug auf den Leutnant, auf den Kommandanten ein, „verwünscht alle Dekorierten in einem langen Fluch“ – und musste doch weitermarschieren. Danach erhielt er selbstverständlich Arrest, wurde mit einem Trichter zwangsernährt, weil er vor Kummer nicht mehr essen konnte und wurde schließlich gebrochen ins Militärkrankenhaus eingeliefert.

Niemand mehr besuchte die Familie – mit einem Idioten als Sohn. Niemand sagte es, doch er wusste es. Inzwischen war er wieder zu Hause, sprach nicht, kritzelte in sein Rätselheft, „ich bin ich ohne Zoli“ – zog sich in seinen Panzer zurück. Ein Amt hatte geschrieben, dass er nicht bei der Arbeit arbeitsunfähig geworden sei – und ihm deshalb keine Invalidenrente zustünde.

In Serbien angekommen, wird Anna immer wieder von Angst und Panikattacken überfallen. Dagegen hilft Xanax, ein Psychopharmakon, von dem sie immer häufiger ein Stückchen abbeißen muss, um sich zu beruhigen. Der Zutritt zur Kaserne von Zrenjanjin, wo Zolis Sterben begonnen hatte, wird ihr als Frau verwehrt. Später fragt sie Zolis Mutter, warum sie den Jungen zum Militär gelassen hätten. Doch diese antwortet, hier würde der Lauf der Welt regieren. Aus Zoli hätte was werden können – aber der Lauf der Welt habe das nicht vorgesehen. „ Zoli hätte wenigstens in Uniform sterben können, im Einsatz. – Dann hätte es eine echte Zeremonie gegeben,  – Kränze hätte es gegeben, zuhauf, auf seinem Sarg. Und die Militärkapelle spielt einen Trauermarsch. – Achttausend Granaten täglich, das gab’s in Vukovar! Und keinen einzigen Helden!“

Als sie zu seinem Grab geht, bemerkt sie, dass ein Kreuzweg daran vorbei führt. Sie wählt eine Gladiole aus dem Strauß und schreibt mit dem Stiel auf den Boden, sieht zu, wie die Buchstaben einsickern, die feuchte Erde beleben. „Das Geschriebene – ein Rinnsal Sinn.“

Zoli ist „der reine Tor“, der kindlich und unverstellt die Welt mit seinen blauen Augen anschaut. Er bringt es auf den Punkt, wenn er direkt und undiplomatisch Wahrheiten ausspricht, die auf der Hand liegen, jedoch nicht gesehen werden sollen.

Anna hat wohl einige Züge der Autorin. Zumindest hat sie die gleiche Heimat in Serbien und das gleiche neue Zuhause in Zürich.

Während ich das Buch über eine grausame Vergangenheit lese, holt mich die ebenso grausame Gegenwart ein: Unsere eigenen Soldaten werden oft genug ebenso unerbittlich zu Gewaltmärschen getrieben, bis einige zusammenbrechen. Auch hier – in unserer Demokratie – wird Härte mit Schikane verwechselt. Und noch viel erschreckender der gegenwärtige Krieg in Syrien: Auch hier vor wenigen Tagen das Urteil über Ost-Ghuta, wie vor dem Gemetzel in Vukovar: Auch Zivileinrichtungen sollen so lange bombardiert werden, bis sich die Rebellen ergeben.

Nadj Abonjis Roman wühlt auf und macht betroffen. Der Leser ist mittendrin – gebannt nicht nur vom Text, sondern auch von der Schönheit und Unverwechselbarkeit der Sprache. Der Roman zeigt das überhebliche Verhalten des „normalen“ Menschen einem scheinbar „Zurückgebliebenen“ gegenüber und ist gleichzeitig ein eindringlicher Appell, sich sinnlosen Schlagworten und Befehlen zu verweigern; das Töten verweigern, dem Krieg entgegensteuern – notfalls mit Fantasie, Glauben und Vertrauen. Sich noch etwas wünschen können, wie Zoli es sich wünschte: Himmel, Sonne, Garten, Pflanzen und Tiere – das Glück. Ein besitzloses Wünschen, das seinen Eltern und seiner ganzen Umwelt schon seit Langem abhanden gekommen war.

 

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