Rezension: Bartis, Attila – „Das Ende“

Roman
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora
Verlag
Suhrkamp Berlin, 2017
ISBN: 978-3-518-42763-7
Originaltitel: A vége, 2015
Bezug: Buchhandel, Preis: 32,00 Euro

von Gudrun Brzoska

Gleich die ersten Sätze des Romans sagen viel über den Erzähler: „Mein Name ist András Szabad, zweiundfünfzig Jahre alt, Fotograf. Ziemlich bekannt. Genauer gesagt, sehr. Ich flog nach Stockholm, um mich untersuchen zu lassen. Seit zwei Jahren mache ich keine Fotos mehr. Seitdem Éva gestorben ist.  Zu Beginn möchte ich noch klarstellen, dass ich nicht an Gott glaube.  Das sagt natürlich nicht etwas über Gott, sondern über mich.  Trotzdem muss ich anerkennen, dass es in der Welt doch so etwas wie Vorsehung gibt.

Freund Kornél rät ihm, die Geschichte seines Lebens aufzuschreiben. Dann würde er Klarheit über sich selbst finden.

Attila Bartis hat einen Roman geschrieben, in dem sicher auch autobiografische Erfahrungen mit eingeflossen sind, vor allem was die Düsternis der Kádár-Ära betrifft und mehr noch seine eigene Einstellung zur Kunst der Fotografie, da der Autor selbst ein bekannter Fotograf ist. Trotzdem ist es kein autobiografischer Roman. András Szabad ist so etwas wie der Prototyp des Ungarn, dessen Familie zwei Weltkriege mitgemacht hat mit allen geschichtlichen Verwerfungen: Trianon, Räterepublik, endgültige Abtrennung großer Teile Ungarns vom Mutterland, kommunistische Machtergreifung, Revolution 1956, die Vergeltung, die graue Kádár-Diktatur, die sich wie Mehltau über das Land legte und das Leben in Ungarn lähmte, der innere Kampf, sich eine gewisse Freiheit zu erhalten (was schon der sprechende Name Szabad = Freiheit andeutet) und dann – mit Kádárs Tod – der Systemwechsel 1989. „Sie (die Familiengeschichte) ist bei all ihrer Individualität quasi der Prototyp der ungarischen Familiengeschichte. Wenn nicht der mitteleuropäischen, nichtjüdischen Familiengeschichte aus der Mittelklasse. Im Übrigen sind meiner Meinung nach auch die jüdischen Familiengeschichten ähnlich.“

Der Roman ist nicht chronologisch aufgebaut; denn der erwachsene Mann erinnert sich seiner Kindheit, wie wenn er ein Foto in die Hand nähme. Und trotzdem erzählt er mit Unterbrechungen seine Geschichte und die seiner Familie fort. Im Laufe der kleinen Einzelerzählungen wird klar, dass es Parallelen gibt zwischen Ereignissen aus der Vergangenheit und der Gegenwart. Die Historie läuft anhand von Erzählungen und Familienschicksalen im Hintergrund mit.

Der wirklich tiefe Einschnitt, der ins Leben des Erzählers eingreift, geschieht 1956, als das Volk gegen die kommunistische Herrschaft revoltiert. Auch „Meinvaterandrásszabad“ beteiligt sich am Aufstand. Ausgerechnet auf einem Foto einer englischen Zeitung wird er erkannt, verhaftet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Der junge András erlebt, wie sie seinen Vater abholen. Vorausahnend sieht er bereits, wie sein Vater zurückkehren wird: gebrochen, ein Schatten. In der Nacht bevor der Vater entlassen wird, stirbt seine Mutter. Ihren Tod – für den er im Stillen seinen Vater verantwortlich macht – wird er ihm nie wirklich verzeihen können. Glück und Gelöstheit kann er seitdem lange nicht mehr empfinden.

Vater und Sohn ziehen aus der Provinz nach Budapest und leben dort zurückgezogen und ärmlich in einer Zweizimmerwohnung. Beide können nicht zueinander kommen, obwohl der Leser die gegenseitige Liebe und Fürsorge spürt. Doch Sprachlosigkeit, Missverständnisse und Stolz, alles ohne Hilfe bewältigen zu können, werden die Beiden bis zum Tod des Vaters trennen.

Wie nachträglich in eine Tagebuchaufzeichnung eingefügt, sind über die kurzen und kürzesten Kapitel Überschriften in Klammern gesetzt. Sie sind wie Spots auf eine kleinere oder größere Szene gerichtet, gerade so, als würde der Erzähler mit seinem Fotoapparat den Moment des Geschehens festhalten. Die Sprache ist nüchtern und prägnant, die Dialoge zunächst etwas gewöhnungsbedürftig, da ohne Anfangs- und Endzeichen, dann aber köstlich zu lesen. Da fehlt es nicht an Humor und feiner Ironie.

Außer dem Erzähler und Éva gibt es einige heimliche Protagonisten im Roman: Immer wieder ist die Rede von einem Hund, z.B. der Hündin Laika, die vor Gagarin ins All geschickt wurde. Er symbolisiert Ausgeliefertsein, Einsamkeit, Unverständnis und Verwunderung über das, was ihm abverlangt wird.

Ein weiterer Hauptdarsteller ist der Kosmonaut Gagarin. Er, der 1961 als erster Mensch ins Weltall flog, verkörpert die Sehnsucht nach Freiheit. Er hatte die Möglichkeit – wenn auch nur für kurze Zeit und eingeschränkt – davon zu fliegen. Doch auch diese Freiheit wurde von Zumutungen eingeschränkt: Die sowjetische Bodenstation wies Gagarin an, was er sehen durfte und was nicht: Gott z.B., durfte er nicht sehen, nur die wunderschöne Erde. Der Erzähler hatte es an sich selbst erlebt: „Die Macht zerstört dich jederzeit für dasselbe, zu dem sie dich gestern noch selbst verpflichtet hat. Und dabei erklärt sie dir klar und verständlich, wieso sie gestern keine andere Wahl hatte und wieso sie heute keine hat.  

Der fast wichtigste Protagonist ist natürlich der Fotoapparat, durch den András das ganze Leben um sich herum – und dadurch sein eigenes – wahrnimmt. Am ersten Weihnachtsfest in Budapest schenkt ihm der Vater eine Zorki, Jahre später dann eine Leica. András lernt die Kunst des Fotografierens, wird zum Fotografen, ja zum international bekannten Künstler. An diesem Faden führt Bartis den Leser durch das ganze Buch. Der Fotoapparat ist immer da: wenn Éva in sein Leben kommt, der Vater stirbt, oder Éva aus seinem Leben entschwindet. Ja, sogar die tote Mutter hatte er fotografiert, ohne zu wissen, dass kein Film im Apparat war. Man könnte sagen, dass die Kunst der Fotografie die einzige und ewige Liebe András‘ ist, die ihn nie verlässt, ihn nicht enttäuscht. Er blickt auf Menschen und Szenen durch seinen Sucher, belichtet, stellt ein – und knipst.

Bereits mit zwölf Jahren wusste er genau, was auf einem Bild zu sehen sein muss, hatte die Anordnung der Szene im Kopf, noch ehe er je ein wirkliches Foto gemacht hatte. Auf diese Weise entstehen über Jahre hunderte von Fotos in seinem Kopf, die er penibel in ein Heft notiert. Als sein Vater ihn bittet, vor einer drohenden Hausdurchsuchung diese Bildbeschreibungen zu vernichten, verbrennt er die Hefte: „Ich empfand nichts. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich keine Scham, keine Freude, keine Angst, keinen Schmerz in mir. Dieses Gefühl des Nichts war so stark, dass ich mir plötzlich sicher war, eigentlich bin das ich.  Dann ging ich in mein Zimmer und dieses Nichts kam mit mir.“ Viele Jahre später, als er sämtliche Negative seiner Geliebten Éva vernichtet, wird er dasselbe Gefühl haben, ein Nichts, das ihn ausfüllt.

Aus der Perspektive des Fotografen András spielen Frauen eine große Rolle in seinem Leben: Die erste ist die Nachbarin Imolka, die er mit zwölf Jahren heimlich ausspäht, später eine Lehrerin, an die er seine Unschuld verliert, dann eine Frau, die vom Alter her seine Mutter hätte sein können. In sie verliebt er sich heftig, bis ihm aufgeht, dass ihre angebliche Fürsorge nur ihr selbst gilt. Erst nach diesen Erfahrungen, die hauptsächlich von Sex und weniger von Erotik geprägt sind, ist er reif für eine langfristige Liebesbeziehung mit der Pianistin Éva Zárai.

Der zweite Teil des Romans – der Vater ist bereits an Krebs gestorben – kreist mit Rückblenden in seine eigene Geschichte – hauptsächlich um Éva. Ihr erzählt er seine Kindheit und Jugend.

Er hatte die Frau eines Nachts im Park gesehen, als sie an ein Gebäude gelehnt mit jemandem Liebe machte. Sie sieht ihn an, sieht ihm in die Augen – er macht ein Bild. Schon kurz darauf werden sie ein Paar. Er ist 25 Jahre alt und inzwischen bei einem Passfotografen angestellt. Reisz macht ihm klar, dass es keine Gottlosigkeit ist, von anderen ein Foto zu machen, dass es keinen Grund gibt, sich zu schämen. András hatte es bis dahin immer als Sünde empfunden, in die ungeschützte Sphäre jemandes einzudringen, in dem Moment, wenn er gerade knipste, um den Augenblick für alle Ewigkeit festzuhalten, solange das Foto besteht. – „Im Grunde hat mich immer nur interessiert, ob eine Fotografie das Gefühl wieder hervorrufen konnte, das ich in dem Moment hatte, als ich den Auslöser drückte.“

So scheinbar offen András Éva von seinem Leben erzählt, so zurückhaltend gibt sich die Frau, wenn er etwas über sie erfahren möchte. Misstrauen untergräbt die Beziehung, er fühlt sich belogen, glaubt, nur die unbedingte Wahrheit müsse das Gebot in der Liebe sein. Erst Jahre später erfährt er, warum sie aus Scham lieber log, als ihm die Wahrheit darüber zu gestehen. Doch da ist Éva bereits tot.

Sie hatte ihn ermuntert, seine Bilder auf Ausstellungen zu zeigen, doch er wagt es nicht, was sie ärgert. Gern hätte er Éva geheiratet, sieht sie als seine Frau – und hätte auch gern ein Kind mit ihr, doch jedes Mal wenn die Rede darauf kommt, wird Éva zornig und zieht sich zurück. Eines Abends eröffnet sie ihm, dass sie ein Visum erhalten habe und am nächsten Tag für immer nach Amerika reise. Erst später bemerkt er, dass sie nicht nur einige Fotos, sondern viele Negative mitgenommen hatte. Damit ermöglicht sie ihm ein Jahr später in einer bedeutenden Galerie in New York auszustellen. Der Grundstein zu seiner Berühmtheit ist gelegt. Ein letztes Mal ist er mit ihr zusammen. Vom glitzernden Amerika sieht er kaum etwas und fühlt sich ganz als der „unbedarfte Ostblockler“, der nicht englisch kann, den Lift nicht benutzt, weil er kein Kleingeld für den Liftboy hat: „Noch nie hatte ich mich so geplündert, so ausgeliefert gefühlt. Mich schön leise bedanken zu müssen für all das, wegen dem ich brüllen könnte. Für das Hotel, für die tausend Dollar, die sie mir (als Vorschuss) in die Hand drückten.“

Zurück in Ungarn wird er dort kaum bekannt. Nur so viel, wie es gut für ihn ist. „Ich bin hiergeblieben, weil ich so meine Freiheit bewahren konnte. Noch dazu, ohne Passbilder machen zu müssen. Wenn ich drübengeblieben wäre, wäre ich vom ersten Moment an dazu gezwungen gewesen, beinahe jede sich bietende Gelegenheit zu ergreifen. Mitzumachen. meine von drüben herstammende Freiheit hatte mir hier zu Hause ausgerechnet der Eiserne Vorhang bewahrt.“ Das sagt er, obwohl er nach wie vor Sorge hat, als Agent angeworben zu werden.

Am 5. Juli 1989 stirbt Kádár. András ist 46 Jahre alt. Er rechnet den Systemwechsel ab jenem Tag. „Ich glaube, ich war in jenen Monaten genauso euphorisch wie fast alle.“

Siebzehn Jahre, nachdem er mit Éva zum letzten Mal zusammen war, trifft er zufällig eine ihrer ehemaligen Freundinnen, die ihm erzählt, dass Éva bei einem Unfall, den ihr Bruder willentlich verursacht hatte, gestorben ist. András will nun mit allem abschließen. Nach dem Tod seiner Mutter hatte er seine ganze Hoffnung in Éva gesetzt. Jetzt, da sie tot ist, gibt es niemanden mehr, in den er seine Hoffnung setzen konnte. Für ihn ist das jetzt das Ende, in jeder Beziehung. Während einer feierlichen Ausstellung bestrahlt er alle Negative, die er von Éva gemacht hatte, mit gleißendem Licht, bis sie schwarz werden.

Damit schließt sich der Kreis – fast. In einem großartiges Schlussbild leuchtet nochmal das ganze Leben des András Szabad und seiner Familie auf: Die kurze erste Ehe seiner Mutter, ausgerechnet mit jenem Mann, dem er – mit der Unterschrift seines Vaters unter einen Agentenvertrag – es zu verdanken hatte, dass er den Militärdienst nicht antreten musste. Nichts war so, wie es schien.

Danach sehen wir András, wie er sich anschickt, nach Stockholm zu fliegen, Ende Oktober, um sich Klarheit über seinen Befund zu holen.

In der nächsten Szene ist es bereits Weihnachten. Er erwartet seine Tochter, die kurz vorher Kontakt zu ihm aufgenommen hatte. Sie (Éva) hatte ihr den Namen von András Mutter, Anna, gegeben. András resümiert: „Es gibt fast niemanden mehr. Weder meine Mutter noch meinen Vater. Noch János Kádár. Noch Éva. Und dennoch ist alles fast genauso, wie es war. Einmal glatt, einmal verkehrt, einmal glatt. Es war ein wenig seltsam, aber ich glaube, das ist einfach so.

Ich bin glücklich. Mehr als das konnte nicht passieren.“

Das Ende – ein Roman über das Ende der Diktatur in Ungarn? –das Ende der Traumata vergangener Epochen? – das Ende einer Liebe? – das Ende einer Obsession, nämlich des Fotografierens? All dies ist in Attila Bartis‘ neuem Roman enthalten, erschienen 14 Jahre nach seinem letzten, Die Ruhe. Diese Aspekte, miteinander verwoben durch viele kleine Einzelerzählungen machen das besondere Leseerlebnis aus. Das Ende kann aber auch der Anfang für ein Neues sein. Und mit diesem tröstlichen Ausblick entlässt Bartis den aufmerksamen Leser ganz am „Ende“. Es ist ein ganz anderer Ausgang als der von vielen seiner ungarischen Schriftstellerkollegen, welche die Traumata der Vergangenheit mit hinein in eine weitere trostlose Zukunft nehmen.

Das Ende ist ein großartiges Buch, welches ich mit viel Anteilnahme gleich zweimal gelesen habe. Ein großartiges Buch und eine großartige Übersetzung von Terézia Mora, die sehr feinfühlig den Regungen des sensiblen Fotografen und Erzählers nachspürt. Hoffentlich müssen wir Leser nicht wieder 14 Jahre auf den nächsten Roman von Attila Bartis warten. Auch in Ungarn wurde das Buch von den meisten Kritikern geradezu enthusiastisch aufgenommen.

 

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