Rezension: Kristóf, Ágota – „Irgendwo“

Nouvelles
Aus dem Französischen von Carina von Enzenberg
Verlag : Piper München, 2015
ISBN: 978-3-492-30938-7
Originaltitel: C’est égal
Bezug: Buchhandel; Preis: 9,99 €

Nahezu unbemerkt startete der Piperverlag 2015 eine Neuauflage der Novellensammlung „Irgendwo“, als Taschenbuchauflage. Etwas mehr Beachtung fand die Hörbuchversion, die im gleichen Jahr herauskam und zu den besten Hörbüchern des Jahres 2015 gezählt wurde. Dabei können wir Leser uns nur freuen, wenn das großartige Werk der Ungarin Agota Kristof, die 2011 verstarb, nach und nach neu aufgelegt wird. Ein Wermutstropfen ist jedoch dabei, der hier angemerkt werden muss: Wie bereits in der ersten deutschsprachigen Ausgabe, hat der Piper Verlag auch diesmal weder ein Inhaltsverzeichnis dazu gefügt, noch einen Begleittext, der dem Leser die enge Verknüpfung von Ágota Kristófs tragischem, einsamen Leben und den hier versammelten Novellen aufzeigt.
Nein, das sind keine aufbauenden Geschichten, die wir da zu lesen bekommen, keine Gedanken, die in unsere Zeit passen wollen, in der Wohlfühl- und Kuschelträume das Lebensgefühl ausmachen. Ágota Kristóf konfrontiert uns dagegen mit dem wirklichen Leben, das von Heimatlosigkeit, Ausgrenzung und Einsamkeit erzählt, von Grausamkeit, Hass und fehlendem Mitleid, von der Angst vor dem Sterben, aber auch von der Sehnsucht nach dem Tod.
Es scheinen Texte aus verschiedenen Epochen ihrer schriftstellerischen Tätigkeit zu sein – aus der Zeit vor ihren großen Romanen – 25 kurze bis kürzeste Geschichten, die verlorenem Glück nachtrauern, Glück, das in Heimat bestand und unwiderruflich verloren ist. Resignation und Stillstand treten an seine Stelle.
Allen Erzählungen gemeinsam ist die knappe, lakonische Sprache: Ágota Kristóf musste nach ihrer Flucht 1956 in der französischen Schweiz eine neue Sprache lernen, wie sie in ihrem autobiografischen Buch „Die Analphabetin“ erzählt. Nicht nur die Heimat musste sie aufgegeben; auch fürs Schreiben hat Kristof alles aufgegeben, Freunde, Geselligkeit, ihre Muttersprache – und wie aus Trotz schreibt sie alle ihre Romane und Geschichten auf Französisch – mit dem Wörterbuch in der Hand – kurz, prägnant, lakonisch. Von der Farbigkeit ihrer Muttersprache bleiben nur Landschaft und Erinnerung. In einem Interview sagte sie : „Wie wäre mein Leben gewesen, wenn ich mein Land nicht verlassen hätte? Härter, ärmer, denke ich, aber auch weniger einsam, weniger zerrrissen, vielleicht glücklich“.
„Irgendwo“ ist nirgendwo. Dazu braucht es keine Ortsangaben. Irgendwo kann auch ein Ort in sich selbst sein. Irgendwo ist das Exil, das Fremdsein, die Suche nach der Identität. „Irgendwo“ ist auch der Ort zum Sterben: „Zu Hause angekommen, werde ich müde sein, ich werde mich aufs Bett legen, auf irgendein Bett, die Vorhänge werden wehen, wie die Wolken dahinwehen. So wird die Zeit vergehen. Und unter meinen Lidern werden die Bilder dieses bösen Traums, der mein Leben war, vorbeiziehen. …“.
Die meisten Geschichten sind unsäglich traurig; selbst im Tod scheint Erlösung nicht möglich, wie die Erzählung „Der Kanal“ andeutet. Oder auch voller Gewalt und Gleichgültigkeit, wie in der ersten Geschichte: Darin befreit sich eine Frau – lebenslanges Opfer – vom Trauma ihres Lebens, indem sie ihren Mann ermordet. So gefühllos war sie geworden im Laufe ihrer Ehe, dass sie diesen Mord einfach ausblendet und sich nur noch erleichtert fühlt.
Die Figuren wissen um ihr Abgestorbensein, wie in der Geschichte „Ein Zug nach Norden“, in dem ein Mann versteinert, als er seinen Hund, den er zurücklassen müsste, ein letztes Mal umarmt. Er ist nicht abgefahren. Seither wartet er erstarrt auf den Zug, der nicht mehr fährt, um seine Eltern, um seine Familie wieder zu sehen. Doch „Niemand wartet auf mich …“. In der Geschichte „Das Haus“, liebt ein kleiner Junge sein Haus über alles. Er muss es verlassen. Als reicher Mann lässt er das Haus in der Fremde nachbauen, doch es ist nicht sein Haus. Er kehrt zurück – und findet – sich selbst als Kind wieder.
Surrealistisch und böse ist die Erzählung „Die Lehrer“, und ironisch-autobiografisch „Der Schriftsteller“: „Ich bin ein großer Schriftsteller. Das weiß noch niemand, weil ich noch nichts geschrieben habe“.
Die „Nouvelles“ werden heute vielleicht wieder besser verstanden als 2007; heute, 2016, wenn so viele Flüchtlinge und Heimatlose unterwegs sind mit geplatzten Träumen und aufgegebenen Hoffnungen.
„C’est égal“ heißt das Buch im Original. „Alles egal“ – „Egal“, wie eine der Kurzgeschichten übertitelt ist: „…Wohin gehst du? – Nirgendwohin. Oder vielleicht gehe ich doch irgendwohin. – Egal, man fühlt sich sowieso nirgends wohl“.
Der Briefkasten ist immer leer. Die Gedanken des Mannes, der im Waisenhaus aufgewachsen ist, kreisen ständig um einen möglichen Brief seiner nie gekannten Mutter, oder seines unbekannten Vaters. Was würden sie schreiben? Er sieht sich als Held, der ihnen Gutes tun würde. Als eines Tages doch ein Brief im Kasten liegt, nimmt der Mann Reißaus. Viele Länder will er zwischen sich und den Briefschreiber legen, der behauptet, sein Vater zu sein.
Immer wieder spricht die Autorin von einer Stadt, einem Haus, von Straßen der Kindheit, die verloren sind. In der letzten Geschichte ist ein Vater gestorben. Der Bequemlichkeit halber hat man ihn eingeäschert, obwohl er in seinem Heimatdorf hatte begraben werden wollen. So sehr hatte sie sich gewünscht mit dem Vater an der Hand spazieren zu gehen. Aber: „Nirgends ist mein Vater mit mir Hand in Hand spazierengegangen“.

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