Rezension: Szilasi, László – „Die dritte Brücke“

Die dritte Brücke
(Private Aufzeichnungen zum Tod von Péter Foghorn)
Roman
Aus dem Ungarischen von Eva Zádor
Verlag: Nischen Wien, 2015
ISBN: 978-3-9503906-1-2
Originaltitel: A harmadik híd
Bezug: Buchhandel, Preis: 22,00 Euro

László Szilasi nimmt uns in seinem neuen Roman mit in die Welt der Obdachlosen in Szeged. Die Rahmenerzählung bildet ein Klassentreffen dort, nach 30 Jahren. Betroffen nehmen die ehemaligen Schulkameraden zur Kenntnis, dass einer ihrer Mitschüler, Péter Foghorn, bereits verstorben ist. „Daraus ergab sich natürlich, dass jeder versuchte, all das zu erzählen, was er von den letzten Jahren und den Umständen seines Todes mit Sicherheit wusste. Und selbstverständlich noch ein bisschen mehr“. Auch manch kleine Affäre aus der Schulzeit wird durchgehechelt, „Heldentaten“ und geplatzte Träume. Im Großen und Ganzen nimmt das Wiedersehn jedoch einen feucht-fröhlichen Verlauf.
Nur zwei Schulkameraden, frühere Freunde, dessen dritter im Bunde jener Péter Foghorn war, sondern sich ab: der damals engste Freund, Ferenc Nosztávszky, genannt Noszta und der Erzähler, Dénes Sugár. In dieser Nacht erzählt Noszta was mit Péter „wirklich“ los war: Er selbst war 1987 nach Kanada emigriert und schildert seine guten Jahre dort, seine Ehe – und seinen Absturz nach der Scheidung 2009. Er begann zu trinken, verlor seine Stelle und flog schließlich mit seinen letzten Ersparnissen in die Heimat zurück. Er sah sich als Verlierer und wollte als solcher nicht zu seinen Eltern zurück kehren. Gleichzeitig war ihm klar, dass er in seinem abgerissenen Aufzug keine Arbeit finden würde. Schon nach kurzer Zeit landete er auf der Straße in Szeged. Der Gedanke an Selbstmord kam ihm allerdings nie, denn er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, seine bloße Existenz zu erhalten.
Eines Tages, im sehr kalten Winter 2010, sah er einen Geiger am Denkmal des Dichters Attila József stehen. Es war Foghorn. Auch er hatte Noszta sofort erkannt und weihte ihn in die Geheimnisse des Lebens auf der Straße ein. Eine Reihe von Kumpels besorgten ihm Kleidung, gingen mit ihm zur Tafel der Franziskaner, zur medizinischen Versorgung der Malteser und zur Übernachtung im Obdachlosenwohnheim. Foghorn war der unangefochtene Anführer, „Roboter“ sein neuer Name. Noszta beschreibt die Helfer, die anderen Bettler, meist Alkoholiker, ihre Schicksale und wie es soweit kommen konnte, dass sie auf der Straße landeten. Eigentlich hassten sie einander, diese Männer, die sich nur mit ihren Spitznamen anredeten, sich oft wegen Kleinigkeiten prügelten – doch irgendwie hielt sie das auch zusammen. Vor allem schätzten alle Roboter. Einige Männer waren Foghorn sicherlich auf vielfältige Weise überlegen, aber all das war nebensächlich: „Die Führungsrolle Foghorns beruhte einerseits … auf seiner in einzigartiger Weise zuverlässigen Fähigkeit, Geld zu beschaffen … Allerdings glaubte er fest daran, dass er auf die kleinste Aggression sofort mit der brutalsten physischen Reaktion, …, antworten musste. … Andererseits beruhte die Führungsrolle Foghorns, … darauf, dass er in der Lage war, eine zielgerichtete, zusammenhängende … sinnvolle Tagesordnung aufzubauen. Das Ziel war, unter den gegebenen Umständen auf möglichst angenehme Weise am Leben zu bleiben“.
Eigentlich beschreibt Noszta nur einen einzigen Tag im Januar 2010, ergänzt mit allen vorangegangenen – und daran anschließenden Geschichten. Dazwischen erzählt er vom Leben der acht Obdachlosen, die Foghorn, der Roboter, anführt: Von Engels und Mars, vom Zigeuner Angel und der alten Droll, von Roboter und seiner Freundin Anna, von Fondue und ihm selbst, dem Neuen. Er erzählt von ihrem Kampf um die kleine menschliche Würde, die ihnen noch geblieben war. Noszta beobachtete die Menschen, wie sie geschäftig an ihnen vorbei liefen, ihre vergeudete Zeit – und so sahen es die Obdachlosen – ihr sinnloses Leben – dem sie nachgingen. Diese Bürger bräuchten sie, die Verlierer, um sich sagen zu können, ich lebe nicht falsch, ich habe Familie, lebe in geordneten Verhältnissen. Natürlich lügen sie sich alle etwas vor: Diejenigen, die trotzig darauf beharrten, das Leben auf der Straße vorzuziehen, wie auch die Gegenseite, die bürgerliche Gesellschaft, die glaubt das könne ihr nie passieren. Noszta führt uns auf einem langsamen, aber unaufhaltsamen Zug durch Szeged, vom Quartier am Fluss über Straßen und Plätze, wo es für sie etwas zu essen und zu trinken gibt, wo sie versorgt werden und wo sie schließlich schlafen können. Nur nicht stehenbleiben, nur nicht den Anschein der Sesshaftigkeit erwecken: „Es war ein Sisyphosleben. Die Steine, die wir waren, rollten ständig zurück. … Sie (die Helfer) retteten unser Leben an dem Tag. Am nächsten erneut. Und dann wieder. Dabei legten sie uns beiseite, um uns immer wieder neu retten zu können“. Wenn man Szeged ein bisschen kennt, ist das ein Wiedersehn mit der Stadt – aus einem ganz anderen Blickwinkel.
Wir erfahren nicht, warum Foghorn 2001 als Obdachloser gelandet war. Von sich selbst erzählte er nie. Jedoch, die Eltern der Gescheiterten waren alle bürgerliche Existenzen gewesen, waren selbst gescheitert – und mit ihnen ihre Familien.
Eines Tages wurde Roboters Freundin Anna ermordet. Wir kennen den Mörder, es ist Barták vom Rathaus, die graue Eminenz der Stadt, einer der wenigen, der den Einsturz der „Dritten Brücke“ überlebt hatte, die dritte Brücke, über welche die Gesellschaft im Gleichschritt marschierte bis sie zu schwingen begann und einstürzte. Sie ist Sinnbild dafür, wie die Welt aus den Fugen gerät, wenn – ohne Überlegung – jedermann im befohlenen Gleichschritt marschiert. Die bald wieder aufgebaute neu-alte Brücke verbindet die Ufer der Theiss – und das alte Leben mit dem neuen.
Später geschah noch ein Mord, doch davon soll hier nicht die Rede sein. Noszta erzählt seine Wirklichkeit, sein idealistisches, romantisiertes Bild von der Straße und von Roboters Führerqualitäten. Ihm war es gelungen, mit einem genau durchdachten Tagesablauf dem Leben der Acht einen Sinn zu geben. Doch auch Roboter zog sich, zutiefst verletzt nach dem Tod seiner Freundin zurück, auch er vergammelte zeitweise. Allmählich zerfiel die Gruppe, sie brachte keine gegenseitige Empathie mehr auf.
Roboters Wieder-Auftauchen hat fast religiöse Züge. Ein Vergleich mit dem letzten Abendmahl Jesu drängt sich auf: Er schickte um Essen, bezahlte großzügig, gab für seine Bande ein Festmahl; er selbst aß nichts, aber „seine Augen lachten“. Hierbei weihte er zum ersten und einzigen Mal seinen Freund Noszta in verschiedene Geschichten und Umstände ein, hinterließ ihm sein Vermächtnis. Für Noszta war es das letzte Mal, als er ihn sah: „Als er sich aufmachte, ging er, um zu sterben.“ Er konnte sich nur von der dritten Brücke in die Theiss gestürzt haben! Das ist Nosztas Wahrheit und Wirklichkeit. Er ist überzeugt, wenn Foghorn ihn „nicht mit seinem Vertrauen ausgezeichnet hätte, dann wäre ich heute ganz bestimmt nicht hier mit dir. Er hat mir damit Kraft gegeben, über seinen Tod hinaus, dass er damals mich ausgewählt hat.“
Im letzten Kapitel kommt der ehemalige Migrant zu Wort, der Kriminalinspektor, der früher in Deutschland tätig gewesen war. Nach der Wende kam er auf Wunsch der ungarischen Polizeibehörde zurück, um bei verschiedenen Ermittlungen zu helfen. Gegen allen Widerstand blieb er der Einzige, der den ungelösten Mordfall klären wollte. Er ist unser Erzähler, in ihm verbindet sich die Stimme des Autors mit der des Ermittlers. Beide haben lange zum Leben der Obdachlosen recherchiert. Seine Gedanken über die Obdachlosen sind sehr nüchtern. „Ich weiß, es gibt solche, die von vornherein für die Straße geboren werden. Er kommt zur Erkenntnis, dass die meisten dieser Obdachlosen aus der Welt des Sozialismus nach der Wende nicht lernen konnten, mit dieser total neuen Welt umzugehen: „Sie waren auf diese andere Welt einfach nicht vorbereitet, und diese andere Welt nicht auf sie“. Es ist fast unmöglich, sie wieder in die andere Welt hinüber zu holen. Man darf es erst gar nicht so weit kommen lassen, dass sie in jene Parallelwelt hinab sinken.
Hier nimmt die Erzählung nun eine ganz neue, überraschende und hochspannende Wendung.
Nur soviel sei verraten: mindestens zwei aus der Gruppe haben es wider Erwarten geschafft, ins bürgerliche Leben zurückzufinden: Angel, der seinen Traum wahrmachen konnte, in einem entvölkerten Dorf ein neues Leben aufzubauen, und Noszta, der seinen Stolz überwinden und nach vielen Irrungen wieder zu seinen Eltern zurück kehren konnte.
Szilasi hat in diesem Roman ein Kapitel aufgeschlagen, das nur selten angerührt wird: Das Leben von Obdachlosen, beobachtet ohne jedes falsche Pathos, aber mit Empathie. Er gibt keine Rezepte; es ist ihr Leben, das sie gewählt haben – aber besser wäre es, sie würden erst gar nicht so weit kommen.
Es ist schade und unverständlich, dass in Deutschland dieser wichtige Roman, der gesellschaftliche Zustände aufgreift, bisher von der Kritik überhaupt nicht beachtet wurde. In Ungarn war er Thema in allen wichtigen Literaturzeitschriften. Daher ist dem Nischen-Verlag nicht genug zu danken, dass er uns immer wieder – in Deutschland – noch unbekannte Literatur vorstellt, in ausgezeichneter Übersetzung.
Von der einstigen Begeisterung für das „Literaturwunderland Ungarn“ ist nämlich hier in den Feuilletons nicht mehr viel zu spüren; es wird viel weniger rezensiert. Dabei ist die junge, zeitgenössische Literatur aus Ungarn sehr spannend und allemal eine Beschäftigung wert; etliche junge Schriftsteller und Schriftstellerinnen hätten uns Interessantes und Neues über die Befindlichkeiten im heutigen Ungarn zu berichten – doch sie werden kaum wahrgenommen. Man kann nur hoffen, dass auch Szilasis erster Roman in absehbarer Zeit ins Deutsche übersetzt und besprochen wird.

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