Rezension: Gárdos, Péter – „Fieber am Morgen“

Roman
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó
Verlag: Hoffmann und Campe Hamburg, 2015
ISBN: 978-3-455-40557-6
Originaltitel: Hajnali láz, 2015
Bezug: Buchhandel, Preis: 22,00 Euro

Péter Gárdos bekommt nach dem Tod seines Vaters die Liebesbriefe in die Hand, die er sich mit seiner Mutter im fernen Schweden geschrieben hatte. Der Autor, er ist Regisseur, macht ein Buch daraus, in dem er abwechselnd den Vater mit Zitaten aus seinen Briefen – und die Mutter mit ihren Briefen zu Wort kommen lässt – wie in Filmsequenzen.
Der Roman, eine Neuerscheinung dieses Herbstes, erhitzt die Kritikergemüter: Vom „anrührenden, einfühlsamen Roman“ bis zum „Holocaust-Kitsch“ sind fast alle Meinungen vertreten. Es herrscht Unverständnis darüber, dass einer, der dem KZ entkommen ist, eine Frau heiraten möchte, die das gleiche Schicksal überwunden hatte: Eben darum, weil man diese grausame Zeit nicht wieder und wieder erzählen muss, da der Andere Ähnliches erlebt hatte. Und als kitschig wird empfunden, dass ein Todkranker einen solchen Optimismus aufbringt, seine Krankheit mit Liebe zu besiegen, dabei meist heiter bleibt und sich seinen Lebenstraum von niemandem ausreden lassen will – auch nicht vom nahen Tod; und dass dieser Traum auch noch in Erfüllung geht! Dieses Buch handelt vom Überleben, während der Tod noch immer nach den Erretteten greifen will.
In der Fernsehsendung „Titel Thesen Temperament“ kommen der Regisseur Péter Gárdos und seine Mutter Ágnes – im Buch „Lili“ zu Wort. Sie erzählt, dass sie ihrem Sohn die Briefe überlassen habe, damit er daraus etwas mache. Sie selbst sei nicht über den ersten Brief hinausgekommen, so sehr habe sie die Erinnerung aufgewühlt, die sie doch habe hinter sich lassen wollen.
Und das Vergessenwollen wird auch im Roman deutlich: Nie erwähnen die Beiden in ihren Briefen die schrecklichen Erlebnisse in KZ und Lager – nur der Sohn und Autor deutet manches an. Beide haben einen unbedingten Lebenswillen, wollen nur noch vorwärts schauen, alles hinter sich lassen, was sie in die Unmenschlichkeit der Vernichtungslager gebracht hat – die Mutter sogar ihr Judentum, mit dem sie nichts mehr zu tun haben will.
Sie, Lili, veranstaltet mit ihren beiden Freundinnen Sára und Judit bunte Abende in den Krankenlagern in Schweden, wohin sie nach ihrer Befreiung vom Roten Kreuz gebracht wurde. Er, Miklós, schreibt Briefe. Über die Zentrale Meldebehörde für Flüchtlinge in Schweden hat er sich eine Liste schicken lassen von allen jungen Frauen, die aus der Nähe seiner Heimat, aus Debrecen und Umgebung stammen. Es sind 117 Frauen. Eine von ihnen möchte er heiraten. Also beginnt er eine rege Korrespondenz mit allen Frauen „Er schrieb mit Bleistift, in seiner wunderschönen Handschrift“, stellt sich als Journalist und Dichter vor, sortiert aus. „Die hundertsiebzehn Briefe sahen fast so aus, als hätte man sie mit Durchschlagpapier geschrieben. Sie unterschieden sich nur in einem einzigen Wort: dem Namen in der Anrede“. 18 junge Frauen antworten ihm, doch von einer weiß er ganz genau: „Sie ist die Richtige“ – „Woher weißt du das?“ fragt ein Freund. „Ich weiß es einfach“. Miklós will leben, sich verlieben, heiraten. Fürs Sterben hat er keine Zeit, obwohl ihm sein schwedischer Arzt, Dr. Lindholm, ganz klar sagt, dass er mit seiner Tuberkulose in fortgeschrittenem Stadium höchstens noch ein halbes Jahr zu leben habe. Miklós ignoriert das – sollen doch andere sterben. Dafür hat man ihn nicht aus Bergen-Belsen errettet, dass er hier in Schweden stirbt! Dickköpfig und stur hält er an seinem Lebensplan fest. Irgendwie scheint er nicht ganz von dieser Welt: Er lächelt, wenn er eigentlich verzweifeln müsste. Doch er kann sich nur vor dem Tod retten, indem er sich an das Leben klammert.
In einem anderen Lagerkrankenhaus erholt sich Lili Reich, das 18jährige Mädchen.
Auf Miklós‘ Brief antwortete sie aus purer Langeweile im Krankenhausbett: „Über mich nur so viel: Tadellos gebügelte Hosen oder eine adrette Frisur imponieren mir nicht; mich ziehen nur die inneren Werte an.“ Auch Miklós stellt sich vor: „Liebe Lili, ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und war, bis mich das erste Judengesetz von meiner Arbeit befreite, Journalist….“
Charmant übertreibt er: Journalist hatte er werden wollen…. Mit Beharrlichkeit schafft er es, Lili für sich zu interessieren. Der Leser erlebt mit, wie sich die Beiden von Brief zu Brief ineinander verlieben.
Péter Gárdos versucht das Leben seines Vaters nachzuzeichnen, den er nicht mehr fragen konnte. Er stellt ihn uns vor wie in Filmbildern, immer belegt durch Briefzitate: den 19jährigen, der Journalist werden wollte, dann aber wegen der Judengesetze gekündigt wurde – Sodawasser verkaufte – in einer Textilfabrik und in vielen anderen Branchen arbeitete, bis er 1941 zum Arbeitsdienst eingezogen wurde. Miklós ist begeisterter Sozialist und möchte nicht nur seine Freunde im Lager, sondern auch Lili von der guten neuen Welt – und dem neuen Menschen, von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit überzeugen. Hier in Schweden, geht das leicht in der Theorie. Später, in Ungarn, wird er sich enttäuscht von den Kommunisten abwenden.
In weiteren Briefen erfährt man, dass Lili noch nichts von ihrer Mutter gehört hat – dass Miklós eine Suchmeldung aufgibt – und die Mutter auch gefunden wird. Seine eigenen Eltern sind 1945 durch einen Bombenangriff auf das Lager in Laxenburg, Österreich, ums Leben gekommen, wie er durch eine Bekannte der Beiden erfährt.
Der vergangene Krieg, KZs, Demütigungen, Folter und Tod spielen immer noch eine große Rolle, doch nichts wird ausgemalt, zum Glück; denn genaue Schilderungen hat der Leser schon zu viele gelesen. Umso erschütternder sind die Anspielungen, die Erinnerungen, welche die ehemaligen Häftlinge nicht loslassen, so gern sie auch vergessen möchten. Eines Abends schaut Miklós in ein beleuchtetes Fenster: „Die Fenster hatten keine Vorhänge: Ich konnte in eine kleine Arbeiterwohnung blicken … Ich fühle mich müde. Fünfundzwanzig Jahre, und wie viel, ja wie viel Schlimmes. …“
In den Briefen wird viel berichtet über die Zeit in Schweden, über schreckliches Heimweh, die Ungewissheit, was mit den Familien zu Hause ist, wer Krieg und Lager überstanden hat: “Diese Schweden gehen mir langsam auf die Nerven. Am liebsten wäre es ihnen, wenn wir Tag und Nacht Lobeshymnen über ihre Güte singen würden … Ich habe so ein unsägliches Heimweh!!!“ – Und später, als sie in ein anderes Lager umziehen müssen: „In den Baracken gibt es nichts, wo wir uns hinsetzen könnten! Keinen Stuhl, keinen Tisch! Wir irren den ganzen Tag nur wie streunende Hunde auf der Lagerstraße herum.“
Miklós schottet sich von der Außenwelt ab, dichtet, schreibt Sonette für Lili, seine Freunde bringen eines seiner Gedichte, „An einen schwedischen Jungen“, sogar bei einer Zeitung unter. Aber ein Buch über die Zeit in den Lagern und danach, die Zeit, wie er Lili kennen gelernt hatte, das hatte er nicht mehr schreiben können, als er 1998 starb. Aber selbst ein solcher Überlebenskünstler wird einmal vom Lebensmut fast verlassen: als sein Freund Hirsch sich aus Verzweiflung das Leben nimmt – und als er aus einer Geste seines Arztes schließen muss, dass der ihn abgeschrieben hat. Doch Miklós wäre nicht Miklós, wenn er seinen Lebensmut, seinen Optimismus und seine flotten Sprüche nicht wieder gefunden hätte.
Der Roman changiert in einer Mischung aus heiterer, optimistischer Erzählung – und ernster schauriger Rückschau, z. B., als Lilis Arzt Dr. Svensson erzählt, wie er Lili zwischen den Leichen gefunden hatte, wie ihm war, als wäre in einer „Leiche“ noch ein Hauch Leben, „wie der letzte Flügelschlag einer Taube“ – und wie sie Lili ins Leben zurückholen konnten.
Doch Optimismus und Liebe siegen über den drohenden Tod – im Juni 1946 heiraten die Beiden in Stockholm und können ihren Heimweg nach Ungarn antreten.
Péter Gárdos schließt das Buch mit einigen Anmerkungen über den weiteren Lebensweg seines Vaters, seiner Eltern.
Dieser „Roman“ beleuchtet das Leben der Davongekommenen einmal von einer ganz anderen Seite, vom Lebenswillen und dem Sieg über Untergang und Tod. Hier kann die Liebe „Berge versetzen“..

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