Rezension: Tóth, Krisztina – „Aquarium“

Aus dem Ungarischen von György Buda
Verlag Nischen, Wien 2015
ISBN: 978-3-9503345-9-3
Originaltitel: akvárium, 2013
Bezug: Buchhandel, Preis: 23,00 Euro

Bereits ihre beiden, in Deutschland publizierten Novellenbände „Strichcode“ und „Pixel“, haben in der Kritik für einiges Aufsehen und positive Resonanz gesorgt. Nun macht uns der Nischenverlag mit dem ersten Roman von Krisztina Tóth bekannt.
Wie in ihren Novellen, die zusammengenommen doch ein Ganzes aus lauter Einzelerzählungen ergaben, so bilden hier Menschen, die kaum in zwischenmenschlicher Berührung stehen, eine gebundene Geschichte, einen Roman. Dieser erzählt auf den ersten Blick eine einfache Geschichte: Die Geschichte eines verstoßenen Mädchens, das, als es selbst Mutter wird, die eigene Mutterrolle genauso wenig annehmen kann und ihrerseits die Tochter abgibt. Der Kreis schließt sich; denn das Kind wird ausgerechnet bei seiner Großmutter abgestellt, die ob ihres unsteten Lebens damals ihre Tochter in ein Waisenhaus abgegeben hatte. Auf den zweiten Blick erweist sich die Geschichte aber als sehr vielschichtig: In sich geschlossene Erzählungen, wie z. B. die „vom kleinsten Hut der Welt“ sind ebenso zu finden, wie atmosphärische Erzählungen zu Historie und Zeitgeschichte. Dazu muss der Leser sehr aufmerksam in die Geschichte eintauchen: Krisztina Tóth macht eine Familie lebendig von den Nachkriegszeiten bis Ende der 70er Jahre in Budapest. Wieder einmal nimmt die Autorin in drastischen Bildern die Zeit der Diktaturen in Ungarn unter die Lupe, wobei sie auch die Zeit der Judenverfolgung nicht ausschließt. Sie bleibt sich treu: Auch im Roman wendet sich nichts zum Guten, deutet sich kein hoffnungsfrohes Ende an. Wie das titelgebende Aquarium verfällt das Leben ihrer Figuren und erlischt im Trüben. Sprachlich ist ein weiteres Mal Tóths skurril-ironischer Erzählton zu bewundern, der auch kleinste Episoden aufspießt – meisterhaft übersetzt in österreichischem Sprachklang von György Buda.
In bescheidenen Verhältnissen leben die Protagonisten, hermetisch abgeschlossen, mit wenig Kontakt nach außen. In drei Teilen blättern sich uns Lebensgeschichten und Lebensabschnitte auf, wobei der erste Teil nicht nur als Zeitraffer über die ganze Geschichte fungiert, sondern auch die erste und dritte Generation zusammenbringt. Dabei bestimmen vor allem die Frauen den Fortgang der Geschichte: die schrullige Großmutter Klari-Oma, eine Roma, die ihre Tochter Vera in ein Waisenhaus abgeschoben hatte, aus dem sie von Tante Edit und Onkel Jóska, dem jüdischen Ehepaar Weininger herausgeholt wird. Die praktische Edit hält die Zügel in der Hand; denn sie hat nicht nur für ihre schwachsinnige, aber gutmütige Schwester Edu zu sorgen, sondern auch für ihren Mann, der das Elend des Lebens am liebsten bei Schachspiel und Schnaps vergessen möchte. Die dunkelhaarige Vera kann Abitur machen und versucht, sich aus der Enge und dem eintönigen Leben ihrer Jugend zu befreien. In ihren Träumen will sie eine moderne junge Frau werden, blond und schön wie ein Mannequin aus dem Westen. Ob ihre kleine Tochter Vica einmal die Möglichkeit haben wird, in ferner Zukunft aus den erstarrten Verhältnissen herauszukommen, lässt die Autorin offen. Es könnte gut sein, dass auch hier nur die Sehnsucht danach übrig bleiben wird.
Es sind alles kaputte Figuren, die sich im und um das Aquarium ihres Lebens bewegen, im düster-schummrigen Licht der verfaulenden und verfallenden Gesellschaft der sie umschließenden Diktatur. Wie im heruntergekommenen Aquarium zu Ende der Geschichte, wechselt auch hier niemand das Wasser, d.h. es kommt weder Frischluft noch etwas Lebenserhaltendes hinzu. Die Bewohner des Aquariums sehen die Welt da draußen nur durch ihr Glas als Objekte der Sehnsucht; und die draußen erblicken die im Aquarium als geheimnisvolle monströs-verzerrte Wesen.
Drastisch-grotesk begegnet uns die verwahrloste, aber lebenstüchtige Großmama in ihrem Kellerloch, in dem sie seit 20 Jahren lebt. Sie versteht es, immer wieder auf die Füße zu fallen. Mit Beharrlichkeit, schlauer Impertinenz und Ausdauer erreicht sie ihre Ziele, wobei ihr Zeit- und Realitätssinn fast völlig abhanden gekommen sind. Ihre Tochter Vera schämt sich ihrer – ihr Enkelkind Vica arrangiert sich mit ihr. „Sie war überhaupt nicht wie eine normale Großmutter: Sie trug Lippenstift, kleidete sich mit nervtötender Geschmacklosigkeit und log fortwährend.“
Als Vera in die Familie Weininger kommt, trifft sie auf das „armen Edulein“: „Vor der Wohnungstür hockte eine Frau unbestimmbaren Alters mit aufgedunsenem Bauch und Augengläsern, die Füße in ihren klobigen, hohen Schuhen hatte sie gegen das eiserne Geländer gestemmt. Sie blickte nicht auf unter ihren Haaren, die ihr das Gesicht verdeckten, sie begrüßte die Ankömmlinge nicht, sie rauchte mit geschlossenen Augen weiter.“ Edit wacht über sie, pflegt sie, auch wenn das manchmal fast über ihre Kräfte geht. Die kettenrauchende Edu arbeitet im Krankenhaus, verrichtet die Arbeiten, die sonst keiner machen will mit Hingabe. Aufträge, die man ihr gibt, wiederholt sie ständig vor sich hin – was mancherlei Komik für den Leser bereit hält. – So wie sich ihre Tochter Vica irgendwie mit ihrer Großmutter, der Klari-Oma arrangieren wird, so freundet sich Vera mit dem armen Edulein an.
Die dichte Erzählatmosphäre erlaubt es dem Leser, die Lebensumstände im kommunistischen Ungarn nachzuvollziehen: Es sind die kleinen Geschichten, welche Hinweise auf Vergangenheit und Gegenwart in der Rákosi-Ära geben: Das elende Leben der armen Leute in ihren beengten Wohnungen und die kärglichen Mahlzeiten: „in letzter Zeit gab es kaum Obst und Gemüse und Fleisch überhaupt niemals“. Dazu Missgunst und Denunziationen – die nicht verarbeitete Judenverfolgung mit den Hinweisen auf Auschwitz, wo z. B. Onkel Gabi, ein älterer arbeitsloser Lehrer seine ganze Familie verloren hatte. Er ehrt sie, indem er weiterhin sechs Stühle um seinen Tisch stellt, obwohl die Wohnung dafür eigentlich zu klein ist. Er kann die Erinnerung nicht länger ertragen und nimmt sich das Leben. Oder die Hinweise auf die schwachsinnige Edu mit der eintätowierten Zahl und auf Onkel Jóska, der sich im großen Bett verstecken konnte, als man ihn abholen wollte. Auch die Zeit um den Volksaufstand 1956 kommt zur Sprache: das plötzliche Verschwinden von Personen, über die man besser nicht sprach – Propaganda durch Lautsprecherdurchsagen – Flucht und Auswanderung in die USA – die heimliche Vorbereitung einer Ausreise. Und später, in der langen Kádár-Zeit, das langsame Aufweichen der strengen Diktatur – der Sprung in eine modernere Zeit mit Privatunternehmungen, was nur mit Schmieren und Aktivitäten am Rande der Legalität gelingen konnte, geprägt von Wachsamkeit und Misstrauen. Doch das bessere Leben stellt sich nicht wirklich ein. Es bleibt das Gefangensein im „Aquarium“, der sehnsüchtige Blick nach draußen, die märchenhaften Vorstellungen auf den Westen, die so gar nichts mit der Realität zu tun haben. Vera würde gern in ihrem Parallelleben aus der Ehe ausbrechen, dem Werben eines Auswanderers nach den USA nachgeben, doch als er ihr von solch „langweiligen“ Dingen schreibt, wie der Erfindung eines Sicherheitsgurtes, mit welcher viel Geld zu verdienen sei, ist sie sehr enttäuscht. So prosaisch hat sie sich den Westen nicht vorgestellt.
Eine Geschichte ergibt die nächste und damit die Lebensbedingungen weiterer Personen. Trotz des eintönig-grauen Alltags webt die Autorin einen bunten Teppich aus Lebensumständen und Schicksalen, aus Zeitgeschichte und Politik. Sie beschreibt Leben und Umgebung dieser Menschen so konkret und plastisch, dass man sie zu kennen meint, in ihrer Armseligkeit, ihrem Strampeln nach ein bisschen Glück oder in ihrer Resignation. Man blickt in ihre Wohnungen hinein, riecht die üblen Gerüche, hört das Geschrei auf den Hinterhöfen.
Doch: „Nach der Revolution ging alles im alten Trott weiter. Das Mädchen konnte wieder die Schule besuchen. Onkel Jóska ging in die Arbeit, die Tante und Edu spülten im Krankenhaus das Geschirr und wuschen Blut aus….“
1965, nach ihrer Matura, lernt Vera den Drechsler Lali kennen, ihren späteren Mann. In diesem Sommer sieht Onkel Jóska bei Dr. Benkő ein Aquarium stehen, das seine ganze Fantasie entzündet. Der Arzt hatte es gekauft, um damit zu dokumentieren, dass er mit seiner Familie bleiben wolle, obwohl in Wirklichkeit doch alles für die Flucht aus Ungarn vorbereitet wurde. „Ein Tropfen des Meeres, sagte der Arzt“, als er merkt, wie hingerissen Onkel Jóska vom Aquarium und den Fischen ist. Diese Bemerkung beschäftigt diesen wie eine Verheißung und er setzt alles daran, sich selbst ein Aquarium zu bauen. Als er endlich das Geld zusammen hat, die kostbaren Guppys – für die er sein Herzblut gegeben hätte – kaufen kann, erleidet er einen Herzinfarkt. Für kleine Leute scheint ein Aquarium – ein kleiner Tropfen vom großen Glück – nicht vorgesehen zu sein – und in dem Moment, als es greifbar scheint, zerrinnt es. Der Tante, die darin den Ursprung allen Übels sieht, gelingt es, das Teil der Klari-Oma aufzuschwatzen. Zurück bleibt nur der feuchte Umriss des Aquariums: „Er schien der Grundriss eines geheimnisvollen Gebäudes zu sein, das rundum doppelte Wände, jedoch weder Fenster noch Türen besaß“.
Das Aquarium bedeutet also für jeden etwas Anderes: Für Onkel Jóska war es die Hoffnung auf Änderung und ein Schritt in die bessere Gesellschaft, für Tante Edit ein ständiges Ärgernis, das Platz beanspruchte; denn sie weiß nur zu gut, dass die Familie niemals in die nächste Stufe der Gesellschaft aufsteigen kann, für Vera wird es das Sinnbild des eigenen Lebens – und für Vica ein geheimnisvoller, wenn auch übel riechender Behälter in der Wohnung ihrer Großmutter, welche den Inhalt samt Behälter verrotten lässt, bis das Aquarium undicht wird und das Wasser herausläuft.
Nacheinander sterben Fische und Familienmitglieder; nach Jóska seine Frau Edit, dann ihre Schwester Edu. Als Vera die Wohnung auflösen muss, gibt sie ihre Tochter Vica für drei Tage in die Obhut der Klari-Oma. Dort kann die Kleine tun was sie will. Mit der Großmutter spielt sie Märchengeschichten, mit Teddybär und Hase und der geretteten Lumpenpuppe. Einmal war diese Veras Liebling gewesen – entsorgt, als sie alt und hässlich war, gerettet und mangelhaft aufgebessert von der Klari-Oma. Als Vera ihre Tochter abholen will, erblickt sie die Puppe wie ein Schneewittchen unter dem gläsernen Aquarium und dreht fast durch: Ihr kommt die tragische Erkenntnis, dass sie selbst immer zwischen schmutzigen Wänden eingesperrt war – und sich nie mehr daraus befreien kann. Ihr Leben ist bereits ein Sarg, der für immer geschlossen bleiben wird. „Schneewittchen lag in ihrem gläsernen Sarg und konnte sich nicht aufsetzen, sie war außerstande, den Apfelbrocken herauszuhusten.“
Arme und Mittellose, ja Ausgestoßene werden sie immer bleiben, unfähig ihr Elend und ihre Vergangenheit hinaus zu husten und sich davon zu befreien.

Print Friendly, PDF & Email
Dieser Beitrag wurde unter Tóth, Krisztina - "Aquarium" veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.