Rezension: Holdosi, József – „Die gekrönten Schlangen“

Roman
Aus dem Ungarischen von Peter Scharfe
Verlag Innsbruck University Press, 2015
ISBN: 978-3-902936-62-2
Originaltitel: Kányák, 1978
Bezug: Buchhandel, Preis: 9,90 Euro

Holdosis Buch ist ein Neudruck des bereits 1984 in deutscher Übersetzung erschienen Romans „Die Straße der Zigeuner“, ein Titel, viel aussagekräftiger, wenn auch heutzutage nicht „political correct“. Im Roman wird der Begriff „Zigeuner“ als solcher verwendet, daher übernehme ich diesen auch weiterhin.
Der Autor, selbst Zigeuner, führt uns ein in die Parallelwelt seines Volkes, beginnend in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts bis in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Die Menschen der Sippe leben zwischen Traum und Wirklichkeit in alten Mythen, Märchen, abergläubischen Vorstellungen und der elenden Realität von Armut und Ausgrenzung. Stellvertretend für seine Sippe erzählt uns Holdosi von der Künstler-Familie Kánya – dem Leben seiner eigenen Familie, das er literarisch verarbeitet hat: Angepasst und demütig den Herren gegenüber, großspurig und rauflustig gegen die Stammesgenossen. Gefangen in ihrer eigenen Lebensweise, bricht die Außenwelt nur dann ein, wenn sich die ganze Welt dreht, im 1. und 2. Weltkrieg. Erst den Enkeln wird es möglich sein, gegen die festgefahrenen Traditionen aufzubegehren und zu versuchen, sich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren.
In seinem Roman treten sämtliche Protagonisten auf, die in ein echtes Märchen gehören: Der launische Graf gibt und nimmt, je nach dem, wie er gerade aufgelegt ist, seine Tochter, die mildtätige Komtesse, verliebt sich in einen glutäugigen Zigeuner und lässt sich für ihre Gutherzigkeit in ihren Kreisen bewundern. Die notorischen Zigeuner-Hasser kommen vor, die Stammesältesten und die weisen Frauen erheben warnend ihre Stimme, oder halten stur an den Traditionen fest. Die jungen Helden haben genug von der Bevormundung, sie ziehen hinaus in die Welt, um eine Prinzessin oder ihr Glück zu finden. Nur, dass es da kein Happy End gibt: „Prinzessin“ und Glück werden zwar gefunden, doch weder die Kányák, noch die anderen verstehen es, das Glück – und damit eine Wende ihres Geschickes zu fassen und festzuhalten. Im bunten Wirbel von Fest, Tanz und Alkohol vergessen sie schnell – und stehen hinterher noch elender da als zuvor. Hier stimmt übrigens die Wirklichkeit mit vielen Zigeunermärchen überein: meistens gehen sie, ganz anders als die europäischen Märchen, nicht gut aus.
Holdosi hütet sich vor Schwarz-Weiß-Malerei, die Zigeuner sind nicht nur die Guten und die Gadsche (die Weißen) die Bösen. Ihm geht es um Würde und ein selbstbestimmtes Leben der Zigeuner, die nicht in einen Alltag hineingezwängt sein wollen, für den sie nicht taugen.
Der alte Jenő Kánya macht Musik, wenn er von den Herren gerufen wird, um etwas Geld zu verdienen. Er kann seine Söhne nicht verstehen, die nicht mehr die gleichen „Zigeunerlieder“ – oder was er dafür hält, geigen wollen und diese Tradition nicht als echt empfinden. Der Älteste, Péter, ein großer Schweiger, ist ein begabter Maler, der ständig über die Rettung für sein Volk nachgrübelt, mit seinem „Zigeunerchristus“, der die Schwächen und Stärken seines Volkes versteht, spricht, ihn anfleht, doch endlich einzugreifen. Péter macht sich in inneren Zwiegesprächen mit seinem Zigeunerchristus zum Anwalt seines Volkes, das nicht in erster Linie aus Dieben und Räubern bestünde, sondern die nackte Not bringe die Zigeuner dazu, zu stehlen, da sie im Tagelohn doch nie genug verdienten, um ihre Familien richtig ernähren zu können: „Was wäre eigentlich, wenn auch die Zigeuner Bauernhöfe hätten? Sie würden so lange üppig leben, bis auch das letzte Huhn geschlachtet und der Speck des letzten Schweins verbraucht wäre. Um Saat und Ernte würden sie sich nicht kümmern.“ Und ehrlich gibt Péter zu: Aus Zigeunern können niemals Bauern werden, aber sie sollen wie Menschen leben, wie ordentliche Menschen“.
Péter, 33 Jahre alt, hat den Auftrag, ein Altarbild für die gräfliche Kapelle zu malen, die Madonna mit dem Jesuskind – und an die Seitenwände die 12 Apostel. Der Erlös würde der Familie monatelang zum Leben reichen. Doch Péter fällt vor dem halbfertigen Bild von der Leiter und stirbt – Der Herr Graf weigert sich, der Familie den bis dahin erarbeiteten Lohn auszuzahlen.
Nun geht Ernő, der mittlere Sohn in die weite Welt hinaus – um die Urmusik der Zigeuner zu finden. Er zieht eine Weile mit einem Scherenschleifer von Ort zu Ort – sie verdienen ganz ordentlich, lernen verschiedene Zigeunersippen kennen, die sich auf besondere Fertigkeiten verstehen, z. B. die Trogschnitzer. Als sie viel Geld verdient haben, fällt Moses, der Scherenschleifer, einem Raubmord zum Opfer. Eine junge Frau rettet den Musiker, er bleibt bei ihr, liebt sie, führt ein glückliches Leben, doch eines Tages besinnt er sich auf sein Zuhause und kehrt zurück. Anders als im Märchen, kehrt er nicht mit vollen Händen heim, bringt keine Prinzessin mit (die wird ihm später nachreisen), sondern zerbricht an der Wirklichkeit und wird verrückt. Schon vor Jahren hatte sein Vater prophezeit: „Er ist völlig übergeschnappt, will nichts mehr von den Zigeunerweisen wissen; im Dorf hat er ein paar Noten bekommen, danach spielt er jetzt, einiges hat er auch selbst komponiert. Das, was wir Zigeunermusik nennen, sei gar nicht die echte Zigeunermusik, sagt er. Eine irre Familie, der eine malt, der andere hält sich für einen Komponisten. Kommt alles von dem Bauernblut, das in euch fließt, auch dieser Dünkel, ihr wärt etwas Besseres als die übrigen Zigeuner. Das nimmt mal ein schlimmes Ende, sage ich euch!“
Ja, Bauernblut fließt in seinen Kindern, das hat seine Frau, Rozi Gyuara, eine Bauerntochter, mitgebracht. Seit damals liegt ein Fluch über der Familie; denn die Kinder versuchen alle, die überlieferte Tradition abzustreifen. Die „Urmusik“ der Zigeuner ist auch eine Metapher für die immer noch aktuelle Suche nach den echten Ursprüngen. Schwierig; denn die Zigeunertradition ist vermischt mit den Kulturen der Mehrheitsbevölkerung und hat keine schriftliche Geschichtstradition.
Auch Matild, die Schwester, will sich nicht mit den Zigeunerjungen abgeben, sie ist die Geliebte des Polizisten Géza und wird daher von der Straße als Hure beschimpft.
Auch sie will in eine neue Welt aufbrechen und verschwindet in die Stadt. Und auch sie wird zurückkommen – wie alle Kánya-Kinder zurückkommen – und sich nicht von den Familienbanden lösen können. Auch sie wird an der bitteren Unveränderlichkeit des Zigeunerlebens: – „ es ist alles beim Alten geblieben“ – nach dem 2. Weltkrieg zerbrechen.
Im Gespräch mit rumänischen Zigeunern, die für Jahre freundlich aufgenommen werden, wird offenbar, wie sehr diesen Stämmen nachgestellt wird: Sie werden ermordet, ohne dass eine Verfolgung der Täter angestrebt wird, sie sind vogelfrei, der Willkür der Obrigkeit und dem Hass der Bauern ausgesetzt, obwohl niemand das zugeben würde. Auch die Polizei schikaniert, verfolgt und malträtiert sie, ohne dass etwas geschieht. Der Graf deckt den Hass der Zigeuner auf die Ungerechtigkeiten ihnen gegenüber mit Schnaps, Fleisch und Bettelgenehmigungen zu – und bald ist alles vergessen.
Holdosi zeigt aber auch die andere Seite der Geschichte: Kaum sind die rumänischen Zigeuner da, wird gesoffen, geprügelt, die Arbeit vernachlässigt und den Mädchen nachgestellt.
Es bleibt noch der jüngste Sohn, Jenő. Mit List und Gaunerei verschafft er sich mit seinem Freund Romel, dem Sohn des rumänischen Woiwoden, ein Fuhrwerk samt Pferd. Auch diese Beiden geraten in eine mörderische Rauferei, als man ihnen das Pferd gewaltsam abnehmen will. Romel kehrt mit Pferd und Wagen ins Dorf zurück, Jenő wird von einer jungen Frau gerettet, die ihn ins Feental bringt. Auch diese Beiden leben glücklich und in Eintracht, bis die Realität in Gestalt seiner Mutter Rozi ihn einholt. Sie fordert ihren Sohn zurück, schlägt ihn mit einem Knüppel: „Ja, ich bin es, Jenő, deine Mutter. Ich bin gekommen, dich aus diesem Paradies, diesem gottlosen Himmelreich zu vertreiben.“ …. „Du hast mich allein gelassen, bist zum Verräter geworden, alles lastet auf mir, dein Pferd, dein verrückter Bruder, dein einfältiger Vater, ich erlaube dir nicht, mich im Stich zu lassen, für euch habe ich alles auf mich genommen. Du aber lebst im Paradies und treibst es mit den Weibern. Du musst mit mir kommen, dorthin, wo du hingehörst!“
Wieder zu Hause, kommt ihm alles sehr fremd vor. Er würde gern Malina holen, doch seine Mutter ist stur: „Eine rumänische Zigeunerin kommt mir nicht ins Haus!“ – „… bisher waren wir in der Straße so etwas wie ein andersfarbiger Flicken in einem zerschlissenen einfarbigen Kleid; Bauernzigeuner. Ich hoffe, du wirst es mir ersparen, aber solltest du dieses Mädchen herbringen, werden wir völlig ausgestoßen sein, nirgendwo hingehörig…“ In den Augen der anderen sind sie keine echten Zigeuner – ein Fluch liegt über ihnen – und immer wenn ein Mitglied der Familie stirbt, kriecht eine gekrönte Schlange aus dem Gebüsch und verendet an der Haustür.
Jenő holt trotz des Widerstandes der Mutter seine Malina aus dem Feental. Er kommt nach Jahren zurück, mit seiner Frau und drei Kindern. Sein Fuhrwerk ist beladen mit Ziegelsteinen. Eine neue Zeit soll anbrechen: sie wohnen in einem Steinhaus, andere werden es ihnen nachmachen. Doch wieder wissen „die Helden“ mit dem Glück nichts anzufangen, können es nicht halten: Jenő und Romel erhalten einen Schatz mit der Bedingung, ihn für ihre Sippe zu verwenden. Doch insbesondere Jenő steht der Sinn nach feiern und festen mit der ganzen Zigeunerstraße – solange, bis von dem vielen Geld nichts mehr übrig ist. Da liegen dann alle Zecher apathisch berauscht, Hütten und Straße sind verwahrlost und schmutzig, niemand geht mehr zur Arbeit. Aufgerüttelt werden sie erst, als Typhus ausbricht und viele sterben müssen, auch der verrückte Bruder Ernő und Freund Romel. Das Steinhaus (der Aufbruch in ein neues Leben) sei schuld am ganzen Unglück – dass wird die allgemeine Meinung – und darum wird es zerstört.
Jenős Kinder sind lernbegierig und besuchen die Schule. Etwas Ruhe würde endlich einkehren, doch da bricht der 2. Weltkrieg aus, mit ihm die Deportation der Zigeuner. Die Übriggebliebenen, Frauen und Kinder, müssen sich ihre Gruben selbst ausheben. Rettung in letzter Minute sind die siegreichen Russen. Von den Männern haben viele nicht überlebt. Jenő ist als Einziger der Kánya-Familie übrig geblieben, mit ihm seine Töchter Margit und Kati. Margit, die Älteste, geht mit 16 Jahren in die Stadt zur Arbeit. Dort lernt sie einen jungen Mann, Józsi, kennen, den sie nach vielen familiären Schwierigkeiten und Anfeindungen auf beiden Seiten, heiraten kann. Die Beiden haben zwei Söhne, als der leichtsinnige Józsi schwer krank wird und schließlich an einer Rückenmarkserkrankung stirbt. Margit nimmt es auf sich, sich von der Familie zu lösen und mit ihren Kindern ein neues Leben zu beginnen. Man kann davon ausgehen, dass József Holdosi in Margit, József und den beiden Knaben seine eigene Familie porträtiert hat.
Dieser Roman ist ein ganz wichtiges, spannend geschriebenes Buch, vor allem wegen der aktuellen Diskussion um die Sippen der Sinti und Roma. Hier begegnen uns leidenschaftliche und stolze Menschen, die nach ihren Regeln menschenwürdig leben wollen, die verfolgt und angefeindet werden, auch wenn sie sich nichts haben zu Schulden kommen lassen – und die auch schwach und leichtsinnig sind, weil das sesshafte Leben, welches die ungarischen Zigeuner schon seit vielen Jahrzehnten führen, noch nicht für alle taugt.
Ein großes Lob dafür an den Verlag University Press Innsbruck mit Beate Eder-Jordan, von der auch das lesenswerte Nachwort stammt. Sie haben den Roman in der ursprünglichen, farbigen Übersetzung von Peter Scharfe wieder herausgebracht – und ein kleiner Tadel für die schlechte Buchausstattung. Die Broschur erlaubt es kaum, das Buch entspannt lesend, zu halten.
Es wäre schön, wenn auch die wenigen anderen Werke von Holdosi bald auf Deutsch zu lesen wären.

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