Rezension: Detering, Heinrich & Eva Karadi (Hg.) – „Ungarn und Europa. Positionen und Digressionen“

Anthologie
Verlag: Wallstein (Reihe: Valerio. Das Magazin der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung; Bd. 16/2014)
ISBN: 978-3-8353-1204-3
Bezug: Buchhandel
Preis: 10,00 Euro

Im Dezember 2012 veranstalteten der unabhängige Ungarische Schriftstellerverband, die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, gemeinsam mit dem Petőfi Literaturmuseum Budapest die „First Budapest Debate on Europe“ (die inzwischen bereits fortgeführt wurde). Sie knüpfte an Diskussionen an, die im Mai 2012 während der Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung unter dem Titel „Über die Verletzbarkeit von Sprache und Dichtung“ geführt worden waren. “Bei den Anwesenden handelte es sich um Dichter, Schriftsteller und Literaturkritiker dreier Generationen. … Die Teilnehmer kamen nicht nur aus Ungarn und Deutschland, sondern auch aus anderen Ländern Europas. …“ Aus diesen Diskussionsrunden stammen die Texte im Buch: „von Beginn an ging es nicht lediglich darum, die Situation in einem Land zu kritisieren … Sondern es ging darüber hinaus um Entwicklungen, die sich auf je unterschiedlich ausgeprägte, aber durchaus vergleichbare Weise wie in Ungarn so auch in anderen Gesellschaften Ost- und Mitteleuropas und notabene auch in westeuropäischen Ländern vollziehen. Es ging um die gleitenden Übergänge von patriotischen zu nationalistischen, von europakritischen zu fremdenfeindlichen, von demokratischen zu aggressiv ausschließenden populistischen Diskursen, um eine Wiederkehr rassistischer, antisemitischer, homophober Reden….“ – Der Band bietet keine vollständige Dokumentation, sondern unterschiedliche Beiträge über politische und private Erfahrungen in und mit Ungarn, europäische Hoffnungen und Enttäuschungen, Reden und Gespräche, poetische Texte und politische Stellungnahmen: Ungarn vor, während und nach der Wende.
János Háy rechnet mit bitter-sarkastischem Blick mit seinem Heimatland ab, schont auch den Westen nicht, der nach der Wende total versagt hat: Aus einem begonnenen Märchen wird ein Albtraum aus Armut und Lebenskampf. Die Grenzen bleiben, wo sie schon immer waren in Osteuropa. Und die Osteuropäer können nicht wirklich hinüber gelangen, weil die eigene Regierung nicht hilft, sondern sich nur auf der als großartig gedachten Vergangenheit ausruht. Der Westen war es aber, der den hemmungslosen Kapitalismus ohne Netz in den Osten gebracht hat. Die Regierenden halten die ideologische Polarisierung aufrecht, die tiefen Gräben sind in ihrem Sinn. Eine Art modernen Kastenwesens breitet sich immer mehr aus: die Elite, die leicht mit dem Westen Schritt halten kann – und diesen sogar überflügelt – und die unteren Schichten, die sich daraus nicht lösen können. „Wir schenken unseren Nachbarn keine Beachtung, wir betrachten sie nicht als unsere Schicksalsgenossen. Wir gehören zum märchenhaften Westen. Wir glauben, dass unsere Kultur höher steht als die ihre. Wir glauben, dass wir eine Große Nation sind und unsere Leistungen sich nur an denen anderer Großer Nationen messen lassen. Für eigenes Scheitern sucht man äußere Umstände verantwortlich zu machen, . Also braucht es Feinde…. und wer anderes könnte das sein als der politische Gegner oder die internationalen Organisationen, die Ungarn unter Druck setzen. Das goldene Tor steht sperrangelweit offen. Wenn es dir hier nicht gefällt, kannst du ja ins Ausland abhauen. … Die flexibelste Schicht des Landes ergreift die Flucht. Das Tor zum märchenhaften Abendland hat sich geöffnet, und für einen Augenblick glaubten wir, ins Licht getreten zu sein. …Wir glaubten, wir bekämen es umsonst oder geschenkt, schließlich stünde es uns zu. … Nicht das moderne und zeitgemäße Denken hat unsere Grenzen überschritten, sondern das bunte Blendwerk des westlichen Marktes, die Reklamen, die grellen Privatsender…“
Mit diesen ausführlichen Zitaten aus János Háys Essay ist schon fast alles gesagt, was auch seine Schriftstellerkollegen aus Ungarn und dem west-östlichen Europa umtreibt: Die Glorifizierung einer großartigen Vergangenheit, die so nie stattgefunden hat, die Überheblichkeit anderen Nationen und Minderheiten gegenüber, das Desinteresse für die Nachbarn, der erstarkende Nationalismus und Rassismus, das Selbstmitleid und die trotzigen Reaktionen auf vermeintliches Nichtverstehen (das gilt alles für Ost und West) – und, worauf viele Diskutanten abhoben: Nichts wurde und wird aufgearbeitet, nichts hinterfragt. Nicht die K.u.K.-Zeit, nicht die Zeit der Weltkriege, das kommunistische Regime und wie sich die Bürger darin eingerichtet haben, wenn man ihnen nur ihre Ruhe ließ. Selbst die Sprache, welche Ungarn immer einte, verkommt. Man versteht sich nicht mehr. Unworte sollen den anderen herabsetzen und beleidigen, so Gahse, Dalos und Földényi. Einig sind sich die meisten Schriftsteller darin, dass die Idee der Gründerväter eines vereinten Europa inzwischen schon ziemlich zugeschüttet ist, von Kleinkariertheit, Nationalstaatlichkeit und Egoismus überwuchert. Die meisten machen sich für ein vielfältiges, buntes Europa der Regionen stark, das seine Eigenarten, seine Kultur ohne Bevormundung leben kann.
Zur Veranschaulichung im Folgenden einige Zitate aus den Essays:
László Földényi: „Der Hauptvorwurf im heutigen Ungarn lautet: Hinter jeder Kritik, die sich gegen die Regierung und ihre Maßnahmen richtet, steckt eine aus dem Ausland gesteuerte Verschwörung.“ Diese Verschwörungstheorien werden mit dem Terminus „Freiheitskampf“ der Ungarn korreliert: Freiheitkampf gegen den äußeren und den inneren Feind. Die Unterdrücker umzingelten schon wieder das Land, welches sich davon befreien müsse.
Ákos Szilágyi beklagt, dass sich die Macht in einer einzigen Person konzentriert, dass die Gräben seither immer tiefer werden, aber: „Nichts brauchen die Ungarn heute mehr als Zusammenarbeit… Das größte Hindernis dafür aber ist das „System der Nationalen Zusammenarbeit“…
Endre Kukorelly war einige Jahre Parlamentsabgeordneter der Grünen. Aber: „Ich musste Gesetzestexte studieren, statt Tolstoi lesen zu können. Ich hörte auf. Es war unerträglich, wie der Zynismus überhandnahm. Dass sie eine solche Zerrissenheit des Landes hinnehmen können, in rechts und links, oben und unten. Dass sie zusehen können, wie Leute auf der Straße schlafen – sie sehen einfach an ihnen vorbei. Man konnte praktisch nichts erreichen.“
Das Gespräch zwischen Lajos Parti Nagy, Pál Závada und Wilhelm Droste zeigt, wie Parti Nagys satirischer Roman „Meines Helden Platz“ und Závadas Roman „Das Vermächtnis des Fotografen“ die Wirklichkeit nicht nur eingeholt, sondern sogar übertroffen haben.
László Márton untersucht kritisch den „absoluten Freiheitswillen der Ungarn“. Ein gefühlter Freiheitskampf zieht sich durch viele Jahrhunderte bis in die heutige Zeit. „1989 musste man für die Freiheit nicht kämpfen – sie kam einfach. Die Ungarn konnten mit ihr nichts anfangen.“ „Man will von der Freiheit schon deshalb befreit werden, damit der Freiheitskampf fortgesetzt werden kann.“ Damals war Wien der Unterdrücker – jetzt ist es Brüssel. Man will sich nicht belehren lassen, sondern den eigenen Weg gehen und den heldenhaften Freiheitskampf fortsetzen.
Mit den „Freiheitskämpfen“ gekoppelt ist die Verklärung der Vergangenheit. Darauf heben etliche, auch nicht-ungarische Autoren ab. Z.B. der Ungarn-Kenner Richard Swartz: In Ungarn erinnert man sich gern und voll Nostalgie an die verlorene Größe, vor allem eine kleine, aggressive Minderheit, welche die Mehrheit damit einschüchtert.
Doch es ist beileibe nicht so, dass nur auf Ungarn „eingedroschen“ wird. Der Verleger Michael Krüger möchte sein liebenswertes Ungarnbild verteidigen und seine ungarischen Freunde und Schriftstellerkollegen nicht missen. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden diese europäisch denkenden Schriftsteller ganz selbstverständlich ein Teil der gemeinsamen Literatur.
Auch für Ilma Rakusa ist Europa Vielfalt, Komplexität, Widersprüchlichkeit. Es gibt viele Europas, die gleichzeitig existieren; denn sie sind nicht nur von der Wirklichkeit, sondern auch von Vorstellungen, Träumen und Erinnerungen geprägt. Sie selbst fühlt sich als deutschsprachige Schriftstellerin mit ostmitteleuropäischen Wurzeln und meint, hier in Europa bewegten wir uns auf vielen übereinander gelagerten Schichten, einem Palimpsest, wir bewegten uns auf Erinnerungspfaden. Ohne Herkunft keine Zukunft – Kultur muss gepflegt werden. Europa ist ein alter Kontinent, der hoffentlich aus seiner Geschichte etwas gelernt hat. „Das vielfältige Europa muss in seinen Teilen beweglich bleiben, freilich ohne in Kleinstaaterei und Separatismus abzugleiten. …“
László Végel, der ungarische Schriftsteller aus der Vojvodina macht sich stark für ein Europa der Regionen: Der Regionalismus könne zum ökonomischen Aufschwung beitragen – und gleichzeitig mäßigend auf den Nationalismus einwirken. „Die Väter des ostmitteleuropäischen Systemwechsels haben nicht das in die Tat umgesetzt, wovon sie geträumt haben, sie sind von ihrer eigenen Utopie im Stich gelassen worden, und sie formulieren keine neue.“ Ostmitteleuropa sei ein kleines Mosaik der Nationen, die Regionen eigentlich die historische Besonderheit Europas. Und: Die Osteuropäer stünden vor der Tür Europas und warten, dass man sie hereinbittet. Doch keiner spricht das erlösende Wort. Der Osteuropäer ist aber historisch darauf „dressiert“ auf eine Anweisung zu warten und erst dann zu reagieren.
Auch Robert Menasse geht eindringlich auf das Europa der Regionen ein: „ Im Grunde ist die Lösung schon im Europäischen Verfassungsvertrag festgeschrieben: in der Formulierung „Europa der Regionen“. Die Regionen sind der Reichtum dieses Kontinents, die Nationen aber sind historisch erschöpfte Identitätsphantasien und die notwendig zu überwindende Bedrohung.“
Und Péter Esterházy erklärt, was es mit den König-Mátyas-Legenden auf sich hat: „König Mátyas ist das „Damals“. Damals, als Ungarn noch groß war. Damals, als die Ungarn noch Ungarn waren (????). Damals, als wir noch kein Minderwertigkeitsgefühl gehabt haben. Damals, als die Weiber noch Weiber waren und die Männer noch Männer. Er ist unser siegreicher Stellvertreter in der Welt.“
Die Übersetzerin Ágnes Relle, Ungarin und Deutsche, wirft noch den Begriff der Heimat in die Diskussion: „Was auf dem Podium passiert, ist genau das, was Europa dringend braucht: ein echter Dialog. Autoren aus verschiedenen Heimaten Europas tauschen sich aus über die Sprache der Macht und die Macht der Sprache. Über Europa und seine Regionen.“ Relle zeigt auf, was Ungarn heute auf der einen Seite ist: „Viele Entwicklungen in Ungarn sind besorgniserregend. Arbeitslosigkeit und extreme Armut greifen bedrohlich um sich, rassistisch motivierte Übergriffe, rechtsnationale Aufmärsche, Hetzkampagnen und dumpfe Polemik beherrschen zunehmend das Klima. Die Grundfesten der demokratischen Verfassung werden schrittweise unterwandert. Politikverdrossenheit und bleierne Resignation machen sich breit, ein massenhafter Exodus hat eingesetzt. Doch sie zeigt auch ein anderes, hoffnungsvolles Ungarn: „ auch das ist Ungarn heute: engagiert, mutig, voller Kreativität und positiver Energie. Das kulturelle und soziale Leben ist vielfältig und reich an originellen Ansätzen. Historiker, Autoren, Künstler, Journalisten – viele arbeiten daran, sich mit den eigenen Verstrickungen auseinanderzusetzen und die Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten. Sie gehen Themen an, die in den Jahrzehnten der Diktaturen tabuisiert waren.
Fazit: Kunst, Kultur, Musik, Literatur, das ist es, was uns das östliche Europa in Fülle zu bieten hat. Nutzen wir die Regionalität, streifen wir den überkommenen Nationalismus und die wieder neu beschworenen Mythen der Vergangenheit ab, welche Gleichheit und Selbstbewusstsein der Völker in Frage stellen. Dazu rufen die Schriftsteller in ihren Essays und Statements auf. Und, da es sich hier hauptsächlich um Ungarn dreht: Ungarn mit seiner reichen Kultur – und, was hier nicht zur Sprache kam, seinen vielen Erfindern – hat es gar nicht nötig, ständig eine glorifizierende Vergangenheit heraufzubeschwören. Das Land könnte aus seinem großen Schatz auch an zeitgenössischer Kunst und Kultur schöpfen. Daran, wie das Land schließlich seine Vergangenheit aufarbeitet und wie es mit Künstlern, Andersdenkenden und Minderheiten umgeht, welche Freiheit und Meinungsvielfalt es zulässt, allein daran wird es gemessen werden.
Es ist gut, solche eindringlichen Diskussionen zu führen. Sie sollten weitergeführt werden, auch in anderen osteuropäischen Städten. Wenn man den Nachbarn kennenlernt, seine Vorstellungen und Träume, seine Vergangenheit und auch sein Versagen – damit wäre schon viel geholfen in Europa; der gegenseitige Wunsch sich zu achten und aufeinander zuzugehen. – Und auch dem Westen würde es überhaupt nicht schaden, wenn er über seine Wertvorstellungen, seine Fähigkeiten, Ziele und Ideale nachdächte.

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