Rezension: Lángh, Júlia – „Ein Mädchen zwischen zwei Welten“

Autobiografie
Aus dem Ungarischen von Éva Zádor
Nischen Verlag, Wien, 2013
ISBN:978-3-9503345-3-1
Originaltitel: Egy budai úrilány, 2003
Bezug: Preis:24,80 Euro

Der autobiografische Roman erzählt vom Mädchen Júlia, geboren 1942, während des 2. Weltkrieges. Sie stammt aus einer gutbürgerlichen Familie, der Vater war vor dem Krieg für die Kohlebergwerke zuständig und wegen seiner Wichtigkeit vom Militäreinsatz befreit. Die Familie ist eine typisch ungarische Familie, eingewandert aus verschiedenen Ländern, die meisten fühlen sich als echte Ungarn. Die Großmutter väterlicherseits stammt aus Österreich und wird durch Heirat Ungarin. Sie muss eine starke Persönlichkeit gewesen sein, welche die Familie ihres Sohnes dominierte und sich Zeit Lebens weigerte, ungarisch zu sprechen. Die Großmutter mütterlicherseits heiratete einen feschen polnischen Grafen, dessen Urgroßvater nach Ungarn geflohen war, als der Aufstand des polnischen Adels 1963 niedergeschlagen war. Zu Júlias Kinder- und Jugendzeit ist sie die eigentliche Chefin der Familie. Sie versucht durch Totschweigen die Situation, in welche die Familie als „Klassenfeind“ hineingeraten ist, zu ignorieren: Nachrichten werden nicht gehört, Zeitungen nicht gelesen. Offenbar weiß aber die Familie, wie sie von den Medien belogen wird. Doch das Kind hinterblickt diese Abwehr nicht. Schon jetzt kann das kleine Mädchen es kaum erwarten, erwachsen zu werden und für voll genommen zu werden, damit man ihm die Wahrheit sagt. Unterdessen macht sich Angst breit, bei jedem Klingeln schreckt man zusammen – es sind schon so viele abgeholt worden; jenseits der Wohnung lauert die feindliche Welt.
Der Vater der Autorin war ein Träumer, ängstlich und herzkrank. Die ihm übertragenen Aufgaben erfüllt er so korrekt, dass ihn der junge kommunistische Staat nach einer halbjährlichen Absetzung wieder zurück rufen muss. Allerdings traut man dem Klassenfeind nicht; seine Arbeit in der Fabrik begleiteten ständig bewaffnete Männer.
Die Autorin erzählt aus der naiven Sicht des Kindes, das gar nicht versteht – und von den Erwachsenen hin- und herdirigiert wird – fügt aber als wissende Erzählerin immer wieder Kommentare ein. Vieles kann die 1942 Geborene nur aus den Erzählungen der Älteren wissen, denen sie aber misstraut. Das Kind Júlia scheint sich schon früh als „Außenseiterin“ gesehen zu haben – ganz im Gegenteil zu ihrer „braven“ älteren Schwester – und sie pflegt dieses Bewusstsein auch. Ja, sie rebelliert so eifrig gegen die Erwachsenenwelt, dass sie gar nicht sieht – oder nicht sehen will, was eigentlich um sie herum vorgeht. Es ist ein naives pubertäres Rebellieren, vor allem gegen die Großmutter. – Júlia will leben, „jetzt“! Dabei träumt sie von großen Reisen und der „Eroberung“ der Welt. Ihre Großmutter, die den alten guten Zeiten hinterhertrauert, kann sie nicht verstehen. Das Mädchen hört zwar, was die Familie besessen und was man ihr abgenommen hat, findet aber, dass es „Recht“ war, den Besitzenden etwas weg zu nehmen.
Niemand sagt die Wahrheit: Der Staat preist den Kommunismus und das große Vorbild Russland; die Familie hat Angst vor noch mehr Repressalien und will gleichzeitig die Kinder schützen. Es gibt nur einen Sender, den Großmutter ständig hört: Free Europe. An diese Nachrichten glaubt sie, auf Hilfe aus dem Westen hofft sie lange – unbeirrt. Júlia sieht sich selbst in romantischen Träumen als Heldin, als gute und gerechte Königin, als Widerstandskämpferin, später, 1956, als Revolutionärin – doch in ihrem Leben passiert nichts – glaubt sie und kennt sich nicht aus: “Heute kann man nicht einmal wissen, was gut und was schlecht ist. Das, was sie zu Hause schlecht nennen, gilt in der Schule als das Beste überhaupt.“ Die Mutter ist ehrlicher, kann sich aber auch nicht immer gegen ihre Mutter behaupten.
Lángh flicht ironische Anekdoten und Erzählungen über die Rákosi-Zeit (1949-56) ein. Z. B. diesen Witz: „Was ist ein Rákosi-Sandwich?: Eine Fleischmarke zwischen zwei Brotmarken“.
Die im Ausland Lebenden unterstützen die Familie durch Überweisungen. Dafür gibt es Bons, mit denen in den IKKA-Läden Waren ausgesucht werden können. Im Sommer 1948 kommt sie in die Schule –die Grenzen des Landes werden für lange Zeit geschlossen. Verhaftungen gegen angebliche Spione und Saboteure folgen. Die Kinder ahnen mehr, als dass sie es wissen, dass da draußen vor der Tür das Leben gefährlich ist: „Ich wusste ganz genau, dass das böse Menschen waren und man kein Wort vor ihnen sagen durfte, über gar nichts […]. Ich wusste schon sehr gut, dass es Sachen gab, über die man vor anderen nicht sprechen durfte. […]. Die Furcht davor, dass es früh am Morgen plötzlich klingelte, einmal, lang, beängstigend, und uns gesagt würde, wir hätten noch eine Stunde, um alles zusammenzupacken, und dass man uns in eine Lehmhütte am Ende der Welt zum Wohnen schickte, diese Furcht verschwand nicht…[…] Ich konnte mit eigenen Augen sehen, dass das Land arm war, ich brauchte nur einen Blick aus dem nach Süden schauenden Fenster zu werfen: Unglaublich dünne Pferde zogen mit weggeräumten Trümmern und hoch angehäuften Ziegeln bepackte Karren, an der Fabrikmauer stand geschrieben, der Arbeitswettkampf sei die Grundlage des Wohlstands, aber Wohlstand war nicht zu sehen, nur Arbeit. Frauen schaufelten den ganzen Tag. […]“ Ironischer Sarkasmus: „Hier gibt es nur dreierlei Menschen: die, die schon gesessen haben, die, die jetzt sitzen, und die, die noch sitzen werden“. Die Älteren in der Verwandtschaft sterben, einige werden von der Staatssicherheit abgeholt, wie eine Tante, die erst nach Jahren wieder auftaucht. Als die geliebte Klassenlehrerin der 2. Klasse nicht mehr wiederkommt, beschwört der Vater seine Tochter, den Namen der Lehrerin nie mehr zu nennen – sie zu vergessen! Terror!! Drinnen, in den eigenen vier Wänden versucht die Familie das bürgerliche, das gewohnte Leben irgendwie aufrecht zu erhalten: Die Kinder erhalten Sprachunterricht, gehen mit „ihresgleichen“ in die Tanzstunde, befreunden sich untereinander.
In der Puppenwerkstatt, in der Mutter arbeitet, hört das Kind zum ersten Mal die „Wahrheit“. Sie hört, was um sie herum vorgeht, von der Angst, aber auch vom Mut der Künstler. Nicht alles versteht sie, ist aber glücklich, dass man sie hier für voll nimmt und offen in ihrer Gegenwart spricht. Später hat sie diese Freiheit wieder vergessen, will konform gehen mit ihren Schulkameradinnen und schreit im Chor denen hinterher, die „anders“ sind.
Als Júlia 13 Jahre alt ist, stirbt der geliebt Vater an einem Herzschlag, dem bereits zehn Infarkte vorangegangen waren. Die Aufregungen und Bespitzelungen waren zu viel für ihn. Von da an kränkelt auch die lebensfrohe mutige Mutter. Sie kann den Tod ihres Mannes nicht verwinden und stirbt, schwer herzkrank, 10 Jahre später.
Júlia nimmt den Tod ihres Vaters zum Anlass einen gewaltigen Sprung ins eigene Leben zu wagen und weigert sich, je wieder einen Gottesdienst zu besuchen. Sie fühlt sich von allen, von Gott und seiner Kirche, allein gelassen. Als sie dann ins Gymnasium kommt, beginnt ein neues Leben: In den Augen ihrer Familie sind es die „wilden Jahre“: Sie begehrt auf, umrandet sich die Augen mit abgebrannten Streichhölzern schwarz, benimmt sich in den Augen ihrer Familie unmöglich und nicht wie ein Mädchen aus gutem Hause. Die Mutter bittet sie immer wieder, ihr diese Streitigkeiten mit der Großmutter nicht anzutun. In ihrer wütenden Rebellion gegen die Erwachsenenwelt bemerkt sie zunächst gar nicht, wie schwer herzkrank ihre Mutter ist. Júlia will anders sein als ihre Familie. Sie hört gern, dass sie der Familie „Schande“ macht und stürzt sich in die Außenwelt, schließt lebenslange Freundschaften.
Bald geht die Herzkrankheit der Mutter wie ein Gespenst um. Häufig liegt sie im Krankenhaus; die Töchter versuchen mit Nachhilfeunterricht das nötige Geld für den Lebensunterhalt zu beschaffen. Über die wichtigsten Dinge kann das heranwachsende Mädchen nicht mit ihr sprechen, z.B. über die Liebe. In der 12. Klasse ist sie nämlichverliebt in einen jungen Dichter, doch der Mutter muss die Aufregung erspart bleiben. Meine Familie und ihr Freundeskreis folgten den Moralvorstellungen und Gewohnheiten der alten Ordnung und versuchten, das auch von mir zu verlangen. Ich hielt es nicht nur für lächerlich und erbärmlich, sondern auch für empörend, dass ich brav auf einen jungen Mann aus guter Gesellschaft warten sollte, auf „Unsereinen“, auf eine gute Partie […]Ich war eine selbstbewusste Klassenverräterin, die unbedingte Anhängerin jeglicher Revolution.
[… ] Wir sind die Zukunft und wir sind die Tat, wen interessierten Jungfräulichkeit, Ehemann und achtbare Familienordnung, das neue Leben muss anders werden, Freiheit den Sinnen, Instinkten und Entscheidungen, dem selbstbewussten neuen Menschen, so wie ich selbst einer war. So ging ich durch die Welt, wie jemand, der ständig die Fahne schwenkt. Dabei fällt ihr gar nicht auf, wie wenig sie im kommunistischen Regime über sich selbst bestimmen kann, damals, Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre.
Erst als beide Töchter studiert und Júlia auch geheiratet hat, glaubt die Mutter, ihre Pflicht getan zu haben, das Versprechen, das sie ihrem Mann gegeben hatte, beide Töchter studieren zu lassen, ist erfüllt; erst dann kann sie sich in Ruhe zurücklehnen und sterben. Da ist die Tochter schon schwanger und erwartet ungeduldig ihr Kind.
In jedem Kapitel geht die Autorin leider wieder zurück in ihre Kindheit und Jugend, so dass der Erzählfaden immer wieder reißt. Im Kapitel „Außenwelt beschreibt sie, wie sie die Revolution 1956 erlebt hat: Eigentlich gar nicht! Im Keller des Hauses mit den Frauen sitzend und lesend, bewacht vom gutmütigen Hauswart, warten sie ergeben oder hoffnungsvoll wie es weitergehen soll. Júlia wäre gern eine Revolutionärin, weiß aber nicht, wie sie es anstellen soll, sich den bewunderten Kämpfern zu nähern, ohne sich lächerlich zu machen. Erst Jahre später wird ihr Ehemann erzählen, was wirklich draußen auf den Straßen vor sich gegangen war.
An ihrem 14. Geburtstag ist der Aufstand bereits niedergeschlagen und Stille legt sich über das Haus der einsamen Frauen: Woher hätten die sich in ihre Einsamkeit verschließenden, vom Leben isolierten Frauen auch wissen sollen, was im Land vor sich ging? Oder wussten sie es und sprachen nur nicht davon? Oder sprachen sie davon und nur ich passte nicht auf? Wollte ich es vielleicht nicht verstehen, vielleicht nicht wissen? In der Folge kämpfen die Lehrer um die Seelen der Kinder – einige verschwinden, andere werden arbeitslos oder versetzt. Die Jugendlichen werden allmählich die jungen Marionetten der Macht, die sich jetzt konsolidiert. Júlia aber, voll revoltierender Aufgebrachtheit gegenüber den Erwachsenen, sieht in diesen nur das fade Heer der Klein- und Spießbürger. „Drei Jahrzehnte später nahm ich beim Durchblättern des illustrierten Klassentagebuchs verblüfft wahr, dass alles eitel Sonnenschein war. Nichts, aber auch rein gar nichts war davon hereingesickert, wie die düsteren Jahre zwischen 1956 und 1960 gewesen waren. Die Dokumentation zeigte nicht die Zeit, sondern meine Blindheit[…]“
Die Übersetzung des Originaltitels: „Eine Herrentochter aus Buda“, wäre wohl stimmiger gewesen. Denn wie hart es wirklich „draußen“ zuging, in Familien, in denen die Väter abgeholt oder hingerichtet wurden, davon scheint die rebellische Júlia tatsächlich keine Ahnung gehabt zu haben.
Gut wäre auch gewesen, einige Kapitel zusammenzufassen und zu kürzen. Das hätte diesem interessanten Buch noch mehr Spannung verliehen.
Vermisst habe ich für den nichtungarischen Leser Kommentare oder Anmerkungen, wie es zu dieser Zeit im kommunistischen Ungarn zuging; denn leider sind hierzulande die Kenntnisse über ungarische Geschichte nicht sehr groß.

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